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Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch
Literatur, Journalismus oder Geschichtsschreibung?

Es gibt keine Biographie, keine populäre Monographie und keine Doktorarbeit über sie. Die weißrussische Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch wurde wissenschaftlich kaum rezipiert. Nun widmet die Zeitschrift Osteuropa der Autorin eine Ausgabe – und vertritt eine eindeutige These zum Werk.

Von Uli Hufen |
    Journalistin und Autorin Swetlana Alexijewitsch (14.10.2013).
    Die Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch (dpa / picture-alliance / Arno Burgi)
    Als Swetlana Alexijewitsch 2015 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, gab es viel Applaus für diese Entscheidung. Mit ihren fünf zentralen Werken hatte sich Alexijewitsch seit Mitte der 80er Jahre eine nicht sehr große, aber beinah weltweite Fangemeinde, Respekt und Bewunderung erschrieben. Obwohl Fangemeinde vielleicht nicht das passende Wort ist bei Werken, in denen es im Kern immer wieder und beinah ausschließlich um Leid, Tod, Enttäuschung und Angst geht. Es gab aber auch viel Kritik, die sich vor allem an der Frage entzündete, ob ihre Bücher überhaupt Literatur sei oder nicht doch eher Journalismus oder oral history. Swetlana Alexijewitsch bestreitet beides vehement, nicht zuletzt weil sie glaubt, weder Journalisten noch Historiker seien fähig, zum Kern der menschlichen Existenz vorzustoßen.
    "Historiker interessieren sich nur für Fakten. Ich aber sehe die Welt mit den Augen der Menschenforscherin, nicht mit denen eines Historikers."
    Ein Grund für den Streit über den Status von Alexijewitsch Werk liegt darin, dass es bislang keine seriösen Studien dazu gibt. Die neue Ausgabe der Zeitschrift Osteuropa ist darum von eminenter Bedeutung für das Verständnis der Autorin. Eine der zentralen und für die breite Leserschaft wahrscheinlich überraschenden Erkenntnisse der vierzehn hier versammelten Aufsätze liegt darin, dass Alexijewitsch Recht hat: Ihre Text sind Literatur, reine Literatur. Allerdings liegt das nicht daran, dass sie als selbsternannte Menschenforscherin exklusiven Zugang zur Seele von Menschen und zum Wesen einer Epoche hat. Wenn Alexijewitsch Werke Literatur sind, ergreifende, manchmal durch die schiere Intensität des ausgebreiteten Leidens auch fürchterlich ermüdende oder schlicht unerträgliche Literatur und eben keine Geschichtsschreibung, dann liegt das an der sehr speziellen Methode, mit der Swetlana Alexijewitsch all ihre Bücher komponiert hat. Hinter der Methode aber verbergen sich eine Absicht und ein spezifisches Geschichtsbild.
    Der "kleine Mensch" erzählt von sich
    "Ich habe fünf Bücher geschrieben, doch im Grunde schreibe ich nun seit fast vierzig Jahren an einem einzigen Buch. An einer russisch-sowjetischen Chronik: Revolution, Gulag, Krieg - Tschernobyl - der Untergang des roten Imperiums. Ich folgte der Sowjetzeit. Hinter uns liegen ein Meer von Blut und ein gewaltiges Brudergrab. In meinen Büchern erzählt der kleine Mensch von sich."
    Alexijewitsch Bücher handeln von den Erfahrungen sowjetischer Frauen im Zweiten Weltkrieg, vom Afghanistankrieg, von Tschernobyl sowie vom Zusammenbruch der Sowjetunion. Sie sind alle auf dieselbe Art gemacht. Alexijewitsch sucht sich ihr Thema, führt über Jahre Hunderte Interviews mit Personen, die in Afghanistan gedient oder Tschernobyl erlebt haben und montiert dann aus diesen Interviews ihre Bücher. Häufig ist darum von Polyphonie oder von Dialogizität die Rede gewesen, von einem Chor, der da arrangiert werde.
    Dass Swetlana Alexijewitsch ihre Interviews arrangiert, ist offensichtlich. Weniger klar ist, wie stark sie sie bearbeitet. Gleich mehrere Autoren der Osteuropa-Ausgabe zeigen, dass hier von Authentizität im eigentlichen Sinne keine Rede mehr sein kann. Wovon gesprochen werden muss, sind - mit den Worten der Slawistin Anja Tippner -"Effekte des Authentischen".
    "Diskutiert und kritisiert wird der nie offen gelegte Grad der künstlerischen Bearbeitung, der Wahrheitsgehalt der Darstellung, das Verhältnis von auktorialer Rede und Zeitzeugenrede sowie das Verhältnis von historischen Fakten und persönlichen Wahrnehmungen in den Texten."
    Sicher, man kann getrost davon ausgehen, dass Swetlana Alexijewitsch die Menschen, die in ihren Büchern vorkommen, tatsächlich interviewt hat. Was diese Menschen aber wirklich gesagt haben, weiß niemand. Alexijewitsch publiziert keine Transkripte von Interviews, sie archiviert auch die Tonbänder nicht. Bekannt ist allerdings, dass sie Aussagen von Gesprächspartnern oft mehrfach und durchaus sinnverändernd bearbeitet, von Auflage zu Auflage ihrer Bücher. Aleksievič hat daraus selbst nie einen Hehl gemacht.
