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Nicolaus Steno und die Anfänge der Geologie
Und sie verändert sich doch!

"Und sie bewegt sich doch!" war die Erkenntnis über die Erde, die Galileo Galilei aus seinen Himmelsbeobachtungen zog. Der dänische Forscher und spätere Bischof Niels Stensen - oder auch Nicolaus Steno - hingegen wühlte in Gesteinsschichten und legte damit die Basis für ein neues Forschungsfeld - die Geologie.

Von Dagmar Röhrlich |
Gedenktafel für Niels Stensen oder auch Nicolaus Steno, Geologe und Bischof, in der Ritterstrasse in Schwerin
Gedenktafel für Niels Stensen oder auch Nicolaus Steno, Geologe und Bischof, in der Ritterstrasse in Schwerin (imago/bonn-sequenz)
Florenz, die Basilica di San Lorenzo. Eine Basilika, so ganz anders als die schummrigen Kirchenräume des Mittelalters: hell, klar, geometrisch – steingewordene Mathematik. Und ein mächtiger Bau. So, wie es sich gehört für die Grablege der Medici. Hier ruhen nicht nur Herrscher, sondern auch ein Naturphilosoph, fast schon ein Wissenschaftler, der später Bischof wurde: Niels Stensen oder Nicolaus Stenonis.

„Steno galt seit jeher als Heiliger, auch wenn er erst 1988 seliggesprochen wurde. Studenten kamen schon immer hierher: 'Steno, wenn Du mir hilfst, die Prüfung zu bestehen, werde ich es Dir danken.‘“

Sein Grab lag immer voller Bittzettel aus ganz Europa, erzählt Stefano Dominici, Kurator des Naturhistorischen Museums an der Universität Florenz. „Leider wurde vor ein paar Jahren entschieden, den Leichnam aus der kleinen Kapelle in die Krypta zu verlegen, in der auch Mitglieder der Medici-Familie ruhen. Dorthin gehen wir jetzt.“

Ein Leben im Zeitalter des Umbruchs

Steno lebte im 17. Jahrhundert, dem Jahrhundert, in dem sich ein neues Denken durchsetzt: Die Natur wird erforschbar durch Experimente, durch Messen und Beobachten, durch die Mathematik. Nicolaus Steno hat an diesem Umbruch entscheidend mitgewirkt. Doch während andere ihren Blick in den Himmel richteten, wühlte er in der Erde und legte damit die Basis für ein neues Forschungsfeld.

„Das hier ist das Grab.“ Ein römischer Sarkophag. Darüber: ein Porträt. Es zeigt einen ernst aussehenden Mann mit feinen Gesichtszügen und einer charakteristischen Nase: Nicolaus Steno. Sohn eines Goldschmieds, geboren in Kopenhagen – im Jahr 1638, mitten in den politischen und religiösen Wirren des Dreißigjährigen Krieges. Das alte Weltbild ist da schon zertrümmert.

Der Himmel, der sich in festen Sphären um die Erde als Mittelpunkt dreht, ewig und unveränderlich: Immer kompliziertere Zusatzannahmen müssen die Astronomen einbauen, um das Weltbild mit ihren Beobachtungen in Einklang zu bringen. Das verwinkelte Regelwerk widerspricht Grundüberzeugungen wie der, dass Himmelsbewegungen harmonischen und göttlichen Prinzipien folgen sollten. 1553 dann die Revolution: Nikolaus Kopernikus greift in „De revolutionibus orbium coelestium – Über die Umlaufbahnen der Himmelssphären“ das überkommene ptolemäische Weltbild an.
Stefano Dominici, Kurator des Naturhistorischen Museums an der Universität Florenz, vor Vitrinen mit geologischen Fundstücken
"Galilei war der Höhepunkt einer Geschichte mit mehreren Figuren": Stefano Dominici, Kurator des Naturhistorischen Museums an der Universität Florenz (Deutschlandradio/Dagmar Röhrlich)

