Archiv

Nils Wograms Root 70
Rasanz und Innigkeit (1/2)

Vor 20 Jahren gründete Posaunist Nils Wogram die Band Root 70: Ein pianoloses Quartett mit Hang zu vertrackten Rhythmen und Vierteltönen, aber auch tiefer Liebe zur Jazztradition. Diesen Herbst ging das Ausnahmeensemble auf Jubiläumstour - und das sogar vor Publikum!

Am Mikrofon: Jan Tengeler |
    Vier jüngere Männer sitzen im Freien vor einer Backstein-Mauer. Drei von ihnen schauen in die Kamera.
    Das internationale Quartett Root 70 wurde in Köln gegründet: Nils Wogram, Hayden Chisholm, Jochen Rückert, Matt Penman (v.l.) (Ulla C. Binder)
    Auch wenn zur Band zwei Neuseeländer gehören und die Musiker heute in der Welt verstreut leben: Root 70 war und ist ein Aushängeschild des deutschen Jazz. Auf derart hohem handwerklichen Niveau, mit solch kompliziertem Material, aber auch mit so unverstellter Sinnlichkeit hat hier zuvor keine andere Band gespielt. Hauptkomponist des Repertoires ist Bandleader Nils Wogram. Neun Alben hat sein Quartett bisher veröffentlicht; jedes stand im Zeichen eines anderen musikalischen Konzeptes. So fächerten Root 70 bekannte Standards der Jazzgeschichte mikrotonal auf, arbeiteten mit Streichern oder widmeten sich dem Blues. Für die Jubiläumstour konnten die vier Musiker aus dem Vollen schöpfen.

    Nils Wogram, Posaune
    Hayden Chisholm, Saxofon
    Matt Penman, Kontrabass
    Jochen Rückert, Schlagzeug
    Aufnahme vom 20.9.2020 aus dem Loft, Köln
    (Teil 2 am 1.12.2020)
    Ein Interview von Jan Tengeler mit Nils Wogram zur Jubiläumstour finden Sie hier:
    Interview mit Nils Wogram, Teil 1 (05:58)


