Vor einigen Jahren hatte man hierzulande erstmals Gelegenheit, Pierre Michon als einen großartigen Schriftsteller kennenzulernen mit seinem hoch poetischen Erzählband "Die Kinder der Toten". Auch seine Rimbaud-Studie ist kein nüchtern diskursiver Essay, sondern eher eine rhapsodische Phantasie, ein großes metaphernreiches Gedicht in Prosa, das sich seinem Gegenstand in immer engeren biographischen Umkreisungen nähert.
Im Titel "Rimbaud der Sohn" steckt bereits alle Brisanz des Textes. Betrachten wir die erste Bedeutungsebene von "Sohn". Am Anfang ist der Dichter ein hoch empfindsames Kind. Die Dichtung noch schlummernde Potenz. Aber die seinen Affekthaushalt prägenden familiären Einflüsse, die unartikulierbare Not des unverstandenen Kindes schreiben gewissermaßen schon vorab an dieser Dichtung mit. Rimbauds Vater, ein Hauptmann, war abwesend, hatte die Familie früh verlassen. Der Groll der Mutter, eine frömmelnde, verhärmte Frau, die das bäuerliche Anwesen allein bewirtschaften musste, überträgt sich auf den schwierigen Knaben, mit dem sie nicht fertig wird. In der Schule findet Rimbaud Anschluss an die Poesie, er stürzt sich darauf, schreibt als "Sohn" der verehrten Dichter, Victor Hugo vor allem, die Tradition fort. Aber bei ihm wird die Dichtung kein Blütenzauber, sondern Kampf sein, ein wütendes Rebellieren gegen die Enge des Milieus, gegen die Herkunft, gegen alles Hergebrachte, Abgelebte der Zivilisation. Ein vulkanisches Hochkochen der früh einverleibten familiären Bitternis, die mit Macht nach außen, nach Ausdruck drängt.
"Die Mutter, aus den Gefühlen des Sohnes verjagt, verstoßen, verspottet (...), flüchtete sich ganz und gar in den Sohn, sprang, mit beiden Händen ihre alten Röcke zusammenhaltend (...) in den Sohn hinein, in jenes dunkle Kabuff in uns, in dem wir, heißt es, unserer Handlungen nicht bewusst sind und handeln; dort stieß sie wieder auf den Hauptmann, der mit seinem Tschako und seinem Säbel schon eine ganze Weile dort saß; aber sie machte mehr Lärm als der Hauptmann. Diese Dinge geschehen häufig; aber, was weniger häufig geschieht, dieser Sohn war Arthur Rimbaud, dessen bemerkenswerte Taten in nichts als schönen Versen bestanden; und mit besagten schwarzen Fingern, die sich nun an den Sohn klammerten und, in ihm eingeschlossen, an ihm herumhantierten, wurden die schönsten Verse gewoben (...) von einer traurigen Frau, die kratzte, tobte und ihrem Wahn verfiel in einem Kind."
Starker Tobak. Nur darf man diese Vision der bösen Mutter, die im Innern des Sohns rumort, nicht biographisch-psychologisierend missverstehen. Es handelt sich eher um eine mythisierende Metapher für die alten, dunklen Urkräfte der geschundenen Menschheit, den alten Atridenfluch, das alte Unglückserbe, aus dem sich die Poesie nährt und stets erneuert. Pierre Michon schließt sich hier einer Tradition an, die in der deutschen Philologie etwa von Walter Muschg in seiner "Tragischen Literaturgeschichte" vertreten wird. Das Unglück muss dem Dichter widerfahren, damit er der Dichter werde, lässt sich der Gedanke verkürzt zusammenfassen. Darin steckt natürlich ein gewisses unzeitgemäß "uncooles" chiliastisches Pathos, das aber, denkt man an Handke, George Steiner unter anderem durchaus nicht aus der Welt ist.
Und damit kommen wir zur erweiterten Bedeutungsebene der Sohnhaftigkeit Rimbauds. Der Dichter ist in Michons kunstreligiöser Lesart der Sohn der ganzen Menschheit, die allein durch Kunst, Musik, Dichtung aus ihrer Unwahrheit erlöst werden kann. Rimbaud selbst war von seiner messianischen Sendung zutiefst beseelt, er trieb es darin bis zum Äußersten, bis zu dem Moment, wo ihm diese Mission als Lüge, als abscheuliche Hybris erschien und er sich zerknirscht vom Dichten lossagte, wie Augustinus und viele Heilige von ihrem gotteslästerlichen Lebenswandel. Diese Abdankung hat er der Welt vermacht als ein großes Gedicht "Une saison en enfer". Die Zeit in der Hölle durchlebte er schreibend, man weiß es, auf dem Dachboden zuhause in den Ardennnen, während draußen die Ernte stattfand und die Schnitter sein lautes Schluchzen unten hörten.
