"Für eine privilegierte Minderheit hält die westliche Demokratie die Muße, die Einrichtungen und die Ausbildung bereit, die es ihr erlauben, die Wahrheit zu suchen, die sich unter dem Schleier von Verzerrung und Verdrehung, Ideologie und Klasseninteresse verbirgt. Die Intellektuellen haben die Verantwortung, die Wahrheit zu sagen und Lügen aufzudecken."
Dieses Zitat von Noam Chomsky stammt aus dem Jahre 1966, könnte aber auch von letzter Woche sein, denn der intellektuelle Kopf der amerikanischen Linken ist sich stets treu geblieben. Weniger freundlich ausgedrückt: Chomsky ist von diesem starren gesinnungsethischen Selbstverständnis nie abgewichen, obwohl sich die Rolle des kritischen Intellektuellen in der Öffentlichkeit im digitalen Zeitalter beträchtlich gewandelt hat. In der Sammlung von Essays und Reden aus fünf Jahrzehnten erfahren wir darüber kaum etwas. 1970 definiert er wie folgt:
"Die Rolle der Intellektuellen und radikalen Aktivisten besteht im Beurteilen und Bewerten, im Überzeugen und Organisieren, und nicht in der Machtergreifung und Herrschaft."
Intellektuelle sind folglich nur bedeutend, wenn sie ihre Außenseiterstellung gegenüber der etablierten Macht bewahren. Weshalb Chomsky auch jene seiner akademischen Kollegen moralisch attackiert, die sich beratend auf das politische Regierungsgeschäft einlassen und...
"... als Lakaien im Staatsapparat die Macht in duftende Gewänder kleiden."
Der Krieg und der Kapitalismus, die Macht und die Medien sind seine zentralen Aufregerthemen. Gleich in mehreren Beiträgen widmet sich der emeritierte Professor am MIT in Boston dem Fragekomplex eines "gerechten Krieges", gar einer "göttlichen Lizenz zum Töten" oder legitimen "Vergeltungsmaßnahmen in Friedenszeiten". In einer Replik auf den Sozialphilosophen Michael Walzer aus dem Jahre 1978 kennt Chomsky keine Grenzen mehr zwischen Töten und Morden, Terroristen und Militärs und vergleicht den Angriff der Deutschen auf Belgien 1914 mit dem Sechstagekrieg der Israelis von 1967. In der "moralisch zurechtgebogenen" Sonderstellung des jüdischen Staates sieht er mithin...
"... nur eine Widerspiegelung des Krankheitsbildes unserer Zeit. In einer früheren Zeit waren ähnliche Ansichten über die Ausnahmestellung der Sowjetunion nicht ungewöhnlich. Konsens ist kein Maßstab für Wahrheit und Gerechtigkeit."
Konsens als Synonym der Manipulation im Auftrag der Herrschenden
Denn Konsens ist für ihn ohnehin nur ein Synonym der Manipulation im Auftrag der Herrschenden. In seinem Essay "Konsens ohne Zustimmung" aus dem Jahre 1996 bedient sich der einstmals so große Linguist platter Verschwörungsthesen:
"Mit einem richtigen Verständnis des Begriffes 'Konsens' kann man auch zu dem Schluss kommen, dass die Durchsetzung der Unternehmerinteressen trotz der Ablehnung durch die Öffentlichkeit (...) in einer Art "Konsens ohne Zustimmung" geschieht, (...) "die Meinung der Massen zu formen", damit diese in unserer freien Gesellschaft ihre Pflicht erfüllen wie Soldaten in einer ordentlich disziplinierten Armee."
Zu Noam Chomskys zentraler Botschaft geraten seine "Gedanken über Terror, Gerechtigkeit und Selbstverteidigung" aus Anlass des Irak-Krieges 2003. So berechtigt die Kritik an der messianisch anmutenden Verblendung des George W. Bush auch sein mag, der Welt kriegerisch Demokratie einzuimpfen zu wollen, so abwegig sind die historischen Vergleiche, die für die "Normative Revolution" der Neocons herangezogen werden:
"(...) Sie ist ein Kehrreim des europäischen Imperialismus und die rhetorischen Höhenflüge der japanischen Faschisten, von Mussolini, Hitler, Stalin und anderen großen Gestalten standen ihrem Edelmut um nichts nach, auch nicht in ihrer Aufrichtigkeit, wie interne Dokumente zeigen."
Manichäisches Weltbild
Noam Chomsky lebt seit den Zeiten des Vietnam-Krieges von der Aura des Antiamerikanismus'. In einem Großteil der Geschichte der Vereinigten Staaten erkennt er nur das "Narrativ einer imperialen Hybris".
Noam Chomsky (2005): "The United States are the most dangerous country."
Dass die USA das gefährlichste Land der Welt seien, wird das Idol der US-Linken nicht müde zu exemplifizieren. So hält man vergeblich nach einem amerikanischen Nachkriegspräsidenten Ausschau, dessen Politik Chomsky nicht mit der Hitlers zu vergleichen sich lächerlich macht. In seinem jüngsten Essay aus dem Jahre 2013 erleben wir dann das apokalyptische Finale. Titel: Überlebt die menschliche Kultur den real existierenden Kapitalismus? Eher nicht und wenn, dann nur mit lebensgefährlichen Blessuren, denn:
"Das derzeitige politische und wirtschaftliche System ist eine Art Plutokratie, die von einer Demokratie weit entfernt ist. (...) Im Rahmen des real existierenden Kapitalismus ist es im Interesse der kurzfristigen Gewinne der Herren der Wirtschaft, dass wir eine törichte Nation werden und uns nicht von Wissenschaft und Vernunft irreführen lassen."
Das manichäische Weltbild des Noam Chomsky duldet weder Zwischentöne und Nuancen in der Theorie noch Kompromisse oder Grenzgänge in der Praxis. So bekennt er 2008:
"Wenn ich nicht vom Mainstream ausgeschlossen wäre, müsste ich annehmen, einen Fehler gemacht zu haben."
So lautet das in Beton gehauene Ideal eines bloß wahrheitssuchenden Intellektuellen, das aber nicht mehr in eine Zeit zu passen scheint, in der eine kritische linke Öffentlichkeit in Nischen und Netzwerke zerfallen ist. Als moralischer Mahnwächter verkörpert Noam Chomsky nur noch ein Auslaufmodell, das lediglich die Verbitterten des Epochenbruchs von '89 bedient. Jene also, die mit der Krise des Finanzkapitalismus' wie schlafende Hunde zu neuem Leben erweckt wurden und Menschenrechtsoptionen noch immer für eine maliziöse Volte des US-Imperialismus halten.
Noam Chomsky: Die Herren der Welt. Essays und Reden aus fünf Jahrzehnten
(Übersetzung: Gregor Kneussel)
Promedia Verlag, 240 Seiten, 17,90 Euro
ISBN: 978-3-853-71367-9
(Übersetzung: Gregor Kneussel)
Promedia Verlag, 240 Seiten, 17,90 Euro
ISBN: 978-3-853-71367-9