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Nora Bossong: "Schutzzone"
Das Elend des Diplomatenexils in Zentralafrika

Nora Bossongs facettenreicher Roman "Schutzzone" schildert das Leben einer UN-Mitarbeiterin zwischen Privatem und Politischem, Bürokratie und Blauhelmeinsatz, europäischer Mentalität und afrikanischer Realität. Eine wichtige und anspruchsvolle Lektüre.

Von Wolfgang Schneider |
Autorin Nora Bossong bei Vorwaerts auf der Frankfurter Buchmesse. Frankfurt, 15.10.2015. Frankfurt Deutschland PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY Copyright: xMichaelxGottschalkx Author Nora Bossong at forward on the Frankfurt Book Fair Frankfurt 15 10 2015 Frankfurt Germany PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY Copyright xMichaelxGottschalkx
Mit "Schutzzone" erreicht Nora Bossong eine neue Stufe ihres Könnens (imago stock&people / Michael Gottschalk)
Der Kolonialismus, eine politische Sünde, hat die Literatur zweifellos bereichert. Und sei es nur um den Exotismus des Tropenkollers. In lähmender Hitze löst sich das abendländische Individuum auf, und mit ihm die Begriffe von Raum und Zeit. Alle Ambitionen zerfließen unter afrikanischer Sonne. Und wenn erst die tropische Dunkelheit hereinbricht, packt den europäischen Reisenden namenlose Angst; seine Nächte unter Moskitonetzen sind schlaflos. Oder voller Albträume. Sei gegrüßt, du Herz der Finsternis, bewährte Umlaufpumpe des Grauens.
So oder ähnlich wurde es immer wieder beschrieben in der Literatur, wenn Europäer der Welt abhanden kamen in den fernen Kolonien mit ihren fatalen Verlockungen. Nora Bossong greift dieses Motivarsenal nun auf in ihrem Roman über eine Mitarbeiterin der Vereinten Nationen, die es nach Burundi verschlägt – und führt es weiter, in zeitgemäß postkolonialer Form.
"Manche hockten nächtelang unter den Leuchtstoffröhren der Bar, jahrelang, aufgetaucht aus irgendeinem Nirgendwo der westlichen Welt, mit dem sie nicht klargekommen waren, oder aber sie waren dem ersten Moment dieses Ortes erlegen, in dem es keine Richtung gab und die Zeit nicht verging… Für Menschen wie mich hörte das Zeitempfinden an diesem Ort auf. In Europa hatte ich über die Zukunft nachgedacht, hier hatte ich keine Zukunft, niemand hatte das… Wir saßen an den Tischen der Bar, reglos in unserer Umgebung verschwindend wie die Falterschwärme, die im Krankenhaushof alle Wände bevölkerten."
Die angereisten Friedensstifter, Entwicklungshelfer und Wahrheitsforscher leben in einem verkrachten Paradies. In ihren Büros wird die schwüle Luft vom "Ventilator schlapp aufgewirbelt", und nach Feierabend hängen sie ab unter Palmen am Pool. Sorgfältig abgezäunt und bewacht, starren sie ins türkisblaue Wasser und äußern desperate Gedanken, die in ihren Berichten besser nicht auftauchen. Gelegentlich fährt ihnen der Schreck in die Glieder, etwa wenn in einem so fabel- wie farcenhaften Kapitel des Romans bei einem Botschafter-Essen plötzlich Schüsse zu hören sind und hastig Türen und Fenster verbarrikadiert werden. Dann waren es aber nur die Kinder eines Geschäftsmanns, die noch ein paar Silvesterknaller übrig hatten.
Schon in früheren Werken, insbesondere den Romanen "Webers Protokoll" und "36,9°", hat Nora Bossong sich mit der vertrackten Welt der Diplomatie und dem Spannungsverhältnis zwischen dem Feingebäck gesellschaftsphilosophischer Ideen und dem Graubrot der politischen Wirklichkeit befasst. Von diesem Spannungsverhältnis lebt nun auch ihr Roman "Schutzzone", mit dem die Autorin eine neue Stufe ihres Könnens erreicht.
