Archiv

Nobelpreis für Physiologie/Medizin 2019
Wie Zellen nach Luft schnappen

Wie nehmen Zellen Sauerstoff wahr und wie passen sie sich daran an? Für die Erforschung der dahinterliegenden molekularen Mechanismen geht der Nobelpreis für Physiologie/Medizin in diesem Jahr an drei Wissenschaftler: die US-Amerikaner Gregg Semenza und William Kaelin sowie den Briten Peter Ratcliffe.

Von Lennart Pyritz |
Thomas Perlmann vom Nobelpreis-Komitee stellt in Stockholm die Gewinner des diesjährigen Nobelpreises für Chemie vor, deren Fotos im Hintergrund zu sehen sind: William Kaelin, Gregg Semenza und Peter Ratcliffe
Thomas Perlmann vom Nobelpreis-Komitee stellt in Stockholm die Gewinner des diesjährigen Nobelpreises für Medizin vor: William Kaelin, Gregg Semenza und Peter Ratcliffe (AFP/ Jonathan Nackstrand)
Wer sind die Preisträger?
Ausgezeichnet werden zwei US-amerikanische und ein britischer Forscher. Der 1957 in New York geborene William Kaelin arbeitet am Dana-Farber Cancer Institute der Harvard Medical School. Sein ebenfalls aus New York stammender Landsmann Gregg Semenza, 63, ist Professor an der Johns Hopkins University School of Medicine. Der dritte Preisträger, Peter Ratcliffe, wurde 1954 in Lancashire geboren und hat die jetzt ausgezeichnete Forschung an der Universität Oxford durchgeführt.
Ein Preisträger war zunächst schwer zu erreichen
Das Karolinska-Institut hatte einige Schwierigkeiten, William Kaelin zu kontaktieren. Zunächst habe die Nobelversammlung keine Nummer gehabt. Deshalb sei seine Schwester angerufen worden, die zwei Nummern herausgegeben habe. Bei der ersten erreichte die Versammlung jedoch die falsche Person. Erst bei der zweiten sei das Überbringen der Nachricht dann geglückt. "Das wird nun Teil der Familiengeschichte", sagte Kaelin.
William G. Kaelin im Porträt
William G. Kaelin (AFP/Harvard Medical School )
Gregg Semenzas Faszination für Wissenschaft begann nach eigenen Angaben bereits im Biologie-Unterricht der High School. Nach der Schule ging er an die Universität Harvard, um dort Genetik zu studieren. Als eine Freundin seiner Familie ein Kind mit Down-Syndrom bekam, änderten sich seine Forschungsinteressen: "Diese Erfahrung hat mich mehr in die Richtung der medizinischen Genetik gebracht, als es um den Doktortitel ging. Das war eine große Veränderung für mich." Nach Stationen an der University of Pennsylvania und der Duke University kam Semenza schließlich 1990 zur Johns Hopkins University im Bundesstaat Maryland, wo er seitdem forscht.
Gregg Semenza 
Gregg Semenza (AFP/Johns Hopkins Medicine)
Peter Ratcliffe studierte Medizin an der Universität Cambridge, bevor er sich in Oxford auf Nephrologie spezialisierte. Im Jahr 2014 wurde er für seine Verdienste um die klinische Medizin zum Ritter geschlagen und trägt seitdem den Titel Sir. Mittlerweile ist er auch Direktor für Klinische Forschung am Francis Crick Institute in London.
Peter Ratcliffe im Porträt
Peter Ratcliffe (AFP/Oxford University)