    "Das Dokument, das ist zum einen das, was mir erzählt wird, und zum anderen bin das auch ich als Künstlerin mit meiner Weltsicht, meinem Empfinden. "
    Und wie steht es mit der viel gepriesenen Polyphonie, der Vielstimmigkeit? Sicher, es sind viele Leute, die da zu Wort kommen. Aber wählt Aleksievič die Stimmen nicht in Wahrheit sorgsam genau so aus, dass sich am Ende eben keine Vielstimmigkeit ergibt? Jedenfalls dann nicht, wenn man darunter widerstreitende Stimmen und Diskussion versteht? Unter den Befragten in Aleksievičs letzten Buch Secondhand Zeit zum Beispiel findet sich niemand, dessen Leben nach dem Ende der Sowjetunion eine positive Entwicklung genommen hätte, obwohl es solche Leute selbstredend in großer Zahl gibt. Der Historiker Clemens Günther spricht in diesem Zusammenhang von Aleksievičs "Wunsch, die Erinnerung zu homogenisieren". Anja Tippner resümiert:
    "Den Anspruch authentische Stimmen und ein verlässliches Bild der Geschichte zu vermitteln, können ihre Texte am Ende nicht einlösen. "
    Das mag wie vernichtende Kritik klingen, ist aber ganz anders gemeint. Keinem der Autoren in Osteuropa geht es darum, Aleksievič oder ihre Bücher schlecht zu machen. Es geht darum zu verstehen, was sie tut und was nicht, um dann fragen zu können: mit welcher Absicht?
    Der Mythos vom "Roten Menschen"
    In gut sowjetischer Manier - und das ist nicht ironisch gemeint - steckt hinter Alexijewitschs Schreiben eine pädagogische Absicht. Jedes Buch soll ein Beitrag zur Veränderung der Gesellschaft sein und zu Alexijewitsch Weltsicht bekehren. An dieser fallen vor allem zwei Aspekte ins Auge. Da ist zum einen die an Dostojewskij geschulte Überzeugung, dass Leben Leiden ist. Wie eine junge Frau auf eine solche Idee kommen konnte, die nach dem Zweiten Weltkrieg in den blutgetränkten Trümmerlandschaften der westlichen Sowjetunion aufwuchs, das verwundert kaum. Erstaunlich ist nur, dass Alexijewitsch glaubt, Russland habe dieses Leiden quasi exklusiv:
    "Der Kommunismus hatte einen aberwitzigen Plan – den alten Menschen, den alten Adam, umzumodeln. Und das ist gelungen. Es ist vielleicht das Einzige, was gelungen ist. In etwas über siebzig Jahren ist ein neuer Menschentyp entstanden: der Homo sovieticus."
    Der Historiker Klaus Gestwa zeigt in einem der besten Aufsätze des Bandes, woher das Konzept vom Homo Sovieticus kommt, warum es vor allem unter sowjetischen Intellektuellen der Perestroika-Zeit weit verbreitet ist und welche Probleme damit verbunden sind.
    "Der homo sovieticus ist definitorisch in einem Zivilisationsdiskurs verwurzelt, bei dem vor dem Hintergrund eines idealisierten Westens auf die Sonderstellung der Sowjetunion und Russlands gepocht und damit das schon aus dem 18. und 19. Jahrhundert überlieferte Rückständigkeitsparadigma aktualisiert wird."
    Gestwa ist besorgt darüber, dass die "eindimensionale Meistererzählung einer unentrinnbaren Untertanenkultur" durch eine unkritische Rezeption von Alexijewitsch Werk ihren Weg in Wissenschaft und Öffentlichkeit findet. Wahrscheinlich weiß er auch, dass das längst geschehen ist. Besonders in Deutschland ist die Vorstellung vom ewig rückständigen Russland schon immer auf fruchtbaren Boden gefallen.
    Bleibt die Frage, ob Alexijewitschs Werk verliert, wenn sich zeigt, dass das ihm zugrunde liegende Weltbild "unterkomplex" ist. Die Antwort muss wohl "nein" lauten. Niemand der auch nur ein paar Seiten ihres Meisterwerks "Tschernobyl - Eine Chronik der Zukunft" gelesen hat, wird den Eindruck je vergessen. Ganz im Gegenteil könnte es sich noch als Gewinn für Swetlana Alexijewitsch erweisen, wenn wir ihre Bücher entgegen ihrer eigenen Intention lesen: Weder als Chronik eines "Roten Menschen" noch als Ersatz für eine aufgeklärte Geschichte der Sowjetunion. Die leidvollen Erfahrungen, die sowjetische Menschen im Zweiten Weltkrieg, in Afghanistan oder nach Tschernobyl gemacht haben waren historisch spezifisch. Aber jeder amerikanische Vietnamveteran, jeder Überlebende von Bhopal oder Fukushima und jede Frau, die je ihren Sohn im Krieg verloren hat, wird sich darin wiederfinden. Und unzählige andere auch. Ob Alexijewitsch will oder nicht: Die sowjetischen Erfahrungen sind vergleichbar. Sie sind universell.
    Osteuropa 1-2/2018: Nackte Seelen. Swetlana Alexijewitsch und der "Rote Mensch"
    Herausgegeben von Manfred Sapper, Anja Tippner & Volker Weichsel
    240 Seiten, 20 Abb., 22 Euro