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No-Go-Area
"Duisburg-Marxloh zur Negativ-Marke kreiert"

16 Prozent Arbeitslosigkeit, 19.000 Einwohner, die Mehrheit davon mit ausländischen Wurzeln und eine Kriminalitätsrate, die überdurchschnittlich hoch ist: Einen guten Ruf hat der Duisburger Stadtteil Marxloh wahrlich nicht. Als No-Go-Area wird er immer wieder bezeichnet. Franz Voll wollte wissen, wie es ist, dort zu leben – und so zog der Rechercheur und Journalist für sieben Monate dorthin. Jetzt ist sein Buch über den Stadtteil erschienen.

Von Moritz Küpper |
    Ein Schild "Hier sind wir zuhause" in verschiedenen Sprachen hängt am 12.08.2015 in Duisburg (Nordrhein-Westfalen) auf der Straße. Händlern brechen die Geschäfte weg, Familienclans reklamieren die Gegend für sich.
    Duisburg-Marxloh: Das Schild "Hier sind wir zuhause" trotzt der sozialen Misere. (picture alliance/dpa/Maja Hiti)
    Der Landtag von Nordrhein-Westfalen im Herbst 2016. "Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen." Gregor Golland, CDU-Landtagsabgeordneter mit Sitz im Innenausschuss, steht am Rednerpult. "Über die Entstehung von No-Go-Areas in bestimmten Bezirken nordrhein-westfälischer Großstädte haben verschiedene Medien seit dem Jahr 2015 wiederholt berichtet."
    Gibt es No-Go-Areas?
    Es beginnt die aktuelle Stunde im Düsseldorfer Parlament. Thema: die sogenannten No-Go-Areas in NRW. Damit sind Gebiete gemeint, in die man nicht gehen sollte, weil staatliche Instanzen dort keine Kontrolle mehr haben. Die Landesregierung bestreitet deren Existenz zwar, doch das Thema ist an Rhein und Ruhr ein Dauerbrenner – und wird auch den anstehenden Wahlkampf vor der Landtagswahl im kommenden Mai prägen. "focus.de vom 19.8.2015: No-Go-Area Duisburg-Marxloh – jetzt mischen auch die Hells Angels mit. Handelsblatt vom 22.8.2015: Wo Kinder auf Autos trampeln: No-Go-Area Duisburg Marxloh."
    Detroit des Ruhrgebiets
    "Wer von einer No-Go-Area in Duisburg-Marxloh spricht, der kann nicht dagewesen sein." Franz Voll war da. Der gebürtige Essener, der als Rechercheur für sozialpolitische Themen lange für das Team um Enthüllungsjournalist Günter Wallraff gearbeitet hat, lebte von Januar bis August 2016 in Marxloh. "Orell Füssli" schickte ihn dorthin: "Der Verlag wollte einfach ein reales Bild von Duisburg-Marxloh haben. Mehr nicht. Er hat mich nur gefragt: 'Trauen Sie sich nach Marxloh?' Und wenn ja: 'Können Sie da ein reales Bild des Stadtteils zeichnen.' Die Kernfrage war: Ist Marxloh wirklich das Detroit des Ruhrgebiets?"
    16 Prozent Arbeitslosigkeit, 19.000 Einwohner, 64 Prozent davon mit ausländischen Wurzeln. Die Kriminalitätsrate ist überdurchschnittlich hoch, zudem kommt es regelmäßig zu Menschenaufläufen und zu Attacken auf Beamte. Kriminelle Clans und libanesische Großfamilien prägen das Straßenbild, verschiedene Rockergruppen sowie türkische, rumänische und bulgarische Gruppen rivalisieren um die Vorherrschaft auf der Straße. Aber, so Voll: "Duisburg-Marxloh ist nicht das, was es in den Medien immer präsentiert und gezeigt wird. Duisburg-Marxloh ist nach meiner Schlussfolgerung zur Negativ-Marke kreiert worden."
