Medizin-Nobelpreis 2024
Auszeichnung für die Entdeckung der microRNA und ihrer Funktion

Mit der Beschreibung der kleinen RNA-Moleküle haben die Preisträger Victor Ambros und Gary Ruvkun einen Prozess der Genregulation erklärt. MicroRNAs steuern die Produktion von Proteinen und sind damit entscheidend für die Entwicklung eines Organismus.

Von Anneke Meyer |
Illustration der beiden Nobelpreisgewinner Victor Ambros und Gary Ruvkun.
Victor Ambros und Gary Ruvkun sind die Gewinner des diesjährigen Nobelpreises für Medizin und Physiologie. (Nobel Prize Outreach / Ill. Niklas Elmehed)
Mit der Beschreibung der kleinen RNA-Moleküle haben die Medizin-Nobelpreisträger Victor Ambros und Gary Ruvkun einen wichtigen Prozess der Genregulation erklärt. MicroRNAs, oder kurz miRNAs, sind in der Lage, die Produktion von Proteinen gezielt zu steuern.

Überblick

Eine neue Art Gene zu steuern

MicroRNAs (miRNAs) sind kleine RNA-Moleküle, die nicht den Bauplan für ein Protein enthalten, sondern die Fähigkeit haben, die Produktion von Proteinen zu beeinflussen. Die kleinen miRNAs binden sich an bestimmte Stellen auf der sogenannten Boten-RNA, die direkt von den Genen abgelesen wird. Dadurch wird Boten-RNA quasi blockiert. Auf diese Weise regulieren miRNAs, wie viel von einem bestimmten Protein produziert wird und ob es überhaupt gebildet wird.
Die beiden Forscher konnten dies zum ersten Mal bei dem Wurm Caenorhabditis elegans beobachten. Der Fadenwurm ist ein beliebter Modellorganismus in der Genetik. Die erste Veröffentlichung ihrer Ergebnisse hinterließ bei Kollegen zunächst wenig Eindruck. Viele dachten bei der Entdeckung handle es sich um eine exotische Besonderheit des Wurms.
Erst durch nachfolgende Arbeiten wurde klar, dass die beiden einen mehr oder weniger universalen Mechanismus entdeckt hatten. Die Genregulation über miRNAs finden in fast allen Lebewesen statt, auch beim Menschen.

Ein Grundstein für neue medizinische Ansätze

Schon vor der Entdeckung von Victor Ambros und Gary Ruvkun wusste man, dass es Mechanismen gibt, die regulieren, wann welche Erbinformation abgelesen wird. Ihre Entdeckung erweiterte diese Idee jedoch um einen wichtigen Baustein.
MiRNAs spielen in vielen biologischen Prozessen eine Rolle, zum Beispiel im Zellwachstum, bei der Entwicklung von Organen und im Immunsystem. Fehlfunktionen in diesen Prozessen können zu Krankheiten wie Krebs führen, was die Bedeutung dieser Forschung unterstreicht. Die Arbeit der beiden Forscher legt den Grundstein für neue medizinische Ansätze, bei denen miRNAs als mögliche Zielstrukturen für Medikamente genutzt werden könnten.
Ihre Entdeckung hat somit nicht nur das Grundlagenwissen in der Biologie erweitert, sondern könnte auch in der Medizin neue Türen öffnen.
Eines der beliebtesten Versuchstiere ist der Wurm Caenorhabditis elegans
Eines der beliebtesten Versuchstiere ist der Wurm Caenorhabditis elegans (APS)

Zwei Mikrobiologen mit dem Blick für das ganz Große

Victor Ambros wuchs in einfachen Verhältnissen auf einer kleinen Farm im US-Bundesstaat Vermont auf. Als Junge las er gerne Biografien von Forschern und Entdeckern. Dabei blieb ihm eine ganz besonders im Gedächtnis: Clyde Tombough, der Entdecker des Pluto, war auch auf einer Farm groß geworden und hatte seine Karriere ursprünglich als Amateur-Astronom begonnen.
Ein Vorbild, das ihn ermutigte, seiner Leidenschaft zu folgen: „Ich möchte Wissenschaftler werden“, mehr schrieb Victor Ambros in sein Motivationsschreiben für das Studium am Massachusetts Institute of Technology in Boston nicht. Nach erfolgreich abgeschlossener Doktorarbeit lernte er dort, am MIT, Gary Ruvkun kennen.
Der gebürtige Kalifornier Gary Ruvkun hatte nach seinem Biophysik-Studium erstmal eine Zeit mit Reisen und Bummeln verbracht. Seine akademischen Ambitionen fand er in einem Stapel alter Ausgaben des populärwissenschaftlichen Magazins „Scientific American“ wieder, das ihm irgendwo in Südamerika in die Hände fiel. „Ich dachte, wow, das ist so cool! Ich glaube, es ist Zeit, nach Hause zu gehen“, erinnerte er sich gerne bei Interviews.
Die beiden Forscher wurden ein gutes Team und Freunde. In einem gemeinsamen Projekt untersuchten sie die genetische Steuerung des damals noch eher ungewöhnlichen Modelorganismus C. elegans. Eine Untersuchung von zwei Gen-Linien, die scheinbar entgegengesetzte Auswirkungen auf die Entwicklung des Wurmes hatten, brachte die beiden auf die Spur der microRNAs.
Ambros und Ruvkun blieben auch nach ihrer Postdoktorandenzeit in engem Austausch, obwohl sie an unterschiedlichen Universitäten arbeiteten. Beide setzten die Forschung an den gegensätzlichen Gen-Linien fort. So kam es, dass Ambros mit seiner Gruppe entschlüsselte, das eines der Gene eine miRNA herstellte und Ruvkun mit seinem Team feststellte, wie sie auf das zweite Gen wirkte. Als sie ihre Ergebnisse verglichen, wussten Sie sofort, sie hatten in diesem so kleinen Wurm etwas ganz Großes entdeckt.