Eine komplexe Hauptfigur
Die Ich-Erzählerin Mira Weidner, Mitte der achtziger Jahre geboren, ist eine undurchsichtige Figur. Anders als ihre Freundin und zwischenzeitliche Geliebte Sarah, eine enttäuschte Idealistin, die mit ihrer Kühltasche voller Medikamente herumreist, um vergewaltigte afrikanische Frauen vor HIV-Infektionen zu bewahren, wird Mira eben nicht von Weltretter-Idealen angetrieben. Sie wirkt eher zurückgenommen, eine scharfe Beobachterin, die gerne auch mal die Spuren der Zerstörung ins Auge fasst und für makabre Pointen zu haben ist. Ihre eigene Kindheit ist beschädigt, und vielleicht ist es gerade ihr Grundgefühl der Schutzlosigkeit, das sie im Auftrag der UN in die "Schutzzonen" getrieben hat. Sie ist eine Verletzte, die auch andere verletzen kann. Wo sie liebt, entstehen Wunden; da ist sie durchaus kein Friedenengel. Eine komplex angelegte Hauptfigur also, auch für ihre Chefs nicht leicht zu durchschauen. Einer meint ihr gegenüber einmal:
"Bei ihnen habe ich mich immer gefragt, was sie der Welt eigentlich mitteilen wollen.
Ich? Nichts. Gar nichts.
Boucheron nickte. Das gefällt mir, sagte er. Manche, wissen Sie, wollen der Messias sein, wenigstens der Erzengel Michael, der den Teufel gestürzt hat. Ich höre immer das Rascheln von Flügeln, wenn ich an diesen Leuten vorbeigehe, aber wenn ich mich umdrehe, ist es nur eine Anzughose, die nicht gut sitzt."
Es gibt in diesem Roman viele solcher lässigen Pointen, in denen die Differenz zwischen Ideal und Wirklichkeit zur Geltung kommt.
Nach einer Zeit New York ist Genf zu Miras Arbeitsplatz geworden, Genf, die Stadt, in der auch die Menschenliebe mondän ist, wie es heißt. Mira verbringt ihre Feierabende allerdings in einem wenig mondänen Apartment in einer Trabantenstadt für Funktionäre; viele wohnen dort, keiner ist zuhause. Es lohnt sich nicht, anzukommen – man ist doch eh bald wieder in Teheran oder Nairobi. Tatsächlich sehnen sich viele nach den Außeneinsätzen, weil es sich in den gläsernen Büropalästen der europäischen und amerikanischen Zentralen auf Dauer schwer aushalten lässt. Manche entwickeln geradezu eine Sehnsucht nach Kriegen und Krisengebieten.
Schauplatz Burundi
Nun also Burundi, eine sinistre Region, wie geschaffen, um die Bemühungen der Vereinten Nationen in die Perspektive der Vergeblichkeit zu rücken. Willkür, Gewalt, Folter – alles ist hier besonders gründlich ausgeprägt. Das dicht besiedelte Land – die Geburtenrate liegt bei sechs Kindern pro Frau – wird im Roman als drittärmstes der Welt bezeichnet. Es ist zudem ein Land, in dem es unendlich viel aufzuarbeiten gibt, vor allem drei Völkermorde aus den Jahren 1972, 1988 und 1993. Wie in Ruanda ist ihr Hintergrund die Verfeindung zwischen den Volksgruppen der Hutu und Tutsi. Weil das Durchschnittsalter in Burundi 16 Jahre beträgt, ist die große Mehrheit im Land inzwischen allerdings nach den Völkermorden geboren, und die durch die Gewalt dezimierte ältere Generation ist zu schmal aufgestellt, um in einer so jugendlichen Gesellschaft das historische Gedächtnis aufrecht zu erhalten. Viel zu tun also für die "Wahrheitskommission" der UN.
Diplomatische Verhandlungen sind kein leichtgängiger Gegenstand für die Literatur. Umso bemerkenswerter sind die Nuancen, mit denen Nora Bossong, weit entfernt von einem dokumentarischen Realismus, solche Routinen beschreibt, etwa wenn sie Mira subtil die Formen des Zögerns deklinieren lässt:
"Unsere Arbeit bestand aus Zögern, aus Zögern in so vielen Abstufungen, dass man ihnen unterschiedliche Namen geben müsste: das entschiedene Zögern, das herausfordernde Zögern, das Zögern, weil man auf den Schachzug des Gegners wartet, das höfliche Zögern, das unentschiedene Zögern. Das Zögern, um den Preis in die Höhe zu treiben, und jenes Zögern, das den Preis in den Keller fallen lässt. Das Zögern aus Stolz und das Zögern aus Unsicherheit, das Zögern einer Kobra und das Zögern eines Habichts kurz vor dem Sturzflug."