"In diesen Schluchzern hat man seit einem Jahrhundert Trauer hören wollen, den Verlust Verlaines (…) die Trauer auch um das Sehertum (...) ich frage mich aber, ob in diesen Schluchzern, diesem rhythmischen Mit-der-Faust-auf-den-Tisch-Hämmern, nicht jenseits aller Trauer eine sehr alte und reine Freude war (...) ihr seid dieser kleine Mensch, der das Wahre sagt; und ihr könnt es nicht fassen, dass in einem traurigen Loch in den Ardennen (...) ganz in der Nähe einer törichten schwarzen Alten, der Sinn sich eurer derben Hand, eurer derben Trauer, eures Mädchenherzens bedient hat, um noch einmal zu erscheinen in seiner Wörterkluft (...). Man weiß nicht recht, was der 'Aufenthalt in der Hölle' ist; zwischen Himmelsgesang und Gotteslästerung sieht man nicht wirklich klar; es ist eine Entsagung, die nicht wirklich entsagt; (…) das Ja und das Nein sind darin nicht entwirrt; aber zu Recht oder zu Unrecht ist man sich einig, dass es ein Wunder ist, mit neunzehn Jahren (...) diese Blätter zu beschriften, die hermetisch sind wie Johannes, schroff wie Matthäus (...) und wie Paulus, auf aggressive Weise modern (...). Neben dem Evangelium ist der 'Aufenthalt in der Hölle' vielleicht altes Gerümpel. Gleichviel, es ist heute eines unserer Evangelien."
Die Phantasie Pierre Michons, der selbst ein begnadeter Dichter ist, hat sich an diesen höllisch guten Versen entzündet, die Rimbauds Abdankung dementieren und ihm einen Platz im Parnass sichern. Ein sehr passionierter, sehr französischer Text, von Anne Weber wunderbar übersetzt. Manchmal weicht man als Leser vor dem poetischen Furor Michons fast zurück, möchte es gern abgekühlter haben. Vielleicht war diese Glut ja das Rätsel und des Rätsels Lösung. Der Vulkan Rimbaud hatte alles ausgespuckt, das ganze Magma samt Familientragödie. Der Dichter kühlte aus. Er war nicht länger der "Sohn", sondern ein Mann der Tat geworden, wie Faust am Ende des Dramas.
Pierre Michon: "Rimbaud der Sohn" aus dem Französischen von Anne Weber, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main
Im Titel "Rimbaud der Sohn" steckt bereits alle Brisanz des Textes. Betrachten wir die erste Bedeutungsebene von "Sohn". Am Anfang ist der Dichter ein hoch empfindsames Kind. Die Dichtung noch schlummernde Potenz. Aber die seinen Affekthaushalt prägenden familiären Einflüsse, die unartikulierbare Not des unverstandenen Kindes schreiben gewissermaßen schon vorab an dieser Dichtung mit. Rimbauds Vater, ein Hauptmann, war abwesend, hatte die Familie früh verlassen. Der Groll der Mutter, eine frömmelnde, verhärmte Frau, die das bäuerliche Anwesen allein bewirtschaften musste, überträgt sich auf den schwierigen Knaben, mit dem sie nicht fertig wird. In der Schule findet Rimbaud Anschluss an die Poesie, er stürzt sich darauf, schreibt als "Sohn" der verehrten Dichter, Victor Hugo vor allem, die Tradition fort. Aber bei ihm wird die Dichtung kein Blütenzauber, sondern Kampf sein, ein wütendes Rebellieren gegen die Enge des Milieus, gegen die Herkunft, gegen alles Hergebrachte, Abgelebte der Zivilisation. Ein vulkanisches Hochkochen der früh einverleibten familiären Bitternis, die mit Macht nach außen, nach Ausdruck drängt.
"Die Mutter, aus den Gefühlen des Sohnes verjagt, verstoßen, verspottet (...), flüchtete sich ganz und gar in den Sohn, sprang, mit beiden Händen ihre alten Röcke zusammenhaltend (...) in den Sohn hinein, in jenes dunkle Kabuff in uns, in dem wir, heißt es, unserer Handlungen nicht bewusst sind und handeln; dort stieß sie wieder auf den Hauptmann, der mit seinem Tschako und seinem Säbel schon eine ganze Weile dort saß; aber sie machte mehr Lärm als der Hauptmann. Diese Dinge geschehen häufig; aber, was weniger häufig geschieht, dieser Sohn war Arthur Rimbaud, dessen bemerkenswerte Taten in nichts als schönen Versen bestanden; und mit besagten schwarzen Fingern, die sich nun an den Sohn klammerten und, in ihm eingeschlossen, an ihm herumhantierten, wurden die schönsten Verse gewoben (...) von einer traurigen Frau, die kratzte, tobte und ihrem Wahn verfiel in einem Kind."
