Chemie-Nobelpreis 2024
Die Molekül-Berechner

David Baker teilt sich den Preis mit Demis Hassabis and John Jumper für ihre Arbeit zur Vorhersage und Gestaltung von Proteinstrukturen mit künstlicher Intelligenz. Proteine gelten als Bausteine des Lebens. Die ausgezeichneten Methoden haben großes Potential für Medizin und Materialforschung.

Von Anneke Meyer |
Zeichnungen der Chemienobelpreisträger 2024: David Baker (l.), Demis Hassabis, John M. Jumper (r.).
Die Chemienobelpreisträger 2024: David Baker (l.), Demis Hassabis, John M. Jumper (r.). (Ill. Niklas Elmehed © Nobel Prize Outreach )
Mit der Auszeichnung der wegweisenden Arbeiten zur Vorhersage und Gestaltung von Proteinen unterstreicht das Nobel-Komitee erneut die Bedeutung der künstlichen Intelligenz für die Gesellschaft. Die Laureaten haben Werkzeuge entwickelt, die, gestützt durch KI, viele neue Anwendungsmöglichkeiten bringen: von der Entwicklung neuer Medikamente über die Verbesserung von Impfstoffen bis hin zur Gestaltung umweltfreundlicherer Materialien.

Übersicht

Mit Künstlicher Intelligenz Moleküle verstehen

Proteine dienen als Hormone, Signalstoffe, Antikörper und Bausteine verschiedener Gewebe. Sie sind sozusagen der ultimative Werkzeugkasten des Lebens. Obwohl es so viele verschiedene Proteine mit so vielen unterschiedlichen Funktionen gibt, sind die Bausteine, aus denen sie sich zusammensetzen, immer die gleichen: 20 kleine Moleküle, die sogenannten Aminosäuren.
Schon lange war bekannt, dass die Reihenfolge, in der diese Aminosäuren aneinandergehängt werden, entscheidend dafür ist, welche Form ein Protein annimmt. Diese Form wiederum ist ausschlaggebend für die Funktion, die es erfüllen kann.
Die Regeln dafür, wie eine Aminosäuresequenz aufgebaut sein muss, um eine bestimmte Form zu erhalten, blieben jedoch ein scheinbar unlösbares Rätsel – zum Bedauern vieler Forschender, denn: Mit dem richtigen Protein lässt sich quasi jede Aufgabe in einem Organismus erledigen.

Proteine nach Maß

David Baker hatte sich schon einige Jahre damit beschäftigt, die Faltungsregeln von Aminosäureketten zu erforschen, als ihm eine Idee kam, wie man Proteine nach Wunsch herstellen könnte, ohne den Bauplan vorher zu kennen. Er entwarf ein Computerprogramm, das in einer Art „Pick-and-Mix“-Verfahren Strukturelemente natürlicher Proteine zum Vorbild nahm und vorschlug, wie die Aminosäurekette für ein Wunschprotein aussehen müsste.
Das funktionierte jedoch erstmal nur mit Strukturen, die auch in natürlichen Proteinen vorkamen. Mit einer größeren Datenbasis und optimierten Computer-Algorithmen gelang es ihm und seiner Gruppe Anfang des Jahrtausends zum ersten Mal, ein komplett neues „Designer-Protein“ herzustellen. Die Gesetze der Faltung von Proteinen hatte er damit aber nicht herausgefunden.

Die Lösung eines alten Rätsels

Dieses Ziel erreichten siebzehn Jahre später Demis Hassabis und John Jumper. Der Brite Demis Hassabis hatte schon als Jugendlicher begonnen, die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz zu erkunden. Als Student in Cambridge wurde er auf den CASP-Wettbewerb aufmerksam, ein Gemeinschaftsexperiment, das junge Bioinformatiker dazu ermutigt, Methoden zur Vorhersage von Proteinstrukturen zu entwickeln.
„Ein Freund von mir war besessen von Proteinen“, erinnert sich der Forscher in einem Beitrag im Deutschlandfunk. Demis Hassabis ließ sich anstecken. Mit dem Team seines Start-ups „DeepMind“ begann er, entsprechende KI-Modelle zu entwickeln. Nach einem anfänglichen Erfolg liefen er und sein Team jedoch in eine Sackgasse. Dem Team fehlte jemand, der alles über Proteine wusste.
John Jumper hatte gerade seine Doktorarbeit abgeschlossen, als er über Gerüchte hörte, dass Google, zu dem DeepMind inzwischen gehörte, jemanden suchte, der sich mit Proteinen auskannte. Er schrieb eine Initiativbewerbung und wurde mehr oder weniger direkt neben Demis Hassabis zum Projektleiter befördert. Gemeinsam überarbeiteten sie den Ansatz so, dass er die Biologie der Proteine detailliert berücksichtigte – ein Riesenerfolg.
AlphaFold2 kann die Strukturen fast aller bekannten Proteine genau vorhersagen. Das sind etwa 200 Millionen verschiedene Moleküle.