2012 in Bujumbura hat Mira allerdings genug vom Zögern, von den auf der Stelle tretenden Gesprächen mit den Bürokraten, von den Berichten, die immer nur weitergeleitet, aber selten gelesen werden. "Die meisten von uns erleben den Krieg nur in ihren Unterlagen", sagt sie. Sie will mehr; was sie antreibt, bleibt im Zwielicht. Mit verbundenen Augen lässt sie sich ins Versteck eines Rebellengenerals chauffieren. Dieser Mann mit dem lieblichen Name Aimé ist eine der schillerndsten und eindrucksvollsten Gestalten des Romans. Bedrohlich wirken in erster Linie nicht seine Waffen, sondern seine Intelligenz mit ihrer "Patina der Massaker". Aimé verbindet distinguiertes Auftreten mit ätzendem Spott über die Vereinten Nationen und die Bessermenschen aus Europa, vor allem die Deutschen, die in allem optimal sein wollten, früher die besten Völkermörder, heute die besten Schraubenproduzenten und Moralisten.
"Sind Sie schon einmal gefoltert worden? fragte er. Sehen Sie, das ist das Problem: Sie verfassen Ihre Berichte, aber Sie haben eine sehr kleine Vorstellung von der Welt. Für Sie waren die Verbrechen gegen die Menschheit das Thema Ihrer Abschlussarbeit an der Universität. Sie haben, da bin ich mir sicher, eine gute Note dafür erhalten. Sie haben die einzelnen Aspekte gut durchdacht. Sie haben sich intellektuell eingefühlt. Sie haben Hannah Arendt und Karl Jaspers gelesen… Und jetzt sind Sie hier, um mit den Betroffenen zu sprechen, um Ihre Berichte zu schreiben, in denen sie festlegen, wie die Welt aussehen sollte, was es für Missstände zu beklagen gibt, und ich bin sicher, dass Sie zu diesem Thema viele Berichte schreiben werden."
Wenn Aimé das Wort "Wahrheitskommission" ausspricht, wirkt es wie ein Witz. Und vielleicht ist die "Wahrheit" ja hinderlich, wenn kaum jemand von denen, die zum Aufbau gebraucht werden, unschuldig ist. Welchen Sinn habe es, aus dem Land ein Genozidmuseum zu machen? Mira ist fasziniert von diesem unheimlichen, aber auch verführerischen Mann, der das zum Ausdruck bringt, was sie selbst in ihren dunklen Stunden denkt.
Ideale auf Kollisionskurs
Das Konzept der Entwicklungspolitik entstand in der Epoche des späten Kolonialismus. Die Ausbeutung der Länder des globalen Südens sollte von einer zivilisatorischen Mission begleitet sein, die die fortgesetzte Herrschaft legitimierte. Bevormundung verband sich mit dem Anspruch moralischer Überlegenheit. Etwas davon wirkt noch heute in den Missionen der UN nach, in der Welterziehung im Zeichen des Guten. Den Menschenrechten universale Geltung zu verschaffen – das gehört zum Gründungsauftrag. Die ideellen Eckpfeiler der Vereinten Nationen hat Nora Bossong zu leitmotivischen Überschriften der einzelnen Teile ihres Romans gemacht: Frieden, Wahrheit, Gerechtigkeit, Versöhnung. Dass solche programmatischen Fanfaren mit dem, was in den einzelnen Kapiteln erzählt wird, kollidieren, ist absehbar.
"Und irgendwo schneidet ein Mann, der sonst nicht weiter auffallen würde, Leichensäcke auf, um zu sehen, ob seine Tochter darin liegt. Weißt du, vergessen ist das eine, Versöhnung etwas anderes. Versöhnung ist Unsinn. Das ist ein Wort aus den Berichten, aus dem Neuen Testament. (…) Du kannst dich nicht versöhnen mit jemandem, der dein Leben getötet hat. Und es geht trotzdem weiter mit dir, dir bleibt ja nicht mal die Gnade des Verschwindens, man hat dein Leben zerstückelt, aber dich am Leben gelassen, das ist Sadismus."
