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Nikita Chruschtschow
Stalinist, Reformer und Unperson

Vor 50 Jahren wurde Nikita Chruschtschow gestürzt. Zuvor hatte er die Sowjetunion als Ministerpräsident mit Machtkalkül und Bauernschläue regiert und die Entstalinisierung eingeleitet. Heute ist er nur noch ein vergessener Reformer.

Von Robert Baag |
    Der frühere sowjetische Ministerpräsident Nikita Chruschtschow
    Der frühere sowjetische Ministerpräsident Nikita Chruschtschow (dpa / picture-alliance / Votava)
    Die einen mochten ihn dafür, andere belächelten ihn. Nicht wenige seiner Landsleute aber schämten sich, verachteten oder hassten ihn sogar für Auftritte wie einst am 12. Oktober 1960 in New York vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen:
    "Warum kriegt dieser Lakai des amerikanischen Imperialismus hier das Wort?" - "Das war doch keine Frage zur Tagesordnung!" - "Und der Sitzungsleiter sympathisiert auch noch mit dieser kolonialistischen Vorherrschaft und stoppt ihn nicht! Ist das vielleicht gerecht?" - "Nicht an Euch ist es, die Stimme des Volkes zu ersticken, die Stimme der Wahrheit, die jetzt ertönt und weiter ertönen wird! Schluss damit! Die Sklaverei des Kolonialismus - ins Grab! Nieder mit ihr! Begrabt sie! Je tiefer, desto besser!"
    Adressaten dieses Zornesausbruchs von Nikita Sergejewitsch Chruschtschow waren ein heute längst vergessener philippinischer Delegierter sowie der damalige UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld. Der Philippiner wollte zuvor im Plenum das feierlich beschworene Selbstbestimmungsrecht aller Völker auch auf die Staaten des sowjetisch beherrschten sogenannten Ostblocks angewandt wissen. Prompt fühlte sich Chruschtschow, sowjetischer Ministerpräsident und Chef der kommunistischen Partei, der KPdSU, brüskiert, provoziert und - polterte zurück. Dabei beschuldigte er in einem Atemzug auch Hammarskjöld westlicher Einseitigkeit, während dieser ihn mehrfach höflich aber erfolglos um Mäßigung bat. Diese burleske bis groteske Szene ist vielen Zeitgenossen Chruschtschows weltweit bis heute unvergessen geblieben, wie etwa dem ungarischen Schriftsteller György Dalos:
    "Unter Chruschtschow hat man wirklich immer Angst gehabt, dass ihm wieder etwas einfällt. Was der Westen goutierte! Weil: Er war ein lustiger Typ. Er hat mal die Schuhe abgenommen. Und mal hat er sich umarmt mit amerikanischen Unternehmern."
    Aufstieg zielstrebig geplant
    Der 1894 in der Nähe der westrussischen Stadt Kursk geborene Chruschtschow hatte seinen Aufstieg in die wichtigsten Spitzenpositionen der UdSSR während der 1950er und 60er Jahre, zu Zeiten des Kalten Kriegs zwischen Ost und West, zielstrebig geplant. Schon kurz nach dem Tod des sowjetischen Diktators Iosif Stalin Anfang März 1953 bemühte er sich im sich abzeichnenden Machtkampf um dessen Nachfolge um eine Hausmacht.
    Chruschtschow habe damals gewissermaßen genauso gehandelt wie Stalin in den 1920er Jahren nach dem Tod Lenins, erzählt Vitalij Dymarskij, Moskauer Historiker und Chefredakteur der Zeitschrift "Diletant":
    Josef Stalin, eigentlich Iossif Wissarionowitsch Dschugaschwili (geb. 21.12. 1879 in Gori,Georgien - gest. 5.3.1953 in Moskau). Sowjetischer Politiker und Diktator. Stalin war 30 Jahre lang Erster Sekretär der KPDSU und damit faktisch Staatschef der Sowjetunion.
    Chruschtschow habe damals gewissermaßen genauso gehandelt wie Stalin in den 1920er-Jahren nach dem Tod Lenins. (picture-alliance / dpa inp)
    "Chruschtschow, bald Erster Sekretär, hat sich den Parteiapparat der KPdSU zunutze gemacht. Denn der befand sich ja in seinen Händen. Und so hat er dann fortwährend das Machtzentrum innerhalb des Staates, dort also, wo die Entscheidungen fallen, von der Exekutive, der Regierung, weg- und hinübergezogen hinein in die Partei."