Vom aristotelischen Kosmos zum modernen Weltbild

Was nun das kopernikanische Weltbild mit der Sonne im Zentrum angeht, so sind die Astronomen anfangs zwar fasziniert von der Einfachheit der Rechenmethoden, aber nur sehr wenige glauben ihm, wohl auch deshalb, weil die Theorie des Kopernikus noch nicht ausgereift ist.
Zwei Forschergenerationen vergehen, ehe Johannes Kepler das heliozentrische Weltbild vollendet und es sich durch die Arbeiten von Galileo Galilei durchsetzt. Stefano Dominici: „In seiner Schrift ‚Sidereus Nuncius‘ hat Galileo gezeigt, welche enormen Überraschungen der Himmel im Vergleich zum aristotelischen bereithalten konnte.“

Schon ein oder zwei Jahre nachdem Galilei mit seinem Fernrohr die Jupitermonde entdeckt hat, die Berge und Ebenen auf der Mondoberfläche und die Venusphasen, verteidigt kein guter Astronom mehr das ptolemäische System. Aus dem begrenzten aristotelischen Kosmos mit seinen abgeschlossenen Sphären ist ein offenes Universum geworden. Vor allem aber kann der Mensch die Naturgesetze durch Beobachtungen und Experimente erkennen und muss sie nicht mehr einfach nur glauben. Und diese Naturgesetze gelten – wie Isaac Newton zeigen sollte – auf der Erde genauso wie im Himmel.

„Galileo stand an der Spitze von so vielen Entdeckungen, nicht zuletzt der von Amerika, die den traditionell bekannten Kontinenten einen neuen hinzugefügt hat. Oder nehmen Sie Tycho Brahe, der einen neuen Stern am Himmel entdeckte, was bedeutete, dass die Sphäre der Fixsterne nicht so fix war. Galilei war der Höhepunkt einer Geschichte mit mehreren Figuren, wobei Galilei als erster von der Mathematik als unserem Schlüssel zur Erforschung der Natur gesprochen hat.“

Die Fossiliensammlung der Medici

Nicht nur Teleskope, auch Mikroskope öffnen damals den Blick in bis dahin Verborgenes. Im Zentrum der Wissenschaftlichen Revolution steht die Mathematisierung der Natur: Durch sie entwickelt sich die Naturphilosophie zu einer empirischen Wissenschaft, die auf Beobachtung beruht und geplanten Versuchen. Es geht um messbare Größen, etwa um die Geschwindigkeit fallender Körper oder das Gewicht der Luft.
Doch dieser Übergang ist ein langsamer Prozess, getrieben von brillanten Einzelpersonen wie Christiaan Huygens, Gottfried Wilhelm Leibniz, Robert Hooke, Isaac Newton – und Nicolaus Stenonis.

„Ich schließe das hier einmal auf.“ Hier, in dem langgestreckten Gebäude des Naturhistorischen Museums der Universität Florenz, waren früher die großherzoglichen Stallungen untergebracht. Jetzt ist es die Fossiliensammlung, deren Ursprünge auf die Medici zurückgehen – und in der es Stücke gibt, die Steno selbst im Auftrag des Großherzogs Ferdinando II. nach Florenz gebracht hat.
Etwa dieses mehr als 250 Millionen Jahre alte Fischfossil in der Vitrine vor uns. Es sei seinerzeit im sächsischen Eisleben gefunden worden, sagt Kurator Stefano Dominici. „In diesem Kasten sehen wir auch einen fossilen Haizahn – eines der ganz speziellen Fossilien, die Steno kommentiert hat.“

Haizahn oder versteinerte Schlangenzungen?

Ob Steno dieses Zahnfossil in der Hand gehalten hat, lässt sich nicht sagen. Aber es ist lange genug in der Sammlung. Es stammt aus Malta. Dort werden fossile Haizähne – oder Glossopetren – in Massen gefunden, was damals für die Bewohner der Insel ein einträgliches Geschäft war: Schließlich galten Glossopetren in der Medizin als Heilmittel für alles Mögliche.

„Der Legende nach sind es versteinerte Schlangenzungen. Warum versteinert? Die Legende erzählt, dass der Heilige Paulus, als er auf seiner Reise vor Malta Schiffbruch erlitten hatte, von einer Schlange gebissen wurde. Und die wurde als Strafe dafür, dass sie den Apostel angegriffen hatte, zu Stein.“

