"Wir gehen mal zur Muskulatur. Wir sehen hier die Muskulatur am Hals zum Beispiel. Und man kann weitergehen, bis nur noch Knochen da stehen oder Blut und Blutgefäße."
Klaus Engel hält einen Tablet-Computer in der Hand. Zu sehen ist ein Schädel in 3D, das Bild gestochen scharf. Engel wischt über den Touchscreen, der Kopf dreht sich, dann zoomt der Siemens-Forscher ins Bild hinein – eine virtuelle Reise ins Schädelinnere. Die Aufnahme stammt von einem Computertomographen. Eigentlich liefert der Scanner nur Schichtbilder in Schwarzweiß. Aus diesen Rohdaten machen die Forscher etwas Spektakuläres.
"Wir schaffen es, aus diesen dreidimensionalen Daten, die von medizinischen Scannern gewonnen werden, sehr fotorealistische Bilder zu erzeugen."
Programme, die Schichtbilder aus einem CT- oder auch MR-Scanner in farbige 3D-Bilder umrechnen, gibt es schon länger. Dabei wird vereinfacht gesagt durch jedes Pixel, jeden Bildpunkt, ein virtueller Lichtstrahl geschickt, und am Ende werden die Lichtstrahlen aller Pixel aufaddiert. Anders bei der neuen Siemens-Software, sagt Engels Kollege Robert Schneider.
"Bei dem Verfahren, was wir jetzt verwenden, schicken wir Tausende Strahlen pro Pixel durch. Das ist ein mathematisch extrem anspruchsvolles Verfahren. Die Komplexität ist um einen Faktor 1000 höher als die Komplexität von den Standardverfahren, wie wir sie bisher gekannt haben."
Wissenschaftler berücksichtigen das gesamte Innenleben
Ein Algorithmus, wie er auch bei aufwendigen Hollywood-Produktionen zum Einsatz kommt – weshalb die Forscher von Cinematic Rendering sprechen. Allerdings ist das für medizinische Bilddaten um einiges anspruchsvoller als bei digitalen Leinwandhelden.
"Wenn man sich mal anschauen würde, wie so ein Hollywood-Charakter, jemand wie zum Beispiel Gollum aus Herr der Ringe, wirklich aussehen würde, würde man merken, wenn man den aufschneidet: Der ist innen hohl! Der hat gar kein Innenleben, keine Organe, keine Knochen. Sondern der wird als Hülle modelliert. Weil das ist das einzige, was man im Film von ihm sieht."
Im Gegensatz dazu müssen die Wissenschaftler das gesamte Innenleben des Körpers berücksichtigen – Muskeln, Organe, Knochen und Sehnen.
"Und wir müssen die Licht-Interaktion mit diesem kompletten Körper berechnen. Wir konnten also nicht eine Software aus Hollywood einsetzen, sondern mussten wirklich unser eigenes Verfahren entwickeln."
Das Ergebnis ist beeindruckend. Knochen, Blutgefäße, Organe – alles erscheint in fotorealistischer und geradezu cineastischer Bildqualität. Und da die Bilder stets in Echtzeit errechnet werden, kann man nach Herzenslust mit den Aufnahmen herumspielen.
"Ich kann hier einfach mit dem Finger den Datensatz drehen, von allen Seiten anschauen. Ich kann Bereiche wie die Muskulatur und die Haut ausblenden, um nur noch die Knochen zu sehen und die Blutgefäße im Schädel, die Sie hier sehen."
Ein interaktiver Anatomie-Atlas
Das neue Verfahren ist bereits in eine Radiologie-Software von Siemens integriert. Und am Ars Electronica Center in Linz nutzt es der Mediziner Franz Fellner, um Innenansichten des menschlichen Körpers publikumswirksam zu präsentieren - weshalb Fellner gemeinsam mit Engel und Schneider für den Deutschen Zukunftspreis nominiert ist. Doch die Methode ist für mehr zu gebrauchen, meint Klaus Engel. Etwa als interaktiver Anatomie-Atlas fürs Medizinstudium, der Sezierkurse ergänzen oder zum Teil sogar ersetzen könnte.
"Anatomie-Ausbildung an Leichen - da steht man vor Problemen mit der Beschaffung und Beseitigung der Leichen. Und die Anatomie ist natürlich nicht so wie beim lebenden Menschen. Und das wird jetzt ermöglicht durch das Cinematic Rendering."
Eine weitere Zielgruppe: Chirurgen, die das neue Visualisierungsverfahren für die Operationsplanung nutzen.
"Diese Informationen sind für einen Chirurgen extrem wichtig. Sie wollen sich vor einer OP genau vorstellen, wie die Anatomie eines Patienten aussieht, um optimal vorbereitet zu sein auf den chirurgischen Eingriff."
Die Chirurgen dürften sich auch für das interessieren, was Engel und Schneider derzeit in ihrem Labor entwickeln: Sie übertragen ihr Verfahren auf eine VR-Brille, ein klobiges Brillengestell zum Eintauchen in eine virtuelle Welt. Robert Schneider hat sich einen Prototyp aufgesetzt.
"Ich sehe nun das virtuelle Hologramm eines Kopfes, eingebettet in die Realität, in diesen Office-Raum. Der Kopf schwebt einen Meter direkt vor mir. Ich gehe jetzt ran, bin ungefähr zehn Zentimeter vor den Augen des Patienten. Man hat den Eindruck, ein Kopf würde real vor einem schweben."
Noch ist die Bildqualität im VR-Modus nicht optimal, aber das dürfte sich mit besserer Hardware bald ändern. Und dann könnten Chirurgen mit solchen Brillen am OP-Tisch stehen, durch die sie ihren Patienten sehen und gleichzeitig das 3D-Röntgenbild aus dem CT-Scanner.