Wenn man im Westen glaubt, dass viele Probleme Afrikas ihren Grund in der weit verbreiteten Korruption und Misswirtschaft hätten, also in einem doch eigentlich vermeidbaren irrationalen Verhalten, so ist auch dies womöglich eine Spielart der moralischen Überheblichkeit. In wenig entwickelten Gesellschaften, in denen zudem Generationen von immer mehr Menschen rasch aufeinander folgen, kann die Infrastruktur nicht mithalten; alle Anstrengungen, genug Güter, Häuser, Schulen oder Arbeitsplätze für alle zur Verfügung zu stellen, müssen ungenügend bleiben. Die eigene Familie oder Gruppe mit dem Nötigsten zu versorgen – dafür reicht das meist geringe, wenn überhaupt vorhandene Arbeitseinkommen nicht aus. Irreguläre Wege der Beschaffung über Beziehungen und diverse Formen alltäglicher Korruption sind deshalb durchaus rationale und überlebensnotwendige Strategien, die zudem von den Eliten im Übermaß vorgelebt werden. Verteilungskonflikte und gewaltsame Auseinandersetzungen sind jedenfalls unausweichlich; die internationalen Organisationen können sie nur zu moderieren versuchen. Wenn es nicht schlechter wird, ist oft schon das Beste erreicht. Dennoch ergibt sich daraus ein starkes Gefälle zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen den volltönenden humanitären Floskeln und dem stagnierenden Alltag der Mitarbeiter vor Ort. Dass dieses Gefälle zu einer zynischen Haltung führen kann, macht der Roman deutlich.
"Bernard richtete sich auf, was ich ihm an diesem Abend nicht mehr zugetraut hätte, er hing seit Stunden in seinem Plastikstuhl, als wäre er von der Hitze in ihn hineingeschmolzen. Sag es doch, Sarah, sag doch, was du denkst, rief Bernard.
Was denke ich?
Dass es das Draußen besser nicht gäbe. Zu viele Menschen. Menschen sind immer ein Problem, und hier werden es jeden Tag mehr. Früher sind die ja wenigstens weggestorben. Malaria, Cholera, (…) und jetzt nehmen wir ihnen die Krankheiten, aber vielleicht sollten wir doch wieder mehr sterben lassen."
Das ist – wie alles in diesem Roman – Figurenrede, mit relativer Gültigkeit. Die Hauptfigur Mira wird eine solche Stufe des Zynismus nicht erreichen.
Sie hat im Übrigen ein besonderes Talent, Menschen zum Sprechen zu bringen, so dass sie mehr preisgeben, als sie eigentlich wollen. Einer ihrer Aufträge besteht darin, im Sommer 2017 die Vertreter von Nordzypern und der Republik Zypern an den Verhandlungstisch in einem noblen Hotel im schweizerischen Glion zu bringen, um den verfestigten Konflikt zu lösen, an den sich die Welt längst gewöhnt hat. Bei solchen diplomatischen Veranstaltungen erfährt Mira immer wieder, dass – ganz im Kontrast zur Friedens- und Versöhnungsrhetorik in den Reden – sorgsam geschürte Konflikte auf der Bühne internationaler Verhandlungen durchaus von Vorteil für die Beteiligten sind. Denn sie ermöglichen es, Forderungen zu stellen und diese mit Drohungen zu bekräftigen. Frieden, heißt es an einer Stelle treffend, sei nur…
"…das Wort für den Moment, in dem nichts mehr zu verhandeln ist, und wer wollte den schon."
Die Liebe als Krisengebiet
Ein Krisengebiet, auf dem Mira ebenfalls nicht besonders glücklich operiert, ist ihr eigenes Beziehungsleben. Ein Sondergesandter für Liebesfragen ist nicht in Sicht. Stattdessen hängt sie einer Jugendbeziehung mit leicht inzestuösem Beigeschmack nach. Milan ist einige Jahre älter als sie; er ist der Sohn einer befreundeten Familie, in der Mira als Neunjährige lebte, als ihre eigenen Eltern einen langwierigen Scheidungskrieg ausfochten und sie aus der Schusslinie nehmen wollten.
"Abends lag ich im Bett und hörte den Regen über mir gegen das Fenster schlagen. Ich lag in einem Kinderbett, das nicht meines war. Ich hatte einen Bruder, der nicht meiner war. Ich hatte eine Familie, in die ich nicht gehörte. Aber sie war das Einzige, von dem ich annahm, es könnte bleiben."