Starker Tobak. Nur darf man diese Vision der bösen Mutter, die im Innern des Sohns rumort, nicht biographisch-psychologisierend missverstehen. Es handelt sich eher um eine mythisierende Metapher für die alten, dunklen Urkräfte der geschundenen Menschheit, den alten Atridenfluch, das alte Unglückserbe, aus dem sich die Poesie nährt und stets erneuert. Pierre Michon schließt sich hier einer Tradition an, die in der deutschen Philologie etwa von Walter Muschg in seiner "Tragischen Literaturgeschichte" vertreten wird. Das Unglück muss dem Dichter widerfahren, damit er der Dichter werde, lässt sich der Gedanke verkürzt zusammenfassen. Darin steckt natürlich ein gewisses unzeitgemäß "uncooles" chiliastisches Pathos, das aber, denkt man an Handke, George Steiner unter anderem durchaus nicht aus der Welt ist.
Und damit kommen wir zur erweiterten Bedeutungsebene der Sohnhaftigkeit Rimbauds. Der Dichter ist in Michons kunstreligiöser Lesart der Sohn der ganzen Menschheit, die allein durch Kunst, Musik, Dichtung aus ihrer Unwahrheit erlöst werden kann. Rimbaud selbst war von seiner messianischen Sendung zutiefst beseelt, er trieb es darin bis zum Äußersten, bis zu dem Moment, wo ihm diese Mission als Lüge, als abscheuliche Hybris erschien und er sich zerknirscht vom Dichten lossagte, wie Augustinus und viele Heilige von ihrem gotteslästerlichen Lebenswandel. Diese Abdankung hat er der Welt vermacht als ein großes Gedicht "Une saison en enfer". Die Zeit in der Hölle durchlebte er schreibend, man weiß es, auf dem Dachboden zuhause in den Ardennnen, während draußen die Ernte stattfand und die Schnitter sein lautes Schluchzen unten hörten.
"In diesen Schluchzern hat man seit einem Jahrhundert Trauer hören wollen, den Verlust Verlaines (…) die Trauer auch um das Sehertum (...) ich frage mich aber, ob in diesen Schluchzern, diesem rhythmischen Mit-der-Faust-auf-den-Tisch-Hämmern, nicht jenseits aller Trauer eine sehr alte und reine Freude war (...) ihr seid dieser kleine Mensch, der das Wahre sagt; und ihr könnt es nicht fassen, dass in einem traurigen Loch in den Ardennen (...) ganz in der Nähe einer törichten schwarzen Alten, der Sinn sich eurer derben Hand, eurer derben Trauer, eures Mädchenherzens bedient hat, um noch einmal zu erscheinen in seiner Wörterkluft (...). Man weiß nicht recht, was der 'Aufenthalt in der Hölle' ist; zwischen Himmelsgesang und Gotteslästerung sieht man nicht wirklich klar; es ist eine Entsagung, die nicht wirklich entsagt; (…) das Ja und das Nein sind darin nicht entwirrt; aber zu Recht oder zu Unrecht ist man sich einig, dass es ein Wunder ist, mit neunzehn Jahren (...) diese Blätter zu beschriften, die hermetisch sind wie Johannes, schroff wie Matthäus (...) und wie Paulus, auf aggressive Weise modern (...). Neben dem Evangelium ist der 'Aufenthalt in der Hölle' vielleicht altes Gerümpel. Gleichviel, es ist heute eines unserer Evangelien."
Die Phantasie Pierre Michons, der selbst ein begnadeter Dichter ist, hat sich an diesen höllisch guten Versen entzündet, die Rimbauds Abdankung dementieren und ihm einen Platz im Parnass sichern. Ein sehr passionierter, sehr französischer Text, von Anne Weber wunderbar übersetzt. Manchmal weicht man als Leser vor dem poetischen Furor Michons fast zurück, möchte es gern abgekühlter haben. Vielleicht war diese Glut ja das Rätsel und des Rätsels Lösung. Der Vulkan Rimbaud hatte alles ausgespuckt, das ganze Magma samt Familientragödie. Der Dichter kühlte aus. Er war nicht länger der "Sohn", sondern ein Mann der Tat geworden, wie Faust am Ende des Dramas.
Pierre Michon: "Rimbaud der Sohn" aus dem Französischen von Anne Weber, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main