Impfstoffe, Umweltschutz und ein antivirales Nasenspray

Obwohl David Baker und das Team von Google DeepMind nie direkt zusammengearbeitet haben, sind die Arbeiten der Forscher eng miteinander verknüpft. Die Kombination aus Vorhersage und Gestaltung hilft dabei, die Funktion von natürlichen Proteinen zu verstehen. Sie erlaubt auch, Proteine zu entwickeln und vorherzusagen, wie sie mit existierenden Molekülen wechselwirken.
Solche maßgeschneiderten Designer-Proteine können alle möglichen Funktionen übernehmen. So wurden in David Bakers Labor bereits Proteine entwickelt, die als Impfstoff dienen können. Ihre Struktur ähnelt der von Antikörpern, durch die das Immunsystem gezielt aktiviert werden kann.
Andere Designer-Proteine beschleunigen chemische Reaktionen, die in der Natur nur langsam oder gar nicht ablaufen würden. Sie könnten dabei helfen, Schadstoffe wie Plastik gezielt abzubauen oder zu recyceln.
Der Fantasie der Forscher sind keine Grenzen gesetzt. David Baker selbst erzählte im Interview mit Journalisten, er hoffe auf ein Designer-Protein-Nasenspray, das vor pandemischen Viren schützen kann.

Proteinliebhaber und Gamer

Der Biochemiker hatte zu Beginn seines Studiums an der Harvard University eigentlich nicht vorgehabt, in die Naturwissenschaften zu gehen. Philosophie und Sozialwissenschaften waren seine erste Wahl.
Mit seiner Forschung zur Herstellung von Proteinen hat er sich seit den 1990er Jahren einen Namen gemacht. Dabei nutzt er gerne unkonventionelle Methoden: Durch das Online-Spiel FoldIT ermöglichte er rund vierhunderttausend Bürgerwissenschaftlerinnen und Bürgerwissenschaftlern, zu seiner Forschung beizutragen – einen Beitrag, den er in wissenschaftlichen Veröffentlichungen gewürdigt hat.
Im Hintergrund auf einer Präsentation sind die Porträts der drei Preisträger für den Chemienobelpreis 2024 zu sehen.
Verkündung der Nobelpreisträger Chemie 2024. (picture alliance / TT NYHETSBYRÅN / Christine Olsson)
Der gebürtige Brite Demis Hassabis gehört auch unter den Nobelpreisträgern eindeutig in die Kategorie Wunderkind. Mit zwölf Jahren erreichte er den Rang eines Schachmeisters und vertrat England auf internationalen Turnieren.
Nach einem Abstecher in die Video-Spiel-Entwicklung promovierte er 2009 in Neurowissenschaften. Aufbauend auf den Erkenntnissen seiner Doktorarbeit gründete er das Unternehmen DeepMind, mit dem er auch das KI-Modell entwickelte, das ihm den Nobelpreis bescherte. Für seine Verdienste auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz wurde er im Frühjahr 2024 zum Ritter geschlagen.
Sein Kollege John Jumper ist mit 39 Jahren der jüngste Nobelpreisträger in Chemie seit 70 Jahren. Im Interview mit der Nobelpreis-Organisation war er von der Verleihung des Preises so überwältigt, dass er fast weinte. „Was ich wunderbar finde, ist die direkte Verbindung zwischen dem, was wir tun, und dem, was Menschen gesund macht“, sagte er.

Zwischen Grundlagenforschung und Anwendung

Der Nobelpreis ist zwar die bekannteste Auszeichnung in der Wissenschaft, aber zu verstehen, was genau ausgezeichnet wird, fällt oft schwer. Kaum jemand weiß ad hoc, was microRNA oder Atto-Sekunden sind, geschweige denn, welchen Nutzen sie haben. Die diesjährigen Auszeichnungen für Chemie und Physik, die etwas prämieren, das bereits im Alltag der Gesellschaft angekommen ist, sind in dieser Hinsicht eher die Ausnahme.  
Dabei hatte Alfred Nobel gerade den unmittelbaren Nutzen der Forschung, die mit dem von ihm gestifteten Preis ausgezeichnet werden sollte, besonders hervorgehoben: Der Preis solle diejenigen würdigen, deren Entdeckung oder Erfindung der Menschheit im vorangegangenen Jahr den größten Dienst erbracht hat. So verfügte er es in seinem Testament.
Als erfolgreicher Industrieller stand der Chemiker Nobel der angewandten Forschung naturgemäß nahe. Er selbst hatte auch nur ein Jahr gebraucht, um seine Erfindung, das Dynamit, von der Laborbank auf den Markt zu bringen.
Das Nobel-Komitee zeichnet allerdings deutlich häufiger Entdeckungen als Erfindungen aus, also Grundlagenforschung. Ehe diese ihren Nutzen für die Menschheit offenbart, geht oft viel Zeit ins Land: 25 Jahre sind es im Durchschnitt zwischen der ursprünglichen Entdeckung und ihrer Würdigung mit einem Nobelpreis.
Die Auszeichnung für Chemie gilt als der Nobelpreis, der am nächsten an der Anwendung ist. Ein Ruf, der sich mit der Auswahl der diesjährigen Preisträger bestätigt: Ihr Modell zur Vorhersage von Proteinstrukturen entwickelten die Laureaten Demis Hassabis und John Jumper erst vor vier Jahren.
Ohne die Arbeit der KI-Pioniere John Hopfield und Geoffrey Hinton, die den diesjährigen Physik-Nobelpreis für Modelle aus den 1980er-Jahren erhielten, wäre diese schnelle Entwicklung allerdings nicht möglich gewesen. Einen Nutzen haben die Preise aber immer, und das ganz unabhängig davon, wie viele Jahre seit einer Entdeckung vergangen sind: Sie rufen in Erinnerung, was Wissenschaft für die Gesellschaft leistet.