Ein gebildeter Europäer zu Beginn des 17. Jahrhunderts hat daran geglaubt, dass Hexen Unwetter heraufbeschwören oder dass Form, Farbe und Textur einer Pflanze ihre Wirkung als Heilmittel verraten. Seine Autoritäten in Wissensfragen: Aristoteles, Plinius, Ptolemäus, Galen und vor allem die Bibel. Die Legende erschien damals den meisten Menschen also sehr viel glaubwürdiger als der Gedanke, Glossopetren seien versteinerte Haizähne.
Fossilien sollten wie Kristalle wachsen – und zwar dort, wo sie gefunden werden: durch formgebende, „plastische“ Kräfte und Säfte – falls sie sich nicht durch die Strahlen bildeten, die ausgehend von Fixsternen und Planeten in den Stein eindrangen. Die Kräfte, Säfte und Strahlen waren logisch und bibelkonform. Diese Überzeugung, dass die Erde so war, wie Gott sie ein paar tausend Jahre zuvor erschaffen hatte, sollte Steno, der ein herausragender Anatom war, durch seine Arbeiten angreifen.
Illustration aus Stenos Abhandlung Canis Carchariae Dissectum Caput – Über die Sektion eines Carcharias-Haikopfes (1667)
Die "versteinerten Schlangenzungen" sind in Wahrheit Haizähne - und wo einst Meer war, ist nun Land (BEIC)

Steno widerlegt die "Zungenstein"-Legende

„Als Steno im Oktober 1666 in Florenz ankam, wurde vor Livorno vor der toskanischen Küste ein riesiger Weißer Hai gefangen, und Großherzog Ferdinando II. bat seinen berühmten dänischen Gast, den Kopf des Hais zu sezieren. Steno, der dafür berühmt war, vor einem ausgewählten Publikum von Adeligen und wichtigen Persönlichkeiten öffentlich anatomische Untersuchungen durchzuführen, machte sich an die Arbeit.”

Das anatomische Theater ist bis auf den letzten Platz besetzt. Ferdinando hat den Kadaver nach Florenz bringen lassen. Nun erwarten alle ein Spektakel. Allerdings hat sich die Wut der Fischer auf die Bestie zuvor schon entladen, sie haben ihn erschlagen und gefleddert, weshalb nun nur der gewaltige Kopf auf dem Tisch liegt. Es stinkt bestialisch. Die hohen Herrschaften pressen parfümierte Taschentücher vor Mund und Nase. Steno lässt seine Gehilfen den Kopf herumwuchten, so dass er an das Gebiss des Hais herankommt. Nur die Mitte des Unterkiefers ist noch intakt.
Steno schneidet das schwammartige Zahnfleisch weg, um die Zähne genauer untersuchen zu können. Messerscharfe, spitz zulaufende Gebilde. Sie gleichen von der Form her genau den Glossopetren, die er vor Jahren in Kopenhagen in der Sammlung seines Lehrers Thomas Bartholin gesehen hat. Nur dass diese hier nicht versteinert sind.

„Steno konnte die Legende der Zungensteine ein für alle Mal widerlegen: Er bewies, dass es sich um die Zähne eines Hais handelte, dass die stark mineralisierten Zähne versteinert im Gestein überdauert hatten.“

Das Herz ist ein Muskel!

Ähnlichkeiten faszinieren Steno, der für seine genaue Beobachtungsgabe und seinen scharfen Verstand berühmt ist. So hat er beispielsweise während seines Studienaufenthalts in Leiden die von Aristoteles, Hippokrates und Réné Descartes propagierte und allgemein anerkannte Vorstellung vom Herzen als Sitz der „Lebenswärme“ ad absurdum geführt.
Es sollte wie ein Ofen das Blut durch die Adern treiben, erklärt Nuno Castel-Branco vom Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte: „Steno hat sich die Herzen angesehen und sie mit den Muskeln verglichen, die er sezierte, und festgestellt, dass das Gewebe genau dasselbe war wie das von Muskeln.“

Auch wie Muskeln funktionieren, war damals Gegenstand heftiger Diskussionen. Beliebt war die von Descartes favorisierte Erklärung, dass Muskeln ihr Volumen verändern - durch "esprits animaux": hauchartige „Tiergeister“, die sich durch feine Kanälchen im Körper verbreiten und unter anderem Bewegungen auslösen. Steno hingegen war überzeugt, dass sich die Muskelfasern zusammenziehen. Um das zu beweisen, setzte er auf Mathematik:

„Er hatte die Muskeln vieler Tiere untersucht, darunter auch die des Menschen – und verstanden, dass die Form mit der eines verzogenen Quaders oder Spats verglichen werden konnte, also eines geometrischen Körpers, der von Parallelogrammen begrenzt wird. Er stellte eine ganze Theorie auf, wie diese Muskel-Pakete durch Veränderung der Winkel funktionierten. Muskeln arbeiten, indem sie ihre Form verändern, sagt er: Und weil Mathematik und Wirklichkeit vergleichbar sind, können wir bestimmte Dinge über die Muskeln schlussfolgern.
Zu Stenos Zeit war die Mathematik in zwei Kategorien unterteilt. Es gab reine Mathematik, also die Geometrie und die arithmetische Algebra – und die gemischte Mathematik, also Astronomie, Mechanik und Optik. Die gemischte Mathematik wurde so genannt, weil sie reine Theorien wie die Geometrie mit Ereignissen der physikalischen Welt vermischt. Steno benutzte beide Kategorien. Seine in der Anatomie entwickelte Art, die Dinge zu erklären, wurde noch sehr wichtig in seinen geologischen Arbeiten.“
Großherzog Ferdinand II. de Medici beobachtet ein Barometer-Experiment von Evangelista Torricelli in der Accademia del Cimento; Fresco von Gaspero Martellini (1785-1857) in der Tribuna Galileiana in Florenz
Der Herrscher als Wissenschafts-Fan: Ferdinand II. in der Accademia del Cimento (imago/Leemage)

Die Medici als Mäzene der Wissenschaft

Als Steno 1666 nach Florenz kommt, blüht die Forschung am Hof der Medici. Drei Jahrzehnte zuvor hat Großherzog Cosimo I. Galilei Galileo vor der Inquisition beschützt, ihm in seiner Arbeit freie Hand gelassen. Jetzt regiert sein Sohn, und Ferdinando II. ist fasziniert von Messinstrumenten und Experimenten, mehr noch sein Bruder Leopoldo.
Anfang 1657 gründen die Brüder die Accademia del Cimento. Geleitet wird diese frühe wissenschaftliche Vereinigung von zwei Mathematikern: dem Galileo-Schüler Vincenzo Viviani und von Giovanni Alfonso Borelli. Zu den Mitgliedern der Accademia gehört auch Francesco Redi, der durch seine Experimente zur Spontanzeugung berühmt werden sollte. Damals gilt als Allgemeinwissen, dass ‚niedere Kreaturen‘ wie Fliegen, Kröten, Schnecken und Würmer spontan aus Schlamm oder faulendem Fleisch entstünden.
Redi bezweifelt das. Im Hochsommer 1664 füllt er deshalb im Palazzo Pitti Flaschen mit verrottendem Fleisch. Einen Teil verkorkt er fest, andere versieht er mit Fliegendraht und wieder andere lässt er offen. Den Rest besorgt die Sonne. Doch nur in den offenen Flaschen wimmelt es von Maden. Seine Schlussfolgerung: Omne vivum ex ovo. Alles Leben entsteht aus dem Ei.

Das Land war offenbar einmal Meer

Auch Steno ist Mitglied der Accademia. Nach der Sektion des Haikopfs durchforstet er die Sammlung im Palazzo Pitti, diskutiert mit Kollegen, besucht einige Fossilfundstellen selbst. Ihn treibt ein Gedanke, der ihn schon als Student in Kopenhagen beschäftigt und über den er vor seiner Ankunft in Florenz in Montpellier mit britischen Naturphilosophen diskutiert hat:

„Schnecken, Muscheln, Austern, Fische et cetera, die versteinert an Orten weit entfernt vom Meer gefunden werden: Entweder sind sie dort nach einer urzeitlichen Flut zurückgeblieben oder weil der Boden des Meeres langsam verändert wurde.“

Diese Ähnlichkeit zwischen Haizahn und Glossopetren - Steno ist nicht der erste, dem sie auffällt. Und er ist auch nicht der erste, der daraus schließt, dass es sich um versteinerte Überreste eines Lebewesens handeln könnte. Doch er denkt weiter.
In seiner Abhandlung „Canis Carchariae Dissectum Caput – Über die Sektion eines Carcharias-Haikopfes“ argumentiert er methodisch, ausgehend von der Erkenntnis, dass Zungensteine fossile Haizähne sind. Finde man sie an Land, so Steno, dann müsse dieses aus dem Meer emporgehoben worden sein. Das wiederum bedeute: Die Welt hat sich seit der Schöpfung verändert.
Titelblatt von "De solido intra solidum naturaliter contento dissertationis prodromus" (1669)
Stenos berühmtes Werk von 1669 ist laut Titelblatt angeblich nur ein "Prodom"; eine Art Vorwort (imago/artokoloro)

"Festes in Festem eingeschlossen"

“Und hier kommt die Geologie ins Spiel.” Alan Cutler ist Geologieprofessor am Montgomery College in Rockville, Maryland und Autor eines Buches über Steno.