    Lautlos anmutender Siegeszug
    In der damaligen Umbruchsituation mit ihren meist verdeckten Rivalitäten lasse sich der unauffällige, fast lautlos anmutende Siegeszug Chruschtschows über seine innerparteilichen Konkurrenten im Nachhinein positiv interpretieren, findet der Berliner Osteuropa-Historiker Jörg Baberowski. Denn:
    "Nur einer, der unterschätzt wurde, konnte für die anderen ein Schiedsrichter sein. Sie hatten begriffen: Der wird kein Alleinherrscher. Der wird uns nicht umbringen. Es ist gut, wenn der im Amt ist. Ich glaube, das war durch Zufall eine glückliche Fügung, dass ausgerechnet Chruschtschow, der Einfältigste von allen, den sie alle unterschätzten ... Das war ja bei Stalin auch so! Nur Stalin war ein böser Mensch, der das ausnutzte, dass man ihn falsch eingeschätzt hatte. Aber Chruschtschow strebte das gar nicht an, ein Despot zu werden. Und das ist, glaube ich, der Unterschied. Das muss man sehen."
    Nach den Erfahrungen der sowjetischen Gesellschaft während der gut zweieinhalb Jahrzehnte andauernden Stalinschen Terrorherrschaft gelte für Chruschtschow,
    "dass er einer derjenigen war, die daraus gelernt hatten, was das eigentlich bedeutet, wenn man einen Gewaltraum öffnet, in dem sich alle bewegen müssen, wie furchtbar das ist. Und er selber hatte das erfahren, wie erniedrigend das war, den ‚dummen Iwan' an Stalins Tafel zu spielen. Und das wollte er nicht mehr. Und die glückliche Fügung war, dass alle anderen davon profitierten, dass er diesen neuen Stil einführte."
    Er überstand unbeschadet sämtliche politischen Säuberungswellen
    Selbstverständlich war das keineswegs. Chruschtschow gehörte immerhin schon seit den 30er-Jahren zum engsten Kreis um seinen Gönner und Lehrer Stalin. Er diente Stalin vor, während und nach dem sogenannten "Großen Terror" in den Jahren 1936 bis '38 auf verschiedenen hohen Posten. Dabei überstand er unbeschadet sämtliche politischen Säuberungswellen, im Verlauf derer andere hohe Parteikader auf Befehl Stalins rücksichtslos liquidiert worden waren. Vor allem aber: Chruschtschow war selbst als Mittäter in Stalins Verbrechen abgrundtief verstrickt. Chruschtschows Tochter, Rada Adschubej, bestätigte in einer russischen Fernsehdokumentation zu Beginn der 90er-Jahre, wie Stalin seine Spießgesellen, und damit auch ihren Vater, zu prägen, zu deformieren verstand:
    "Stalin war natürlich ein Genie, wenn auch ein schwarzes Genie, unbedingt. Er hat alle aus seiner Umgebung gezwungen mitzumachen. Jeder hat irgendwo irgendwelche Todesurteile unterschrieben - der eine mehr, der andere weniger. Und mein Vater, der hat auch unterschrieben. Er hat sich daran erinnert. Und das hat ihn natürlich gequält. Das habe ihn natürlich in Gefahr gebracht, sagte er. Doch dann: ‚Einen anderen Ausweg hat es nicht gegeben."
    "Chruschtschow war einer von den wenigen Leuten, die wirklich ein schlechtes Gewissen hatten",
    ist Baberowski überzeugt und leitet aus dieser psychologisch begründeten Analyse eine richtungsweisende Handlungsmaxime Chruschtschows ab:
    "Ich glaube, das ist der Schlüssel der ‚Entstalinisierung'. Man muss die auch personalisieren, mit den Personen ... Wenn Berija oder Molotow die Nachfolger von Stalin geworden wären, hätte die Sowjetunion einen anderen Weg genommen."
