Es dauert keine 20 Sekunden, bis man sich um ein geschlagenes Vierteljahrhundert zurückversetzt fühlt. Die Gitarre von Nile Rodgers zwirbelt und zwickelt wie eh und je, armdicke Basslinien markieren das Tanz-Terrain, der Staub fällt von der Discokugel und schon gilt für alle: "We are Family". Das neue Chic-Album heißt "It´s about time", und, ja, es wurde wirklich Zeit nach 26 Jahren – auch wenn kein Mensch ernsthaft etwas Neues von Chic erwartet.
In der Welt ergibt nichts mehr einen Sinn
Nile Rodgers blieb auch nach dem Tod seines Partners Bernard Edwards 1996 einer der gefragtesten Gitarristen und Produzenten der Popmusik, auf mehr als 1.500 Platten ist er zu hören. Musiker wie David Bowie, Mick Jagger, Prince oder Madonna standen bei ihm an. Kein Wunder, dass er kaum zu bremsen ist, wenn er einmal von den "Good Times" erzählt. Und doch reflektiert das Album "It´s about time" auch die Gegenwart.
Nile Rodgers: "Schauen wir uns die Welt doch an, da ergibt doch nichts mehr einen Sinn. Im Jahr 2018 müssen wir noch über Ungleichheit reden, über Migrationsgegner, Stammesverhalten - ich verstehe solche Gespräche nicht einmal. Weshalb sollen Menschen, deren Bräuche anders sind, gruselig sein und bei uns nichts verloren haben? Sie sind nur anders, sonst nichts. Sie laufen die Straßen runter, wir laufen die Straßen runter. Ja, und?"
Chic hatte schon immer politische Aussagen
Die Welt am Rande des Abgrunds, Fremdenfeindlichkeit, Ungleichheit, Gewalt. Das einstige Flaggschiff der Discomusik – eine politische Band?
"Alle unsere Texte sind politisch, deshalb macht diese Band ja so viel Spaß! Man merkt das nicht gleich, aber es gibt immer eine Zweideutigkeit. Bernard und ich haben damals eine Vereinbarung getroffen, die wir D-H-M nannten, Deep Hidden Meaning. Jedes Lied hat diese tief versteckte Bedeutung, sie ist die DNS, das eigentliche Rückgrat unserer Musik. Nur so können wir unsere Geschichten erzählen."
In der kulinarischen Welt würde man das Erfolgsrezept von Chic einen Klassiker nennen: Sorgfältig gearbeitet, beste Zutaten, nicht zu kompliziert, ein paar Küchentricks – und schon schmeckt das Wiener Schnitzel auch Menschen, die das nie zugeben würden. Das Konzept der Alben ist identisch geblieben: Ein jazziger Instrumentaltitel, und die anderen Lieder leben vom Refrain. Geschrieben wurden sie von Nile Rodgers und Gästen, in diesem Fall Lady Gaga, Hailee Steinfeld, Elton John mit Janelle Monaé, David Craig, Rapper Vic Mensa und anderen.
Gleicher Sound wie damals aber mit zeitgemäßen Mitteln
Seinen Jazz-Hintergrund hat er für sich selber gepflegt und nur kleine Tupfer davon in den Chic-Sound integriert. Gleich zweimal ist Rodgers in den letzten Jahren an Krebs erkrankt. Doch nach den Alkohol- und Drogenexzessen der frühen Jahre trotzt er auch solch düsteren Prognosen. Er ist und bleibt "Le Freak, c´est chic", und statt seinen Nachlass zu ordnen, wie vom Arzt geraten, hat er sich daran gemacht, den legendären Chic-Sound für das 21. Jahrhundert frisch zu machen und dazu alle Register moderner Produktionstechnik gezogen, ohne den Ursprung aus den Augen zu verlieren. Mit Erfolg. "It´s about time" ist 1977 und 2018 in einem Album, es steht für sich und bietet mehr, als nur die Nostalgie neu zu entfachen. Und was war die Motivation nach all den Jahren?
"Möglicherweise mein sehr knappes Vorbeischrammen am Tod. Ich habe sehr viel für mich selbst geschrieben, was die Welt nie zu hören bekommen wird, und es ist mir egal. Aber diese Lieder habe ich geschrieben, weil ich möchte, dass auch andere sie hören. Ich wollte ein Album machen, das mein neues Leben reflektiert, und ein wichtiger Punkt dabei ist, dass ich jetzt Lieder mit anderen Leuten schreibe, wie ich es früher mit Bernard gemacht habe."
Ein Blick zurück, ein Blick nach vorn: Vielleicht ist ja tatsächlich die Discothek ihres Vertrauens das letzte, was nach einem Atomschlag stehen bleibt, wie im Lied "Till the world falls" beschrieben. Und dann wäre "Chic" eine adäquate Schlussmusik. Letzte Ausfahrt: Tanzfläche.