Milans Vater Darius war selbst bereits ein hochrangiger Diplomat, viel unterwegs in Krisengebieten, und er wurde offenbar traumatisiert durch Erfahrungen während des Völkermords in Ruanda. Dennoch sind Milan und Mira in seine globalisierten Fußstapfen getreten. Milan hat auf diesem Lebens- und Karriereweg für Mira lange etwas von einem Mentor und Beschützer. Bis ihre alte Freundschaft eines Tages ins Erotische umschlägt. Allerdings ist Milan inzwischen verheiratet und hat ein Kind, weshalb Mira für ihn nicht mehr sein kann als eine Gelegenheitsgeliebte. Das ist bei aller Verbundenheit und Leidenschaft eine Position, mit der Frauen meistens hadern; so auch Mira. Ihre private Misere spiegelt die berufliche. Wenn es schon nicht gelingt, das eigene Liebesleben in verlässliche Bahnen zu bringen, wie kann man dann hoffen, Gesellschaften, die in Völkermorde und Bürgerkriege verstrickt sind, zum gedeihlichen Miteinander zu bringen?
Die Tonlage des Romans hat etwas Elegisches. Nora Bossong schreibt lange, dahinfließende Sätze, in denen Beschreibungen, Gedanken und Dialoge geschmeidig ineinander übergehen – ein ausgefeiltes stilistisches Instrumentarium für abgründige Realitäten und verwickelte Gefühlslagen. Mit seinen sechs oder sieben Zeitebenen zwischen 1994 und 2018 wirkt der Roman formal fast selbst wie ein UN-Gebäude. Regelmäßig wird zwischen den zeitlichen Etagen und den Schauplätzen hin und her gewechselt; die Komposition ist so komplex wie sorgfältig ausgeführt. So wie die UN bei ihren Missionen aber oft auf der Stelle tritt, so auf andere Weise auch der Roman. Es geht nicht wirklich voran. So stimmig und geglückt die meisten Szenen und Kapitel sind, ihr Prinzip ist die Variation der Grundmotive, nicht die Entwicklung.
"Schutzzone" ist deshalb allerdings auch kein Roman der Desillusion. Mira arbeitet nicht mit Herzblut an einer Mission, die nach anfänglichen Erfolgen scheitern würde; sie macht keinen Prozess von der Idealistin zur Zynikerin durch. Vielmehr hat der Roman von Anfang bis Ende die melancholische Färbung und den lyrisch-elegischen Grundton. Miras Ambivalenz gegenüber der eigenen Arbeit setzt sich fort bis ins Finale, als sie erst kündigt, um dann doch weiterzumachen. Immer weitermachen, das ist auch das Prinzip der UN…
"Die UN riefen auf und baten und befürworteten und betonten und unterstützten und drängten und entschieden, mit der Angelegenheit befasst zu bleiben... Wir scheiterten nicht. Nicht in den Berichten. Niemals ganz. (…) Es gab die UN, die es nicht immer besser machte, aber ohne die es noch schlechter wäre."
Melancholie statt Moral
Dieses melancholische Weiter-so-Fazit führt allerdings auch dazu, dass "Schutzzone" nicht die moralische Dringlichkeit erreicht, die etwa "Hundert Tage" auszeichnet, den thematisch verwandten Roman des diesjährigen Büchnerpreisträgers Lukas Bärfuss, in dem es um die verstörenden Erlebnisse eines Schweizer Entwicklungshelfers während des Völkermords von Ruanda geht. Eine dezidierte Kritik etwa an den ineffizienten Blauhelm-Einsätzen mit hunderttausend "Friedenssoldaten", die in jüngster Zeit immer mehr Vorwürfe von sexuellem Missbrauch und Menschenhandel auf sich ziehen, sollte man bei Nora Bossong nicht erwarten. Im Zentrum ihres Romans steht letztlich nicht die Organisation der UN, sondern ein desorganisiertes Ich – die Figur Mira mit ihren Ambivalenzen, ihren Lebens- und Liebesnöten.
So wächst sich der UN-Blues aus zum umfassenden Lebensblues. Über die Länge von 330 Seiten wirkt das manchmal allzu monochrom. Man hat den Eindruck, dass Nora Bossong, auch wenn sie Romane schreibt, zu erheblichem Anteil Lyrikerin bleibt; eine hervorragende Lyrikerin, kein Zweifel. Und doch hätte man diesem klugen und feinfühligen Roman gelegentlich etwas mehr erzählerischen Drive gewünscht, etwas mehr Sog in der Handlung. Aber kein Zweifel: Den literarischen Durchschnitt überragt "Schutzzone" bei Weitem.
Nora Bossong: "Schutzzone"
Suhrkamp Verlag, Berlin
336 Seiten, 24 Euro