    Pegida und Stahlkocher-Demo
    Es sei ein Armutsbezirk, bei dem sich genaues Hinschauen lohne, ist der Autor überzeugt: "Die sind nicht in Marxloh das Detroit des Ruhrgebiets, die sind aber auch nicht das New York. Das habe ich mir jetzt wirklich entliehen, das hat mir eine Schülerin so gesagt. Ich würde heute sagen: Marxloh ist noch nicht so arm wie Detroit, Marxloh ist aber in gewissen Teilen, in gewissen Straßen auf dem Weg dahin, schlecht zu werden, zu verfallen."
    Und davon machte sich Voll ein umfassendes Bild: Er spazierte mit Pegida, besuchte ein Gymnasium, fuhr zu einer Stahl-Demo. "Eine aggressive Stimmung liegt in der Luft. Das alles haben die Arbeiter in Duisburg schon einmal erlebt. Auch vor 30 Jahren wurde viel versprochen, nichts gehalten. Ich treffe mich mit Ulf, einem betroffenen Stahlkocher. 'Warum seid ihr hier? Ich verstehe so gut wie nichts von dem, was die da oben sagen'." - "Wir sind hier, um denen zu zeigen, dass wir viele sind, aber das wird auch nicht helfen. Ich hoffe nur, dass es nicht schon wieder beschlossene Sache ist und dass das hier nicht wieder genauso ein Schmierentheater wird wie damals. Wir glauben denen kein Wort."
    Liebevoll geschriebenes Buch
    Das Buch ist eine Mischung aus eigenen Schilderungen und zahlreichen Interviews. So erhält der Leser die Möglichkeit, in die verschiedensten Facetten des Stadtteils einzutauchen: Voll spricht etwa mit dem Duisburger Oberbürgermeister Sören Link, SPD, über seine Pläne für den Stadtteil, mit einem Mitglied einer alteingesessen Marxloher Familie über den Wandel vor Ort, mit einer Lehrerin über die Sprachbarrieren vieler Schüler mit Migrationshintergrund. Je länger man liest, desto vollständiger wird das Bild. Nicht zuletzt wegen der Prostituierten Gabi. Sie lebt schon immer hier – ihre Erfahrungen – zunehmend besser:
    "In Marxloh einen Mann zu finden ist schon schwierig. Man hat da nur diese Spackos mit den breiten Schultern, die durch die Straßen laufen, nichts im Kopf haben und auch nur von einem besseren Leben träumen. So einen kann man doch nicht nehmen. [...] Aber um Marxloh zu verlassen, fehlte mir das Geld. Wenn man umziehen will, muss ja auch das Jobcenter zustimmen. [...] So war ich an Marxloh gefesselt. Ich habe oft aus dem Fenster geschaut und Marxloh gehasst, weil es so menschenunwürdig ist, weil ich so arm bin und weil jeder ausnutzen will, dass ich arm bin. Aber seit fünf Jahren geht es mir richtig gut. Ich lebe im Luxus und meine Herren sind kultiviert. [...]Ich habe mich ja auch weiterentwickelt, habe Französisch und Italienisch gelernt und spreche jetzt vier Sprachen."
    Streifzüge durch Marxloh
    Auch ein ehemaliger Gastarbeiter, ein Pfarrer, der Polizei-Sprecher und sogar der CDU-Innenpolitiker Wolfang Bosbach kommen zu Wort. Mitunter wird einem beim Lesen der Interview-Stil aber zu viel. Dadurch wird das Buch – dessen roter Faden Volls Aufenthalt und Streifzüge durch Marxloh sind – sehr kleinteilig. 31 Kapitel in 224 Seiten zeugen davon. Leider kommen Volls eigene Beobachtungen und Wertungen in der Fülle der Beispiele zu kurz: Dennoch ist es ein liebevoll geschriebenes Buch. Man merkt, dass der Stadtteil – mit seinen versteckten Seiten – und seine Bewohner, den Autor berührt haben. All jene Facetten, Details und Hintergründe, die untergehen, in den Schlagzeilen rund um das Problemviertel – und die das Buch lesenswert machen.
    Franz Voll: "Inside Duisburg-Marxloh: Ein Stadtteil zwischen Alltag und Angst"
    Orell Füssli Verlag, 224 Seiten, 17,95 Euro.