„Wenn diese Muscheln wirklich in Gestein eingebettete Muscheln sind, wie sind sie dorthin gelangt? Die Antwort gibt er in seiner berühmtesten Veröffentlichung ‚De solido intra solidum naturaliter contento dissertationis prodromus‘, eine Abhandlung über Festes, das von der Natur in Festem eingeschlossen wurde.“

Steno wusste: Um die Menschen davon zu überzeugen, dass sich die Erde seit der Schöpfung verändert hatte und dass die fossilen Muscheln einst am Meeresgrund gelebt hatten, brauchte er Beweise. Es ist in der frühen Neuzeit üblich, dass Forscher auf der Suche nach Beweisen dorthin reisen, wo sie sie zu finden hoffen. Und so krabbelt Steno mit Unterstützung des Großherzogs in der Toskana durch Steinbrüche, Spalten und Stollen und wühlt in der Erde.
Wenn eine Muschel im Felsen wächst, müsste sie das harte Gestein um sich herum zum Bersten bringen. Doch er findet um die Fossilien herum weder Spalten noch Risse. Sie wachsen auch nicht gewunden und zusammengedrückt wie Baumwurzeln in hartem Boden. Liegen sie frei, greift das Regenwasser sie an und löst sie langsam auf. Das widerspricht der Theorie, dass Fossilien bei Regenfällen keimen wie ein Samenkorn und wachsen wie Möhren.
Auch erinnert er sich an ein Experiment, das ihm sein Lehrer Ole Borch während seiner Studienzeit in Kopenhagen vorgeführt hat. Borch hat Pulver in warmem Wasser aufgelöst, das Ganze abkühlen lassen − und das Pulver erschien wieder, sank wie Schneeflocken zu Boden, wo es sich als Schlick absetzte.
Doppelseite aus "De solido intra solidum naturaliter contento dissertationis prodromus": die Zeichnungen rechts zeigen das Prinzip der Sedimentbildung
Mit seinen Erkenntnissen zur Sedimentbildung lieferte Steno die Grundlage zum Verständnis der Erdgeschichte (imago/artokoloro)

Vom Sediment zum Stein

Steno stellt sich vor, dass genau so die Sedimente entstehen, in denen die Versteinerungen stecken:

„Dass Lehm und Sand sich mit stark bewegtem Wasser vermischen, sieht man in jedem Sturzbach. Auch, dass die Sedimentkörnchen, die das Wasser schlammig machen, auf den Grund sinken und sich absetzen, wenn die Bewegung aufhört. Dafür muss man nur eine Mündung eines Flusses betrachten.“

Schwere Körner sinken zuerst ab, während die feinen viel länger schweben, was die Schichtung in den Steinen erklärt. Stenos Fazit: Sedimente bilden sich im Wasser − und die Muscheln, die darin stecken, sind lebendig, bevor sie, Sandkorn für Sandkorn, unter einem wachsenden Sedimentstapel begraben werden:

„Das Gestein war noch nicht fest, als es die Muschel darin einschloss − es war noch Sand oder Schlamm, fest wurde es erst später.“

Alan Cutler: „Durch die Veröffentlichung von De solido begann man zu verstehen, was Steine wirklich sind. Folgt man seinem Gedankengang, erkennt man die Reihenfolge der Ereignisse. Erst war da die Muschel – und dann kam das Gestein. Dieselben Überlegungen führten dazu, dass er erkennt, dass die unten liegende Schicht zuerst da gewesen sein muss, damit die nächste auf ihr liegen kann. Die Gesteinsschichten sind wie die Seiten eines Buches, diese Analogie verwende ich immer. Es ist wirklich beeindruckend, dass Steno das herausgefunden hat. Ich meine: Im Grand Canyon ist es klar, man sieht die flachen Schichten übereinander. Aber im Apennin sind die Schichten geneigt und gefaltet. Es verlangt viel Vorstellungskraft zu erkennen, dass das alles einmal flach war und dann durch irgendwelche gewaltigen Kräfte verformt worden ist.“

