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Nils Wograms Root 70
Rasanz und Innigkeit (2/2)

Von der gefühlvoll schwingenden Ballade bis zum mikrotonalen Zickzackrennen reicht das Repertoire von Root 70. Zum 20. Bandjubiläum präsentierte das Spitzen-Quartett eine Werkschau – locker, spielfreudig und virtuos.

Am Mikrofon: Jan Tengeler |
    Vier jüngere Männer sitzen draußen in einer Reihe nebeneinander auf einer niedrigen Betonmauer und schauen in die Kamera.
    Der Bandname Root 70 bezieht sich auf ihr gemeinsames Geburtsjahr: Matt Penman, Jochen Rückert, Hayden Chisholm, Nils Wogram (v.l.) (Ulla C. Binder)
    Trotz zweier Neuseeländer in der Band und international verstreuter Wohnsitze: Root 70 ist ein Kölner Gewächs. Mit dem Konzert im Kölner "Loft" kehrte das Quartett an seine wichtigste Wirkungsstätte zurück. Entsprechend gelöst war die Atmosphäre auf der Bühne und im begrenzt zugelassenen Publikum.
    Auf bislang neun Alben kann die Band zurückblicken, alle mit unterschiedlichen Schwerpunkten. So entstand ein riesiges Repertoire, das die Vier hier nach Herzenslust durchstreiften. Live kommen die oft ausgeklügelten Kompositionen von Root 70 phänomenal mühelos daher, getragen vom blinden Verständnis der Musiker, einer außerordentlichen Virtuosität und enormem Drive.
    Nils Wogram, Posaune
    Hayden Chisholm, Saxofon
    Matt Penman, Kontrabass
    Jochen Rückert, Schlagzeug
    Aufnahme vom 20.9.2020 aus dem Kölner "Loft"
    Ein Interview von Jan Tengeler mit Nils Wogram zum Repertoire der Jubiläumstour und zu seinem Kompositionsprozess finden Sie hier:
    Interview mit Nils Wogram, Teil 2 (07:42)
    Jan Tengeler:
    Für seine Jubiläumstour hatte Nils Wogram ca. 70 Kompositionen aus 20 Jahren Bandgeschichte ausgewählt, um sie live zu präsentieren, darunter auch Stücke, die die Band Jahre nicht gespielt hatte. Im Vorfeld haben sich die Musiker immer wieder über das Programm ausgetauscht, die letzte Entscheidung lag aber immer beim Bandleader – der schließlich die Arbeit hat, alle Stücke nochmal zu hören, die Noten zu sichten, sie gegebenenfalls auf den neuesten Stand bringen und zu verschicken.
    Nils Wogram:
    Ich habe erstmal eine Vorarbeit geleistet und Vorschläge gemacht, war aber durchaus offen für andere Anregungen. Ich habe ja alles Notenmaterial. Zum Beispiel hat Hayden während der Tour gesagt: ‚Hey, können wir nicht mein Stück "Immaculate Conception" auch spielen?‘ Dann habe ich gesagt: ‚Ja, kein Problem, wir können jedes Stück spielen, ihr müsst nur sagen, welches und ich drucke es dann aus, und dann können wir es während der Tour noch mit in das Repertoire einfließen lassen!‘
    Dieser ganze demokratische Prozess ist schön, aber er ist auch sehr mühsam. Und jetzt, in unserem Fall, ist er gar nicht so sehr gewollt. Die anderen sind auch irgendwie froh, wenn ich sage: ‚Hey: hier sind die Stücke, die wir aufführen!‘ Ich habe zum Beispiel gesagt: ‚Ich möchte von jedem Bandmitglied ein Stück spielen!‘ Dann habe ich Matt gefragt, ob er die Noten von seinem Stück "How Play Blues" noch hat. Die hatte ich nämlich nicht. Ich habe nicht alle Stücke von den anderen archivieren können.
    Nils Wogram ist ein akribischer Arbeiter, der nichts dem Zufall überlässt, sein Archiv ist fast lückenlos, was sich übrigens auch an der Jubiläumsbox ablesen lässt, die er jüngst veröffentlicht hat. Hier sind nicht nur alle Tonträger auf LP bzw. digital versammelt, sondern auch alle Noten und eine Vielzahl von Bildern und Videos. Aber Wogram hat auch den Anspruch, immer wieder etwas Neues zu machen, er verlässt sich nur ungerne auf Hits oder Stücke, die schon zu oft gespielt wurden.
    Wir haben natürlich unsere Hits im Repertoire. Ich hatte allerdings auch teilweise aktiv auf einige dieser Nummern verzichtet, weil wir sie eben schon so häufig gespielt haben. Eins davon ist mein Stück "Listen To your woman". Ich hatte da ein bisschen Respekt davor, dass es, wenn man solche Stücke wirklich so wahnsinnig häufig gespielt hat, zu einer Ermüdungserscheinung kommt. Das wollte ich verhindern. Aber wenn eines der Bandmitglieder sagt - oder wir im Konsens sagen - ‚Hey, wir wollen das mal wieder spielen!‘ - kein Problem, dann packe ich das aus, und dann spielen wir das. Aber ich hatte tatsächlich auf einige Stücke dahingehend verzichtet.
    Die Lust, immer wieder etwas Neues zu erfinden, hat bei Nils Wogram dazu geführt, dass er als Komponist mittlerweile auf ein umfangreiches Oeuvre blicken kann. Neben Root 70 hat er noch verschiedene andere Bands, mit denen er unterschiedliche Stile und Klänge erforscht. Beim Schreiben geht er dabei niemals beliebig vor.
