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Noch nicht im Zeichen von Glasnost

Michail Gorbatschow hatte bereits begonnen, die Politik der Sowjetunion umzugestalten, als sich im April 1986 die Katastrophe von Tschernobyl ereignete. Er setzte sich für einen Prozess gegen die Hauptverantwortlichen ein, der allerdings noch nicht dem Geist von Glasnost enstprach. Am 29. Juli 1987 wurde das Urteil verkündet.

Von Klaus Kuntze |
    O-Ton aus dem Hörspiel "Sarkophag": "KKW-Leiter: "Ich bin der Leiter des Kraftwerks."
    Staatsanwalt: "Ich habe nur ein paar Fragen."
    KKW-Leiter: "Sie suchen einen Sündenbock? Daraus wird nichts. Es hat keinen Zweck, dass Sie mich beschuldigen wollen. Man wird mich absetzen, das steht fest, aber vor Gericht? In diesem Fall müssten viel zu viele vor Gericht ... Das würde eine Kettenreaktion auslösen, und ob man die wieder zum Stehen bringt …""

    Viktor Brjuchanov – hier in einem dokumentarischen Hörspiel – kam doch vor Gericht. Ihm, dem Leiter des Kernkraftwerks Tschernobyl und fünf seiner Mitarbeiter wurde vorgeworfen, Verantwortung für das Unglück vom 26. April 1986 zu tragen. In jener Nacht war in Tschernobyl Reaktor 4 während einer Versuchsphase außer Kontrolle geraten und explodiert: Es hatte Todesopfer gegeben, zu den Folgen zählen seither Strahlenerkrankungen, radioaktiv verseuchte Böden, besonders in der Ukraine, Russland und Weißrussland.

    Durch zögerliche und verschleiernde Information drohte auch Michail Gorbatschows neue sowjetische Politik in den Sog des Reaktorunfalls zu geraten. Der Generalsekretär steuerte dagegen.

    "Es versteht sich, dass, nachdem die Ursachen der Havarie analysiert worden sind,alle notwendigen Schlussfolgerungen gezogen und Maßnahmen eingleitet werden, die eine Wiederholung des Geschehenen ausschließt."

    Bernt Knabe, Osteuropa-Historiker:

    "Es kriselte an allen Ecken des Landes, auch ein neues Demokratieverständnis machte sich breit und Gorbatschow versuchte, sich hier durch zu lavieren und einen neuen Kurs der Perestrojka, der Glasnost zu fahren. Er hatte natürlich innenpolitisch zu tun mit Rivalen im Politbüro, das ja damals das entscheidende Kraftzentrum war. Es gab aber auch ein anderes Machtzentrum, das war natürlich die Militärführung, das war der Staatssicherheitsdienst, also der KGB, und insofern war es für das Gericht außerordentlich schwierig, hier einen bestimmten Weg zu gehen."

    Wie weit Glasnost gehen durfte, hatte das Politbüro der Kommunistischen Partei vorgeschrieben, noch ehe das Verfahren beim Obersten Gerichtshof der UdSSR überhaupt begann.

    "Aufgrund der Tatsache, dass die Massenmedien über die Havarie im KKW Tschernobyl ausführlich informiert haben, ist es nicht nötig, detailliert über den diesbezüglichen Gerichtsprozess zu berichten."

    Journalisten durften noch dabei sein, als der Untersuchungsbericht verlesen wurde und als die sechs Angeklagten sich für nicht schuldig erklärten. Aber es gab keine Öffentlichkeit mehr bei den Zeugenvernehmungen, bei den Plädoyers der Staatsanwälte und der Verteidigung. Und nur wenige wurden drei Wochen später, am 29. Juli 1987, zur Urteilsverkündung zugelassen. Der Journalist Hans-Joachim Deckert:

    "In seiner Urteilsbegründung erklärte der Vorsitzende, im Kernkraftwerk habe eine Atmosphäre mangelnder Kontrolle und der Verantwortungslosigkeit geherrscht. In den Schichten hätten die Mitarbeiter Karten und Domino gespielt und ihre private Post erledigt."

    Das Urteil erfolgte nach einem ukrainischen Gesetzesparagrafen.

    "Verstoß gegen die Sicherheitsvorschriften in explosionsgefährdeten Anlagen, der den Verlust von Menschenleben und andere schwere Konsequenzen nach sich zieht."

    Zehn Jahre Arbeitslager verhängte das Gericht gegen den KKW-Leiter sowie gegen die beiden Chefingenieure Fomin und Djatlow. Weitere Angeklagte erhielten drei bzw. zwei Jahre Haft. Hans-Joachim Deckert aus Moskau:

    "Die Agentur TASS brauchte Stunden, um eine fünfzeilige Meldung herauszubringen. Die Tagesschau des sowjetischen Fernsehens erwähnte das Urteil mit keinem Ton."

    Fehlanzeige für Glasnost – ein Punkteverlust für Gorbatschow.

    Bernt Knabe: "Auch später sind die Prozessakten nicht veröffentlicht worden. Es ist davon auszugehen, dass es doch hier auch um Berührungen zur militärischen Nutzung der Kernenergie im Kraftwerk von Tschernobyl gegangen ist. Aber die konkreten Einzelheiten der Schuldfrage, des technischen Know-how des Kraftwerkes, was offenbar ja unzureichend war, darüber ist die Öffentlichkeit nicht informiert worden. Und es ist nach wie vor festzuhalten, dass verantwortliche Funktionäre in leitenden Funktionen, die also damals schuldhaft gehandelt haben zum Nachteil der Bevölkerung, nicht zur Rechenschaft gezogen sind. Es hat also einige Parteiverfahren gegeben, sehr viel mehr aber auch nicht."