"Guten Morgen! Unser politisches System und unsere Verfassung stehen vor dem Zusammenbruch." BBC-Starmoderator Andrew Marr begrüßte gestern dramatisch die Fernsehzuschauer zu seiner Morning Show. Angeblich soll der Berater von Premierminister Boris Johnson, Dominic Cummings, intern gesagt haben: "Was Ihr letzte Woche erlebt habt, ist nichts zu dem, was noch kommen wird." Die britische Regierung spielt wohl mit dem Gedanken, das gerade durch Unter- und Oberhaus verabschiedete Gesetz zu umgehen. Es verbietet Johnson, die EU ohne einen Vertrag am 31. Oktober zu verlassen.
Der britische Außenminister Dominic Raab sprach von einer Prüfung des Gesetzes. "Wir werden uns natürlich immer an das Gesetz halten, es sehr sorgfältig überprüfen, was es von uns fordert und was nicht. Das ist nicht nur gesetzestreu, sondern verantwortungsbewusst."
Antrag bei EU stellen
Wenn Boris Johnson sich mit der EU beim Gipfel am 17. und 18. Oktober nicht auf einen Vertrag einigt, könnte er sich also doch weigern, eine Verschiebung des Brexits zu beantragen, obwohl das Gesetz ihn dazu verpflichtet. In den letzten zehn Tagen des Oktober müsste dann der Supreme Court, das höchste Gericht, entscheiden.
John McDonnell, die Nummer Zwei bei Labour, der Opposition, ist alarmiert. "Ich traue ihm keinen Zentimeter über den Weg. Wir haben jetzt einen Premierminister, der sich nicht an das Gesetz halten will. Das habe ich noch nie erlebt." Labour und die anderen Oppositionsparteien wollen auf jeden Fall heute Abend auch im zweiten Anlauf gegen Neuwahlen stimmen. Erst soll Johnson bei der EU beantragen, den Brexit zu verschieben.
Für Boris Johnson gab es gestern einen weiteren Rückschlag. Seine Arbeitsministerin Amber Rudd trat zurück und verlässt unter Protest die Partei. "Es gibt einen Riesenapparat bei uns, der das Land darauf vorbereitet, ohne Vertrag die EU zu verlassen. Das verschlingt 80 bis 90 Prozent der Ressourcen der Regierung. Umgekehrt wird nichts getan, um über einen Vertrag mit der EU zu verhandeln. Deswegen haben 21 Kollegen rebelliert und ich tue das jetzt auch."
"No-Deal"-Drohung
Faktisch hat die Spaltung der konservativen Partei begonnen. Aber ab morgen schon könnte das Parlament suspendiert sein. Wenn dann schnell Neuwahlen folgen, könnte Johnson anschließend die Abgänge verkraften. Denn in den Umfragen wird er immer populärer: Die Tories liegen jetzt 14 Punkte vor Labour.
Boris Johnsons Taktik wird sich also wohl nicht ändern, der EU doch weiter mit "No Deal" zu drohen. Tom Chivers ist Experte für Spieltheorie und vergleicht die Konfrontation zwischen London und der EU mit einem Autorennen. Beide Wagen rasen dabei mit hohem Tempo aufeinander zu. Johnson sitzt am Steuer des einen Autos und ist zu allem entschlossen. "Die Vertreter der Spieltheorie raten jetzt, säg‘ dein Lenkrad ab und schleudere es prahlend aus dem Fenster."