    Pragmatisch-praktischer Ansatz
    "Chruschtschow hat wahrscheinlich irgendwann ganz klar erkannt, dass diese blutigen Methoden zu keinem weiteren politischen Fortschritt führen",
    sieht Matthias Uhl vom Deutschen Historischen Institut in Moskau statt psychologisch-moralischer Triebkräfte einen eher pragmatisch-praktischen Ansatz bei Chruschtschow, der dessen taktisches und in Teilen wohl auch strategisches Politikverständnis bestimmt haben dürfte - nämlich:
    "Wie kann ich diese Ideologie endlich wieder attraktiv machen? Er war beseelt von dieser kommunistischen Ideologie. Nicht über Machtkämpfe, sondern wir wollen zeigen, wir haben das fortschrittlichere, das wirtschaftlich bessere System, weil es uns gelingt, die Menschen besser zu umsorgen. Er dachte, wenn die Menschen genug zu essen haben und genug Milch und Eier und Butter jeden Tag auf ihrem Tisch haben, dann sind sie zufrieden. Also das ist vielleicht auch ein sehr - seiner Herkunft geschuldet - sehr bäuerlicher Ansatz."
    Kaum hat sich Chruschtschow mithilfe des ihm ergebenen Parteiapparates intern abgesichert, versucht er die überfälligen wirtschafts- und agrarpolitischen Reformen anzuschieben und auch gesellschaftspolitisch für frischere Luft zu sorgen. - Der Publizist Vitalij Dymarskij nennt Stichworte:
    "Anti-Stalinismus. Die Menschen werden aus den Gefängnissen entlassen. - Das Schlimmste im sowjetischen System waren bis dahin sicher die Unterdrückungsmaßnahmen, die Repressionen, das Wirkungsloseste aber war die sowjetische Wirtschaft. Lediglich die Propaganda, die war viel effektiver. Chruschtschow legt also los. Aber: Nichts klappt! Warum? Weil er in zwei Bereichen dezentralisieren will - in der Politik und in der Ökonomie. Er möchte dezentrale, regionale und lokale Partei-Komitees als Machtzentren; wirtschaftlich verantwortlich sollen künftig die sogenannten ‚Sownarchosen' sein, sowjetische Staats-Wirtschaftsbetriebe. Mit anderen Worten: Die Befehlsgewalt würde sich von der Moskauer Zentrale in die Regionen verlagern. Die bisherige Vertikale der Macht, der Durchgriff der Moskauer Ministerien von oben nach unten, würde ausgehebelt. Aber: Es funktioniert nicht! Das System ist nicht reformierbar!"
    Kennzeichen: Sprunghaftigkeit und Ungeduld
    Flächendeckender Maisanbau als Allheilmittel für Versorgungskrisen, sinnlose Großprojekte bei der sogenannten "Neuland-Gewinnung" in Sibirien und in Sowjetisch-Mittelasien, aber auch aufsehenerregende Erfolge in der Raumfahrt. Insgesamt jedenfalls kennzeichnen Sprunghaftigkeit und Ungeduld bald Chruschtschows Politikstil.
    Auch der 1954 erfolgte Zuschlag der Schwarzmeer-Halbinsel Krim an die damalige Ukrainische Sowjetrepublik - aktuell immer noch umstritten - wird gerne als unüberlegte Spontanhandlung des gelernten Maschinenschlossers und im ostukrainischen Donezk aufgewachsenen Russen Chruschtschow dargestellt:
    "Chruschtschow hatte diese Verschiebung ausschließlich aus ökonomischen Interessen vorgenommen",
    ist sich dagegen der Berliner Osteuropa-Historiker Jörg Baberowski sicher. - Ob sich Chruschtschow im Übrigen bei dieser Entscheidung eher als Ukrainer denn als Russe gefühlt habe, sei ohnehin belanglos:
    "Da ist ja viel hineingeheimnist worden: Chruschtschow habe die Verbrechen wiedergutmachen wollen, die er in der Ukraine als Parteichef angerichtet hatte. Das ist alles Unsinn, sondern das hatte rein pragmatische, ökonomische Gründe, verwaltungstechnische Gründe. Ich glaube, Chruschtschow ist ein sehr gutes Beispiel dafür, was ich den ‚Sowjetmenschen' nenne. Auf die Frage, was er sei, hätte Chruschtschow eigentlich immer nur geantwortet: ‚Bauer' oder ‚Sowjetbürger'."
    "Also, ich würde sagen: Er war ein technokratischer Ideologe. Er ist von dieser kommunistischen Idee beseelt. Er glaubt tatsächlich daran, dass die Sowjetunion in der Lage sein wird, die USA einzuholen, dass das sozialistische System das Beste auf der Welt ist, was man den Leuten nur noch beibringen muss, dass es nicht nur Entbehrung und Leid ist."