"Stratigraphisches Grundgesetz" der Geologie

Was Steno entdeckt hat, ist das „Stratigraphische Grundgesetz“ der Geologie. In De Solido hat er es hergeleitet, dafür Beobachtung, Analyse, physikalische Gesetze und Geometrie kombiniert: Sedimentgesteine werden flächig und horizontal abgelagert und zwar vom älteren zum jüngeren. Er gab der Erde eine Geschichte, die sich entschlüsseln lassen sollte.

Die kopernikanische Revolution hatte gezeigt, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist – und Steno bewies, dass sie kein starrer Körper ist, sondern sich dynamisch entwickelt. Doch eine Frage, die er nicht stellte, war die nach dem Erdalter. Das habe Gründe, erklärt Stefano Dominici, als wir bei unserem Rundgang durch den großen Saal des Naturhistorischen Museums bei den Mammutskeletten angekommen sind. Gewaltige Exemplare, neben denen ein Elefant klein wirkt.

“Diese Fossilien sind für die Argumentation von Steno wichtig. In ‚De solido intra solido‘ beschreibt er die Überreste dieser Mammuts, die in der Toskana gefunden wurden, und er ordnet sie zeitlich ein. Für ihn sind es die Elefanten, die Hannibal aus Afrika nach Italien brachte, stammen also aus der Römerzeit. Dies sollte uns also nicht dazu verleiten, seine Argumentation zu belächeln. Steno will die Phasen der Erdgeschichte objektiv mit Hilfe der Mathematik rekonstruieren. Er nimmt eine Perspektive ein, in der historische Ereignisse anhand von Beweisen in Felsen und Fossilien untersucht werden. Doch Steno arbeitet in einem kulturellen Rahmen, in dem die Bibel als wahres historisches Dokument betrachtet wird – das einzig verfügbare, das zur Rekonstruktion der Geschichte vor dem Menschen zur Verfügung stand.”

Übereinstimmung mit Bibel bleibt Maxime

Und diese Geschichte sollte – den Berechnungen des anglikanischen Theologen James Ussher zufolge – 4004 vor Christus begonnen haben. So modern Stenos empirische Arbeitsweise anmutet: Er ist „Kind seiner Zeit“. Das heißt, er will die Welt erforschen, das neue Wissen aber auch mit der Bibel in Übereinstimmung bringen. Heute sind Naturwissenschaft und Religion getrennte Gebiete, doch damals war der Glaube eine Triebfeder der Forschung.

„Er beschließt, den biblischen Bericht durch einen Bericht zu flankieren, der auf natürlichen Beweisen beruht. Er sagt: Die Mathematik ist uns in die Hände gelegt worden, um die Natur zu studieren und zu sehen, dass Gottes wunderbares Werk Spuren von aufeinanderfolgenden historischen Phasen hinterlassen hat – ‚und ich kann dies durch die geometrische Methode unwiderlegbar beweisen‘.“

Die hohen, schroffen Felsen des Apennins, in denen es keine Fossilien gibt, sollten aus der Zeit vor der Schöpfung stammen. Die versteinerten Muscheln und Schnecken in den toskanischen Hügeln hingegen bewiesen, dass diese Gesteine nach der Schöpfung entstanden und aus dem Meer hervorgehoben worden waren. Und in Volterra sah Steno in den etruskischen Ruinen die Siedlungen der Menschen, die direkt nach der Sintflut die Erde bewohnt hatten.
Titelblatt aus Stenos "The prodromus to a dissertation concerning solids naturally contained within solids" - die englische Ausgabe von "De solido", London 1671
Bereits zwei Jahre nach Erscheinen von "De solido" wurde das Werk ins Englische übersetzt und in London veröffentlicht (imago/artokoloro)

Stenos Aufsätze lösen Welle weiterer Theorien aus

Als die Royal Society of London die beiden geologischen Aufsätze von Steno übersetzt und veröffentlicht hatte, löste das eine Welle weiterer Theorien aus: Die schiere Anzahl der zwischen 1669 und dem Ende des 17. Jahrhunderts veröffentlichten Ideen über die Verschmelzung von Naturgeschichte mit dem Buch Genesis brachten ihren Autoren den Titel „Weltenbauer“ ein.