Wie die Zellen den Sauerstoffgehalt regulieren
William Kaelin, Gregg Semenza und Peter Ratcliffe sind Zellforscher. Die Arbeitsgruppen von Semenza und Ratcliffe haben die genetische Regulation des Hormons Erythropoetin, kurz EPO, bei schwankender Sauerstoffverfügbarkeit erforscht. EPO spielt eine wichtige Rolle bei der Bildung roter Blutkörperchen, zum Beispiel beim Bergsteigen in großer Höhe.
Rote Blutkörperchen in der Lunge
Wie die zelluläre Maschinerie auf Sauerstoffmangel reagiert
Verändert sich der Sauerstoffgehalt, verändert sich auch der zelluläre Stoffwechsel. Wie der Körper auf solche Schwankungen reagiert, erforschen nicht nur die Nobelpreisträger sondern auch Michael Fähling an der Charité.
Durch Experimente mit genetisch veränderten Mäusen konnte Semenza zeigen, dass spezielle DNA-Sequenzen neben dem EPO-Gen die Reaktion auf Sauerstoffmangel regulieren. Gemeinsam mit Ratcliffe wies er nach, dass dieser Mechanismus zum Erkennen von Sauerstoff in praktisch allem menschlichem Gewebe steckt. Gregg Semenza identifizierte auch einen Eiweiß-Komplex, der Sauerstoff-abhängig an die DNA-Sequenzen bindet. Er nannte ihn HIF.
William Kaelin hat das sogenannte Von-Hippel-Lindau-Syndrom untersucht. Die genetische Erkrankung erhöht das Risiko für bestimmte Tumore. Seine Forschung machte dabei deutlich, wie ein bestimmtes Gen namens VHL die zelluläre Antwort auf Sauerstoffmangel kontrolliert. Weitere Forschung der Preisträger zeigte dann, wie der Sauerstoffgehalt das Zusammenspiel von HIF und VHL reguliert.
Worin besteht die außerordentliche Leistung?
Sauerstoff spielt eine fundamentale Rolle für alle Lebewesen, um im Körper Nahrung in brauchbare Energie zu verwandeln. Diese wichtige Rolle war seit Jahrhunderten bekannt. Nicht bekannt war allerdings, wie die Zellen des Körpers den Sauerstoffgehalt wahrnehmen und sich an wechselnde Sauerstoffverfügbarkeit anpassen.
Ghofrani über Zusammenarbeit mit Semenza
Internist Ardeschir Ghofrani forscht zu Lungenhochdruck. Mitglieder seiner Arbeitsgruppe haben eine Studie mit Semenza veröffentlicht. Darin sei erstmals eine Verbindung zwischen Lungenkrebs und Lungenhochdruck hergestellt worden, so Ghofrani.
Genau das haben die drei Preisträger mit ihrer Forschung geändert. Sie haben die molekularen Mechanismen entschlüsselt, die die Aktivität von Genen steuern - je nachdem, wieviel Sauerstoff im Körper vorhanden ist. Die Entdeckungen der drei Wissenschaftler hätten "eine fundamentale Bedeutung für die Physiologie und den Weg geebnet für vielversprechende Strategien, um Blutarmut, Krebs und viele andere Krankheiten zu bekämpfen", so das Karolinska-Institut.
Einschätzungen aus der Wissenschaftsredaktion
Michael Lange: "Der Preis hat mich in diesem Jahr überrascht. Das ist ein physiologisches Thema. Die ausgezeichnete Forschung liefert keine direkten medizinischen Heilverfahren. Sie kann der Medizin aber wichtige Hilfestellung im Kampf gegen unterschiedliche Krankheiten geben. Und eines ist klar: Diese molekularen Vorgänge, mit denen die Zellen auf schwankende Sauerstoffverfügbarkeit reagieren, die müssen funktionieren, damit wir leben können. Ich bin also überzeugt, der Preis ist gerechtfertigt – auch wenn ich nicht damit gerechnet habe."
Sauerstoff
Bahnbrechende Forschung
Die drei Zellforscher haben eine Tür für ganz neue Forschungsrichtungen aufgestoßen, erklärt Dlf-Wissenschaftsjournalist Martin Winkelheide. Die Forscher haben festgestellt, dass fast alle Zellen auf Sauerstoff reagieren können.

Martin Winkelheide: "Diese molekulare Maschinerie zu verstehen, ist wichtig, weil es zeigt, wie wir Menschen uns kurzfristig an Sauerstoffarmut anpassen - zum Beispiel, wenn wir uns anstrengen oder Sport treiben. Auf der anderen Seite helfen die Erkenntnisse dabei, Krankheiten besser zu verstehen. Zum Beispiel: Was passiert in Geweben, die akut von der Sauerstoffversorgung abgeschnitten werden, etwa bei einem Schlaganfall? Die Forschung liefert auch neue Ansätze, Krebserkrankungen zu verstehen. Denn Tumore nutzen die zelluläre Maschinerie und programmieren sie um, um neue Blugefäße zu bilden und dann schneller wachsen zu können."
Europa und der Nahe Osten am Tag mit Indien und Südostasien bei Nacht vom Weltraum.
Wie das Leben wurde, was es ist - Sauerstoff formt die Welt
Vor 520 Millionen Jahren tauchten plötzlich große Tiere auf der Erde auf, scheinbar aus dem Nichts. Wissenschaftler rätseln darüber, wie es dazu kam. Könnte die Antwort "Sauerstoff" heißen?
Hintergründe zum Nobelpreis
Der Nobelpreis gilt international als eine der wichtigsten wissenschaftlichen Auszeichnungen. Er ist mit etwa 850.000 Euro dotiert und kann auf bis zu drei Personen verteilt werden. Die Preisträgerinnen und Preisträger in den Kategorien Physiologie oder Medizin, Physik sowie Chemie werden an drei aufeinanderfolgenden Tagen bekanntgegeben. Übergeben werden die Auszeichnungen am 10. Dezember in Stockholm, dem Todestag des Stifters Alfred Nobel.
Nobelpreis 2018 ging an Krebsforscher
Im vergangenen Jahr waren der US-Amerikaner James Patrick Allison und der Japaner Tasuku Honjo mit dem Medizin-Nobelpreis ausgezeichnet worden. Beide Krebsforscher hatten in getrennten Forschungsprojekten Immuntherapien entwickelt, um Tumore zu bekämpfen. Als bislang letzter Deutscher bekam Thomas Südhof im Jahr 2013 den Medizinnobelpreis.