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"Nocturnal Animals" von Tom Ford
Zwischen Wachen und Schlafen

In dem Film "Nocturnal Animals" lässt Regisseur Tom Ford seine Protagonisten in zwei Welten agieren, die nicht weiter voneinander entfernt sein könnten: die Künstlergemeinde in Los Angeles und die sonnenverbrannte texanische Wüste. Welche der beiden Geschichten real ist und welche Fantasie, bleibt bis zuletzt spannend.

Von Hartwig Tegeler |
    Das Ensemble von Nocturnal Animals bei der Premiere in Venedig auf dem roten Teppich: (V.l.n.r.) Jake Gyllenhaal, Robert Salerno, Aaron Taylor Johnson, Amy Adams, Tom Ford und Ellie Bamber
    Das Ensemble von Nocturnal Animals bei der Premiere in Venedig mit Regisseur Tom Ford: (V.l.n.r.) Jake Gyllenhaal, Robert Salerno, Aaron Taylor Johnson, Amy Adams, Tom Ford und Ellie Bamber (picture alliance / dpa / Claudio Onorati)
    Und wenn wir sie als real ansehen, dann sehen wir zwei Welten, die nicht weiter voneinander entfernt sein könnten: Susan in Los Angeles - Tony auf dem Highway. Die Künstlergemeinde in Los Angeles und die sonnenverbrannte texanische Wüste.
    Susan, Galeristin, kalte, emotionslose Welt. Susan, schön, gestylt.
    "Du hast wieder nicht geschlafen, oder?"
    Ich schlafe nie, sagt Susan - gespielt von Amy Adams. "Mein Ex-Mann hat immer gesagt, ich sei nachtaktiv, ein nocturnal animal"
    "Welcher Ex-Mann? Ich wusste nicht, dass du einen Ex-Mann hast."
    Lange her. 20 Jahre. Susans Uni-Zeit. Sie verließ Edward - Jake Gyllenhaal. "Er war Autor. Ich hatte kein Vertrauen zu ihm."
    Geschichte eines Romans wird im Film erzählt
    Und dann ist in der Post ein Roman von Edward mit dem Titel "Nocturnal Animals". Susan fängt an, diese Geschichte über Tony in einer ihrer schlaflosen Nächte zu lesen. Und dann - Umschnitt - sehen wir, wie Tony - ebenfalls gespielt von Jake Gyllenhaal - zusammen mit Frau und Tochter auf einem nächtlichen texanischen Highway von einem Redneck-Trio überfallen wird. "Nocturnal Animals"? Nächtliche Monster?
    "Sie wissen, Sie müssen bei einem Unfall anhalten, oder?"
    "Ja, das weiß ich." - "Und warum haben sie nicht gehalten?"
    Bedrohung, Entführung, Mord, und ein Mann, der seine Frau und seine Tochter nicht schützen kann und allein zurückbleibt. Nicht wissend, wo er mit seiner kalten Wut, mit seinem Rachedurst bleiben soll. Das ist die Geschichte des Romans "Nocturnal Animals", den wir im Film "Nocturnal Animals" erzählt bekommen, um dann wieder, nach dem nächsten Schnitt, Susan bei der Lektüre zu sehen in ihrer gestylten Villa in ihrem kalten, exquisiten Leben.
    Spannend und gleichzeitig verwirrend
    Man wird nicht ganz falsch liegen anzunehmen, dass Tom Ford, Modedesigner, jetzt Filmemacher, die Welt der Kunstbranche, die er in seinem zweiten Film beschreibt, am eigenen Leib erfahren hat: ausgetriebenes Leben; Flucht in Kunst und Künstlichkeit.
    In der Anfangssequenz von "Nocturnal Animals" beispielsweise eröffnet Susan, die Galeriebesitzerin, eine Ausstellung mit Videoinstallationen, die sehr fette, nackte alte Frauen zeigt. Aber das löst nichts aus bei den Besuchern, nicht mal einen Schock oder Ekel, nur wohliges Raunen und Erstaunen der Besucher. Interessant! Und doch - das ist die einzige Hoffnung, die Tom Ford seiner Figur zugesteht - löst die dunkle Geschichte ihres Ex-Mannes in dessen Roman eine Erschütterung aus, die sie lange nicht kannte.
    Susans Leben in L.A. wie das Grauen des Ehemannes im tiefen Texas - beide Geschichten, beide Erzählungen sind für uns, die wir sie sehen auf der Leinwand, gleich real, gleich fiktiv. Verwirrend ist das, aber auch spannend. Ist eine Realität in diesem Film realer als die andere? Will Edward sich an Susan mit seiner Geschichte dafür rächen, dass die ihn verlassen? Will Edward mit seiner Geschichte Susan zurückgewinnen? Der Moment, wenn der Schriftsteller sich mit seiner Ex-Frau verabredet, könnte diesen Eindruck erwecken.
    Film beharrt auf seinem Geheimnis
    Wenn Susan sich dann auf den Weg zum Treffen macht, im Restaurant sitzt, hofft sie - hoffen wir gar? -, dass Edward kommt. Wird er kommen? Ein wenig wirkt dieses Filmbild von Tom Ford wie Edward Hoppers ikonographisches Gemälde "Nighthawks". Gefühl von Einsamkeit. Aber immerhin ein Gefühl. Das ist das, was passiert, wenn man "Nocturnal Animals" sieht: Die Gedanken, die Phantasien, die Empfindungen fangen an, umher zu schweifen. Vielleicht haben wir ja etwas ganz anderes erzählt bekommen: Susan kann nicht schlafen, aber ist sie wirklich wach?
    Eine Zeichnung von Goya heißt: "Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer". Gebiert auch Susans Phantasie in diesem merkwürdigen Wahrnehmungsbereich zwischen Wachen und Schlafen solch nächtlichen Ungeheuer, "nocturnal animals". Oder - das ist das Wunderbare an Tom Fords Film: Er beharrt auf seinem Geheimnis. Was für ein Kino-Geschenk mit einer grandiosen Amy Adams und einem nicht minder großartigen Jake Gyllenhaal in den Hauptrollen.