    "Er war ein Machttechniker"
    meint hingegen der Publizist György Dalos, der Anfang der 60er-Jahre in Moskau studierte und deshalb Chruschtschows Regime aus nächster Nähe mitverfolgen konnte; nur einige Jahre übrigens, nachdem 1956 Sowjettruppen unter Chruschtschows Verantwortung den Volksaufstand in seiner Heimat Ungarn blutig niederschlagen hatten. Dennoch:"Nein, er war kein Ideologe. Er war kein Technokrat. Er war ein Machttechniker. Was bei ihm relativ gut funktionierte, war Machtinstinkt und ein bisschen gesunder Bauernverstand",
    Der Erste Sekretär des ZK der SED, Walter Ulbricht (l), und der Erste Sekretär des ZK der KPdSU, Nikita Chruschtschow (r), am 8.7.1958 in Berlin
    Der Erste Sekretär des ZK der SED, Walter Ulbricht (l), und der Erste Sekretär des ZK der KPdSU, Nikita Chruschtschow (r), am 8.7.1958 in Berlin. (picture alliance / dpa)
    "Er war kein großrussischer Nationalist. Er wollte das Imperium behalten und wollte um jeden Preis seine Persönlichkeit dem politischen Geschehen aufdrücken. Er hörte nicht auf die Berater. Und gespenstische Ähnlichkeiten gibt es mit Putin, der auch zu emotional handelt. Mit der Wahrheit hatten beide immer Probleme. Also, Chruschtschow sagte auch an einem Tag etwas - und an demselben Tag das Gegenteil."
    "Und nun, meine lieben Hörerinnen und Hörer, spreche ich zu Ihnen vom Vorplatz des Berliner Ostbahnhofes. Zehntausende von Berlinern begrüßen die sowjetischen Freunde, die zu uns gekommen sind zum V. Parteitag der SED." - "Die Losung des Tages lautete: ‚Die deutsch-sowjetische Freundschaft - die größte Errungenschaft unserer beiden Völker!' - "Genosse Chruschtschow und Ministerpräsident Otto Grotewohl und Walter Ulbricht schreiten nun gemeinsam die Front der Ehrenkompanie ab." - "Es lebe die Kommunistische Partei der Sowjetunion!" - "Hurra! Hurra! Hurra!"
    Imperiale Anwesenheit
    Chruschtschows Priorität habe gelautet: "Imperiale Anwesenheit". - So skizziert der Moskauer Historiker Nikita Petrov von der Menschenrechtsorganisation "Memorial" den außenpolitischen Kurs ab Mitte der 50er-Jahre, während des "Kalten Kriegs" zwischen der NATO und deren Führungsmacht USA einerseits sowie dem militärischen Gegenbündnis, dem von Moskau dominierten "Warschauer Pakt" der mittelost- und osteuropäischen sozialistischen Satelliten-Staaten. Während die seit ihrer Gründung 1949 im Westen verankerte Bundesrepublik Deutschland stets die Alleinvertretung aller Deutschen für sich beansprucht hat, kämpfte die DDR ihrerseits ebenso beständig darum, als zweiter deutscher Staat politisch international anerkannt zu werden - mit der UdSSR als Schutz- und Garantie-Macht. Dennoch, so Petrov:
    "Zur Bundesrepublik wollte Chruschtschow die Beziehungen natürlich ausbauen und verbessern. 1955 kam es hier zu einem Durchbruch: Das Treffen mit Bundeskanzler Adenauer in Moskau war sehr wichtig. Die deutschen Kriegs- und Zivilgefangenen in der Sowjetunion konnten jetzt nach Hause zurückkehren. Man hat sie gehen lassen. Das war ein wichtiges Signal auch ans Ausland, dass der bisherige repressive Kurs der UdSSR sich hin zu Klarheit und Berechenbarkeit verändert."
    Mit Chruschtschows Namen bleiben allerdings auch Stichworte verbunden wie: Berlin Krise 1958, der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 oder die Kuba-Krise von 1962, die unversehens mit einem atomaren Schlagabtausch zwischen Ost und West hätte enden können. Angesichts des riesigen Kernwaffenbestands auf beiden Seiten hätte es kaum Überlebende, geschweige denn Sieger gegeben. Doch selbst bei diesem Thema war sich Chruschtschow für großspurig-scherzhaft gemeinte Rabulistik keineswegs zu schade:
    "Wir haben gesagt, dass wir eine 100-Millionen-Kilotonnen-Bombe haben. Das ist wahr! Das bestätige ich. Aber diese 100-Millionen-Bombe werden wir nicht detonieren lassen. Denn, wenn wir sie dort explodieren lassen, wo sie das tun soll, könnten wir ja unsere eigenen Fensterscheiben einschlagen."