    Jan Tengeler:
    Für das Jubliäumsjahr 2020 hatte Wogram zwei ausgedehnte Tourneen durch Europa geplant. Die erste im März musste abgesagt werden. Um im September etwas davon nachzuholen, hatte der Musiker, der die Band auch managt, tagelang recherchiert und alle offiziellen Möglichkeiten erkundet, um mit vier Musikern aus drei verschiedenen Ländern gemeinsam live auftreten zu können. Das Konzert am 20. September 2020 im Kölner Loft war der sechste Auftritt der Tour. Am Nachmittag davor hat Nils Wogram erzählt, wie er selbst und die Band sich mit der Situation zurecht fanden.
    Nils Wogram:
    "Wir hatten ja 2019 gar nicht gespielt, weil ich gesagt habe: 'Lass uns 2019 überhaupt nicht auftreten und uns auf 2020 konzentrieren, dann ist auch die Chance größer, dass wir zwei längere Touren zustande kriegen. Die eine wäre eben im März gewesen."
    Die Tour im März musste bekanntlich ausfallen. Für den September ist es Nils Wogram jedoch geglückt, seine Band nach Deutschland zu holen. Schlagzeuger Jochen Rückert und Bassist Matt Penman leben in New York, Saxofonist Hayden Chisholm in Belgrad. Stundenlang habe er recherchiert und alle offiziellen Möglichkeiten ausgelotet, erzählt Wogram.
    "Der erste Schritt, als wir rausgefunden hatten und die Genehmigung bekommen hatten, dass wir überhaupt auftreten dürfen, dass das alles klappt - das war schonmal ein ziemlicher Flash! Und als es tatsächlich alles geklappt hat, als wir dann zusammen am Bahnhof standen – unglaublich! Niemand hatte damit gerechnet, dass es tatsächlich stattfindet in dieser Form, in Originalbesetzung. Da haben wir uns natürlich sehr, sehr gefreut, und das war schon ein ganz besonderer Moment, den wir mit Sicherheit nicht vergessen werden. Ich glaube, das wirkt sich schon aus. So eine Art Verwöhntheit, die vielleicht vorher manchmal ein bisschen da war: 'Ja, wir spielen noch einen Gig', so eine Selbstverständlichkeit, 'Ja, gehen wir halt mal wieder auf Tour' – das ist jetzt völlig anders. Ich glaube, jetzt ist es so, dass man jeden Moment viel mehr genießt."
    Noch mehr Spielfreude also bei einer Band, die Spielfreude ja eigentlich noch nie hat vermissen lassen. Aber für niemanden ist es mehr selbstverständlich, auf ein Konzert zu gehen, denn viele haben sich von den Maßnahmen rund um die Pandemie verunsichern lassen.
    "Ich war im Mai eingeladen worden zu einem gemeinsamen Gespräch für die Jazzthetik, da ging es genau um diese Thematik: Wie geht es weiter? Was machen denn alle Kulturbeteiligten? Damals habe ich gesagt, dass ich eine gewisse Angst habe, dass, wenn es denn wieder losgeht, zwei Dinge passieren können. Das eine ist, dass die Leute Angst haben und deswegen gar nicht erst zu den Konzerten gehen. Und das andere ist, dass so eine gewisse Schläfrigkeit entstanden ist, so eine Gewohnheit. Wenn man ein halbes Jahr immer nur zu Hause hängt und seine Netflix- oder ARD- oder Arte-Mediatheken angeguckt hat, dann ist man vielleicht gar nicht mehr so in dem Modus, dass man beschließt: 'Ah, jetzt gehe ich in ein Konzert!'
    Diese Bedenken haben sich zum Glück nicht so stark bestätigt, wie ich das befürchtet hatte. Aber ich glaube schon, dass es einen Einfluss hat auf die Konzerte. Hier in Köln haben wir gesagt: Wir spielen zwei Tage. Wir dürfen aber nur 40 Personen reinlassen. Die Konzerte waren dann sehr schnell ausverkauft. Dann hieß es: wir können auch zwei Konzerte pro Tag spielen. Also zwei Set von jeweils 75 Minuten mit unterschiedlichem Publikum. Dadurch konnten wir mit immerhin dann am Abend 80 Personen ins Konzert lassen, was ja schon gar nicht so schlecht ist."
    Neben der Herausforderung, unter Corona-Bedingungen ein Konzert zu organisieren und durchzuführen, ging es bei der jüngsten Tour von Nils Wograms Root 70 auch darum, ein Jubiläumsprogramm zu präsentieren.
    "Einige haben zu mir gesagt: Ihr habt Jubiläum - macht ihr ein neues Album? Ich habe geantwortet: Nein, machen wir jetzt ausnahmsweise nicht! Wir haben nämlich so viele Alben aufgenommen - wir haben ein wirklich riesiges Repertoire! Ich erinnere mich an ein Gespräch mit der Choreografin Sasha Waltz, die mir gesagt hat, sie würde auf Repertoire setzen. Sie würde darauf setzen, dass man zwar auch neue Sachen macht, aber dass man eben auch ein Repertoire hat, das man immer wieder spielt. Und ich fand es in unserer Situation ganz schön und passend, zu sagen: wir machen jetzt mal so eine Art Werkschau von 20 Jahren. Eine Sache, die ich noch nie gemacht hatte. Das war ein absolutes Novum. Normalerweise war es so: Neues Repertoire, auftreten, neues Album machen. Jetzt hieß es wirklich: Wir machen ein Best-of-Programm. Das heißt, ich musste mich dann auch wieder vertiefen in dieses ganze Repertoire, was wir über 20 Jahre gespielt und aufgenommen haben."
    Kurze Zwischenfrage: Über wieviele Stücke reden wir ungefähr?
    "Ich glaube, es sind 55. Es könnten auch gut 70 sein - ich habe sie nicht gezählt. Also wahnsinnig viel Material. Und es war auch klar: Wenn du ein Stück vor 20 Jahren gespielt hast oder auch vor 15 oder zehn, dann hast du es zwar schon mal auf ein sehr hohes Niveau gebracht und es aufgeführt. Aber in der Masse von Material, die wir als Jazzmusiker neu aufführen, geht das natürlich unter. Man kann sich nicht an jedes einzelne Stück über einen so langen Zeitraum erinnern. Das bedeutet erstens: meine Aufgabe war, zu gucken, welche Stücke bergen eine Art Essenz unseres Sounds. Und dazu war mein Anspruch, dass wir möglichst aus allen Programmen Stücke haben, um eine Art Evolution oder Timeline mit drin zu haben."