    Wenn ich Musik schreibe für die Band, eigentlich für alle meine Bands, denke ich immer daran: Für wen schreibe ich das eigentlich? Wer wird das letztendlich aufführen? Wie ist der Bandsound? Was sind die Stärken und die Schwächen der Band? Dahingehend wird das Programm dann auch ganz klar quasi "getunet". Das ist sozusagen die Rechtfertigung dafür, dass ich verschiedene Bands habe. Wenn die alle ungefähr gleich klingen würden, dann wäre es ja total unsinnig. Deswegen setze ich ja total explizit darauf, dass jede Band anders klingt. Jedem Musiker, jeder Musikerin – leider gibt es ja nicht so viele Musikerinnen in meinen Bands – versuche ich, das auf den Leib zu schneidern und dabei die Vorlieben und Stärken einerseits der einzelnen Musiker und andererseits der Gruppe heraus zu arbeiten.
    Und wie funktioniert der Prozess des Komponierens bei Nils Wogram konkret?
    Das Komponieren er ist ein sehr wichtiger Teil meiner Arbeit. Und es macht auch sehr viel Spaß. Es kann auch anstrengend sein: Das leere Blatt Papier und dann irgendetwas Neues erschaffen – das ist immer eine Herausforderung. Aber es bringt einen auch immer inhaltlich, musikalisch weiter.
    Für mich ist wirklich sehr wichtig, dass ich nicht unter Druck gerate. Es gibt ja viele Leute, die das genau umgekehrt sehen. Die sagen: ‚Druck ist Dein Freund!‘ Es gibt diesen Spruch ‚Deadline is your friend‘. Denn wenn ich eine Deadline habe, dann muss ich liefern. Und dann hinterfrage ich nicht die ganze Zeit, was ich da eigentlich mache, es wird dann einfach abgeliefert, fertig. Ich habe natürlich auch Stücke, die in so einer Situation entstanden sind. Ich versuche, sie trotzdem zu vermeiden. Denn wenn man unter Druck steht, nimmt man eher die Lösung, die man kennt. Man geht mehr auf Nummer sicher. Wenn man mehr Zeit hat, dann kann man es sich leisten, auch mal zu scheitern. Dann kann man eben auch mal was machen, von dem man denkt: ‚Das habe ich noch nie gemacht! Mal gucken, wie das weitergeht.‘ Und das ist zeitaufwändig. Wenn ich die Zeit nicht habe, dann habe ich verloren. Dann könnte das wirklich richtig schief gehen. Deswegen gehe ich dann lieber auf Nummer sicher. Worum ich mich allerdings bemühe, ist die Qualität des Liedes nicht in dem Moment des Komponierens zu beurteilen. Ich versuche, mich weitestgehend davon freizumachen. Und ich versuche nicht, jetzt ‚ein gutes Stück‘ zu schreiben, sondern ich versuche erst mal, überhaupt ein Stück zu schreiben. Das ist aber schwierig.
    Schwierig stellt man es sich als Außenstehender auch vor, für eine Band zu schreiben, in der es keine Harmonieinstrumente gibt. Wie funktioniert das?
    Eine Band ohne Harmonieinstrument zu haben, damit kann man eigentlich auf zwei Arten umgehen. Das Eine ist, zu versuchen, trotzdem die Harmonien immer darzustellen, wenn sie denn da sind. Das heißt, man muss dann als Solist mehr Akkordtöne in seine Improvisation einbauen, sodass man eben die Akkorde auch hört. Ansonsten wird es schon sehr, sehr abstrakt. Und das ist etwas, was wir tatsächlich auch machen. Dann haben wir bestimmte Begleitstrukturen. Ich spiele zum Beispiel sehr häufig wichtige Töne aus der Harmonie. Dann haben wir den Basston und einen Harmonienton und dann noch zusätzlich die Improvisation, sodass die Harmonien hörbar sind. Ein kompositorisches Element, das ich viel benutze, ist, den Bass wirklich in einen dreistimmigen Satz einzubauen. Also nicht nur ‚Basston plus zwei Bläser‘, sondern wir haben auch viele wirklich dreistimmige Sätze, das heißt der Bass ist relativ hoch gesetzt, sodass man die Harmonien richtig wahrnimmt. Aber wir haben auch viele freitonale Stücke, wo wir nutzen, dass es eben bei einem harmonielosen Quartett nie zu einem richtigen Clash kommt. Wenn ich jetzt einen Pianisten da habe, der C-Dur spielt, und ich spiele irgendwelche Töne, die nicht zu C-Dur gehören, dann klingt es dissonant. Wir können blitzschnell agieren, und es wird eigentlich nie total dissonant und es ist immer total flexibel. Das ist eine Sache, die ich sehr mag, denn es engt mich nicht ein. Das ist ein bisschen die Art, wie Ornette Coleman gearbeitet hat. Diese Farbe haben wir mit drin. Aber wir haben mehr Stücke, die harmonisch sind, als Stücke, die nicht harmonisch sind. Wir gehen also damit sehr bewusst und auch diszipliniert um. Wir spielen auch Formen. Wir haben dadurch auch eine gewisse Verantwortung. Wenn man Harmonieinstrumente dabei hat, dann spielen die halt die Harmonien. Man hört die immer und kann darauf reagieren. Dagegen müssen wir sie die ganze Zeit selber darstellen, und es ist sehr, sehr wichtig für unseren Sound, dass das auch passiert.