    "Er war kein gebildeter Mensch"
    Das hochriskante Pokern mit den USA während der Kuba-Krise, dann der ideologische Bruch und die Entfremdung mit Mao Tse Tungs Volksrepublik China, dem der Entstalinisierungskurs Chruschtschows missfiel sowie die hausgemachten anhaltenden Misserfolge seiner ökonomischen Reformmaßnahmen sorgen zunehmend für Unmut. Hinzu kommt zu Beginn der 60er Jahre: Der "Personenkult", den er selbst 1956 bei seiner Geheimrede während des XX. Parteitag der KPdSU an Stalin kritisiert und dabei auch dessen Verbrechen und Terrorherrschaft enthüllt hatte, dieser "Personenkult" kehrt nun wieder zurück - diesmal um seine Person. Und auch die sogenannte "Tauwetter"-Atmosphäre im Land endet allmählich,
    "die wirklich mit einer relativen Liberalisierung im Kunst- und Kulturbereich begann. Das war doch der Aufstieg von Jewtuschenko, die Veröffentlichung von Solshenizyns Novelle ‚Ein Tag von Iwan Denisowitsch'. Dann hab' ich aber in Ende '62, Anfang '63 die andere Richtung noch unter Chruschtschow erlebt: Die Kampagne gegen die abstrakte Kunst und die Kampagne gegen dieselben Dichter, Lyriker, die er gefördert hat. Einerseits war Chruschtschow in der Kultur immer Stalinist geblieben. Er war kein gebildeter Mensch - aber die Kontrolle wollte er natürlich in keinem Fall aufgeben."
    Den Entschluss, Chruschtschow zu stürzen, fassen seine Gegner im Politbüro, darunter sein späterer Nachfolger Leonid Breschnew, am Ende auch deshalb, weil ihnen Chruschtschows angestrebte Reform der KPdSU zuwider ist. Denn sie soll Partei-Komitees an der Basis mehr Verantwortung übertragen. Damit aber geriete das eigene Machtfundament in Gefahr. Und das sieht inzwischen auch das Zentralkomitee so, einst Chruschtschows Hausmacht. Am 14. Oktober 1964 ist es dann soweit.
    Friedlicher Machtwechsel
    Chruschtschows Sturz, so der "Memorial"-Historiker Petrov, sei hinreichend lange geplant, im Übrigen aber ein kühner Schritt gewesen. Denn: Vorher an so etwas zu denken war in der sowjetischen Geschichte einfach unmöglich:
    "In den Zeitungen ist das einfach trocken mitgeteilt worden. Verblüfft hat man das Volk: ‚Wegen seines vorgerückten Alters ist er in Rente gegangen'. Was für eine Heuchelei. Öffentlich hat man Chruschtschow in unserem Land nicht getadelt. Aber allen war klar: Als in den Zeilen der Sowjet-Enzyklopädie die Begriffe ‚Voluntarismus', ‚Subjektivismus' auftauchten, war das eine verdeckte Kritik an ihm, das Konzentrat dessen, was auf dem KPdSU-Plenum zu hören war, das Chruschtschow gestürzt hatte."
    Chruschtschow gibt kampflos auf. - Bis zu seinem Tod im Herbst 1971 lebt er unbehelligt zurückgezogen auf seiner Datscha bei Moskau - ein Novum in der sowjetischen Geschichte. Denn: Bis zu Stalins Tod hatte die UdSSR so manch blutig verlaufenen Elitentausch in den oberen Etagen der KPdSU miterlebt. Und nun dieser friedliche Machtwechsel: Auch ein Ergebnis der Chruschtschowschen Entstalinisierung, von der er am Ende selbst hat profitieren können. Allerdings, so Jörg Baberowski:
    "Als Person ist er eigentlich überhaupt nicht präsent. Weder in der russischen Öffentlichkeit noch in der russischen Geschichtswissenschaft. Eigentlich ist Chruschtschow genau wie Gorbatschow eine Figur, die in Vergessenheit geraten ist, wie fast alle Reformer in der russischen Geschichte. Man beschäftigt sich lieber mit den Scheusalen oder den autoritären Figuren als mit den Reformern. Das kann man ja zum Beispiel auch sehen, wenn man seine Grabstätte besucht, auf der fast nie Blumen liegen. Chruschtschow ist ein vergessener Reformer."