Ein Genosse hat noch irgendwo eine SPD-Fahne aufgetrieben und befestigt sie mit Klebestreifen auf einem behelfsmäßig errichteten Podium. Einige andere bauen immer weitere Stuhlreihen auf, weil der Andrang viel größer ist als erwartet. So etwas habe er in zehn Jahren SPD noch nicht erlebt, sagt einer. Während nur rund 500 Meter Luftlinie entfernt im Willy-Brandt-Haus Parteichef Martin Schulz entkräftet aufgibt, sich das Parteipräsidium behäbig durch die neueste Personalpanne wurschtelt und nach Protesten doch nicht Andrea Nahles zur Nachfolgerin macht, wirkt die SPD hier in einem kleinen, klapprigen Kreuzberger Kulturzentrum so frisch wie eine Graswurzelorganisation. Was in der Parteispitze passiert, kann hier an der Basis kaum jemand verstehen.
"Dass Posten verschachert werden, wer jetzt welches Amt bekommt, das finde ich schon sehr erschreckend."
"Das ist wieder so eine Hinterzimmerentscheidung."
"Das, was oben in der Parteiführung passiert, ist garantiert kein politisches Glanzstück."
"Ich glaube, dass viele Menschen im Willy-Brandt-Haus einfach in ihrer eigenen Blase leben und vielleicht gar nicht mehr wissen, wie kontrovers Politik außerhalb des Willy-Brandt-Hauses oder außerhalb der großen Koalition diskutiert wird."
Kampagne lockt Tausende neue Mitglieder
Und Politik kontrovers diskutieren, das wollen sie an diesem Abend. Grund für den Auflauf ist Kevin Kühnert. Der macht Station mit seiner NoGroKo-Tour. Der Juso-Chef will die Genossen davon überzeugen, beim Mitgliederentscheid gegen die Große Koalition mit der Union zu stimmen. Seine Kampagne gegen die Neuauflage der schwarz-roten Bundesregierung hat Tausende neue Mitglieder in die SPD gelockt und einige von ihnen sind an diesem Abend gekommen.
"Ich bin 59 Jahre alt, war noch nie in einer Partei. Ich bin eingetreten, um nein zu sagen."
Und Kühnert gibt sich beste Mühe, um auch die Unentschlossenen unter den Anwesenden auf seine Seite zu locken.
"Den Koalitionsvertrag zu betrachten, so wie er jetzt ausgehandelt ist, ist die eine Sache. Die andere ist, dass er ja umgesetzt werden muss in einer praktischen Zusammenarbeit in den nächsten dreieinhalb Jahren. Und da stellen sich mir große Fragezeichen, auch nach den Erfahrungen, die wir in der Zusammenarbeit mit der Union mindestens mal in den letzten vier Jahren gemacht haben. Die Union hat sich zuletzt nicht mehr präsentiert als ein Koalitionspartner, mit dem vertragstreues, solides Arbeiten möglich war."
Applaus - aber auch Widerspruch
Die SPD, sagt Kühnert, dürfe sich nicht wieder im Klein-Klein des Koalitionsbetriebs verlieren, sondern müsse die großen Fragen aufwerfen, für die sie stehe, die Zukunft der Rente zum Beispiel oder den Wandel der Arbeitswelt. Und die Genossen dürften sich ja nicht einreden lassen, dass sie mit dem Nein zur Großen Koalition der Partei und dem Land schadeten.
"Wenn wir so Politik machen, auf Basis von solchen Angstszenarien, dann können wir den Laden schon vor dem Votum zumachen, liebe Genossinnen und Genossen."
Den Applaus hat Kühnert oft auf seiner Seite, doch ganz einfach machen es ihm die Genossen nicht. Der beliebte Juso-Chef erntet auch engagierten Widerspruch:
"Was wird besser, wenn wir sagen, wir machen da nicht mit, wir verzichten auf eine strategisch interessante Position, nämlich dass wir jetzt plötzlich mal das Finanzministerium haben und da Druck ausüben können und die Chance haben zu regulieren. Ob wir sie dann nutzen werden, weiß ich nicht."
"Wenn es doch so ist, dass in allen anderen europäischen Ländern die sozialdemokratischen Parteien am Boden liegen und an Macht verlieren, warum sollten wir das jetzt in dieser Zeit aus der Hand geben?"
Leidenschaftliche Basis
Kühnerts Genossen in Kreuzberg diskutieren nicht nur oberflächlich über die GroKo, sie hadern mit der Zukunft ihrer Partei und sie sind fit in Fachragen, vom Rückkehrrecht in Vollzeitbeschäftigung über Europapolitik bis hin zu Rüstungsexporten. Noch als Kühnert schon die Lider schwer werden, reiht sich im Publikum Frage an Frage. Hier macht die SPD wahr, was viele immer wieder fordern: über Inhalte zu sprechen und nicht über Personalfragen. Ob die GroKo die richtige Wahl ist oder nicht, entscheidet sich nicht an diesem Abend. Doch eine Botschaft sendet die SPD aus Kreuzberg: Eine Partei, deren Basis so leidenschaftlich streitet, kann noch nicht ganz erledigt sein.