Noch hatten sich die Naturwissenschaften nicht emanzipiert. Gleich ob Steno, Kopernikus oder Kepler, Galileo oder Descartes, Leibniz oder Newton: Für sie alle bedeuteten die neuen Einsichten in die Natur zwar eine Revolution im Denken, so dass sie alte Dogmen über Bord werfen konnten. Doch die Naturphilosophen rebellierten nicht gegen die Bibel. Diese Entwicklung trieben andere voran und es waren anfangs auch nur sehr wenige: Es waren Philosophen, die sich textkritisch mit den Schriften selbst auseinandersetzten. Stefano Dominici:

„Spinoza ist vielleicht der Name des wichtigsten Philosophen, der sich kritisch mit dem biblischen Text auseinandergesetzt hat. Neben ihm gab es noch andere, die die Heilige Schrift studierten und die Historizität bestimmter Ereignisse in Frage stellten. Wir dürfen nicht vergessen, dass es im 16. und vor allem im 17. Jahrhundert große Entdeckungen gab, und Jesuitenmissionare begannen damals die Geschichte Chinas zu studieren. Die Chinesen besaßen Annalen, in denen sie die Geschichte von Generation zu Generation aufgeschrieben hatten und den Missionaren wurde klar, dass die Chronologien nicht passten, dass es anscheinend schon vor den aus der Bibel rekonstruierten Zeiten Völker gegeben hatte.“

Aus dem Forscher wird ein katholischer Bischof

Mit der Veröffentlichung von De Solido nimmt Stenos Leben aus heutiger Sicht eine bizarre Wendung. Er konvertiert zum Katholizismus. Zunächst unternimmt er zwar noch eine dreijährige geologische Forschungsreise und muss dem Ruf des protestantischen Königs von Dänemark folgen, um bei ihm als Hofanatom zu arbeiten.
Doch die religiösen Differenzen sind unüberwindbar, und er kehrt als Erzieher des Erbprinzen nach Florenz zurück. Auf der Suche nach Wahrheit wendet sich Steno ganz dem Glauben zu. Er legt die Priesterweihe ab, wird Seelsorger der Medici, zieht schließlich als Bischof über die Alpen. 1686 stirbt er als einfacher Priester in Schwerin. In protestantischen Ländern wie England ist seine Person da schon in Ungnade gefallen.

Großherzog Cosimo III. schätzte Steno so wie sein Großvater dessen Lehrer Galileo. Er lässt den einbalsamierten Leichnam nach seinem Tod mit dem Schiff nach Florenz bringen. Stefano Dominici:

„Er wurde mit dem Schiff transportiert, ohne dass die Seeleute etwas davon wussten, weil Tote an Bord Unglück bringen, und nun liegt sein Leichnam in der Basilika San Lorenzo. Man erzählt sich die Geschichte – und ich weiß nicht, ob sie stimmt – dass damals ein römischer Sarkophag im Arno gefunden worden war und dass der Großherzog beschloss, dass Steno in diesem Sarkophag beigesetzt werden sollte.”

"De Solido" - eine Präambel als Vermächtnis

Stenos Zeitgenossen haben damals vergeblich auf die Fortsetzung von De Solido gewartet. Es ist als Prodromus geschrieben worden, eine Art Präambel, der eine ausführliche Schrift folgen sollte. Dieses Werk kennen wir nicht. Vielleicht ist es nie geschrieben worden, vielleicht – dafür gibt es Anzeichen in ein paar Briefen unter anderem an Gottfried Wilhelm Leibniz – ging es verloren – oder es liegt unerkannt in irgendeinem Archiv.

Als Steno starb, hatte sich der Antrieb vieler Gelehrter wieder verändert: Sie betonten weniger die Mathematik als Sprache des Universums, sondern wollten Erdgeschichte, Physik und Bibel verschmelzen. Erst mehr als 100 Jahre später fingen junge Forscher erneut an, sich auf die Analyse von Gesteinen und Fossilien zu konzentrieren. Sie bauten auf dem stratigraphischen Grundgesetz von Nicolaus Steno auf, zogen mit dem Hammer in der Hand ins Feld und durchforsteten die Archive.