Würdig für mehr als einen Nobelpreis

Der Nobelpreis für Ambros und Ruvkun war eigentlich längst überfällig, sagt der RNA-Biologe Jörg Vogel im Dlf. Tatsächlich hat die Forschung der beiden Pioniere zahlreiche weitere Arbeiten inspiriert. Darunter auch die Erforschung der sogenannten RNA-Interferenz, für die es bereits 2006 einen Nobelpreis gab. Victor Ambros und Gary Ruvkun gingen damals leer aus, obwohl sie die Grundlage für die Entdeckung gelegt hatten.
Eine scheinbare Ungerechtigkeit, die in der Natur der Wissenschaft liegt: Eine Entdeckung ist immer die Folge einer anderen. Naturwissenschaftliche Forschung ist Teamsache. Nur selten werden alle Beteiligten gleichermaßen geehrt.
Die Gewinner des Nobelpreises für Medizin 2024: Victor Ambros (links auf der Leinwand) und Gary Ruvkun.
Die Gewinner des Nobelpreises für Medizin 2024: Victor Ambros (links auf der Leinwand) und Gary Ruvkun. (picture alliance / dpa / Steffen Trumpf)
Das gilt in gewisser Hinsicht auch für die Entdeckung der microRNAs. So betont Victor Ambros in öffentlichen Vorträgen gerne den wichtigen Beitrag von Rhonda Feinbaum und Rosalind Lee zu seiner Entdeckung. Beide sind Co-Autorinnen auf der entscheidenden Veröffentlichung aus seinem Labor. Und: Rosalind Lee ist seit 1976 seine Ehefrau.
Vom berühmten Anruf aus Stockholm wurden Victor Ambros und Gary Ruvkun im Schlaf überrascht. Schuld daran ist die Zeitverschiebung zwischen Schweden und den USA: "Ich konnte Gary Ruvkun wecken", sagte der Sekretär der Nobelversammlung des Karolinska-Instituts, Thomas Perlmann, bei der Bekanntgabe. Victor Ambros habe er aber nicht ans Telefon bekommen. "Ich habe eine Nachricht auf seinem Handy hinterlassen und hoffe, dass er mich bald zurückruft."  

Die bekannteste Auszeichnung in der Wissenschaft

Es gibt zahlreiche Preise für Forschende, aber keiner ist außerhalb der wissenschaftlichen Community so bekannt wie der Nobelpreis. Das liegt auch daran, dass er nicht nur wissenschaftliche, sondern auch gesellschaftlich relevante Themen adressiert.
Der Preis schlägt damit eine Brücke zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, die bis tief in die Popkultur reicht: Von „The Big Bang Theory“ bis zu den „Simpsons“ – zahlreiche Filme und Serien enthalten direkte Referenzen an die noble Auszeichnung.

Inflationsausgleich beim Preisgeld

Ein weiterer Grund für die Berühmtheit des Nobelpreises ist das hohe Preisgeld, das die Ausgezeichneten nach Belieben ausgeben dürfen: elf Millionen schwedische Kronen, das sind rund 970.000 Euro. Die Laureaten erhalten damit im Jahr 2024 einen Inflationsausgleich. 2023 waren es eine Million Kronen weniger gewesen.
In der Vergangenheit haben die meisten Laureaten ihr Preisgeld in Forschungs- oder Bildungsprojekte investiert. Immer wieder haben einzelne Preisträger jedoch auch einen Teil des Geldes für die Erfüllung persönlicher Träume genutzt. Der Medizinnobelpreisträger Richard Roberts ließ sich zum Beispiel in seinem Garten ein großes Croquet-Feld anlegen. Das Geld dafür hätte er sonst nie gehabt, sagte er damals gegenüber dem Magazin „The Scientist“.