Archiv

Norbert Angermann und Karsten Brüggemann
"Geschichte der baltischen Länder"

Estland, Lettland und Litauen werden oft als Einheit wahrgenommen - als "das" Baltikum. Dabei unterscheiden sich die drei Republiken durchaus, wie eine soeben erschienene gemeinsame Geschichte der drei Länder deutlich macht.

Von Norbert Mappes-Niediek |
    Eine Landkarte vom Baltikum mit den Staaten, Lettland, Estland und Litauen.
    Ein Ausschnitt einer Landkarte mit den baltischen Staaten, Litauen, Estland und Lettland (imago stock&people)
    In Europa werden die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, wenn überhaupt, gern als Dreiheit wahrgenommen - wie Tick, Trick und Track in den Micky Maus-Heften. Wenn nicht gleich als Einheit: als "das" Baltikum. Dabei unterscheiden sich die drei Republiken bei näherem Hinsehen durchaus, wie ausgerechnet eine soeben erschienene gemeinsame Geschichte der drei Länder an vielen Stellen deutlich macht. Autor Karsten Brüggemann:
    "Gerade Litauen, das gehörte zu einem völlig anderen Kontext. Das gehörte eher in den polnischen, katholischen Kontext, während die heutigen Gebiete Estlands und Lettlands ja eher in den protestantischen, deutschen Kontext gehörten."
    Wobei allerdings sprachlich Litauen und Lettland einander erheblich näher stehen als beide dem nördlichen Estland. Über eine alte Staatstradition wiederum verfügt von den drei Ländern allein Litauen, das im 14. Jahrhundert eine europäische Großmacht war, dann aber in der Union mit dem bevölkerungsreichen Polen über die Jahrhunderte an Identität immer mehr verlor.
    "Das Label 'Baltikum' war gerade in den 1990er Jahren nicht sonderlich attraktiv, verband man es doch mit der ehemaligen Sowjetunion. Daher versuchte Litauen zwischendurch, sich als zentraleuropäischer Staat zu etablieren, während Estland sich um ein 'nordisches' Image bemühte - und sogar die Idee diskutierte, ob nicht eine neue Fahne in Form eines skandinavischen Kreuzes Abhilfe schaffen könnte."
    Demokratische Bestrebungen nach dem Ersten Weltkrieg
    In einem Atemzug werden die drei Nationen überhaupt erst genannt, seit sie nach dem Ersten Weltkrieg die Gunst der Stunde nutzten und sich vom Russischen Reich unabhängig machten - ein Schritt, der in Europa anfangs mit viel Skepsis betrachtet wurde. Aber, schreiben Brüggemann und sein akademischer Lehrer Norbert Angermann in ihrer kompakten Geschichte der baltischen Länder:
    "Die Gründung dieser drei Nationalstaaten infolge von Weltkrieg und Revolution ist keine Laune der Geschichte gewesen, sie war auch nicht auf dem diplomatischen Reißbrett der Pariser Friedenskonferenz als Cordon sanitaire gegen Sowjetrussland geplant worden. Sowenig die baltische Unabhängigkeit ohne die temporäre Schwäche der Nachbarimperien möglich gewesen wäre, so sehr war sie zugleich Resultat der Bemühungen estnischer, lettischer und litauischer Männer wie Frauen um eine demokratische Zukunft für ihre Gesellschaften."
    Von der Staatsgründung an verlief die Geschichte der drei Nationen dann tatsächlich verblüffend kongruent. Alle bildeten sie demokratische Republiken aus, die dann in den Dreißigerjahren, dem europäischen Trend folgend, autoritären Regimen Platz machten. 1940 wurden sie erst von der Sowjetunion, im Jahr darauf dann von Nazi-Deutschland besetzt. Alle wurden sie nach dem Zweiten Weltkrieg von Moskau annektiert und zu sozialistischen Sowjetrepubliken deklariert. Alle drei erklärten sich im Frühjahr 1990 wieder für unabhängig, wurden 2004 gemeinsam Mitglied der EU und der Nato und traten schließlich nacheinander auch der Eurozone bei.
    Der deutsche Erbfeind
    Nicht das Verhältnis zu Russland und den Russen, das heute so stark im Vordergrund steht, hatte die Nationalbewegungen der Esten und Letten ursprünglich am meisten bewegt, sondern der deutsche Adel, der hier seit den Tagen der mittelalterlichen Deutschordensritter die dominante Macht war.
    "Die Deutschen waren der historische Erbfeind, der die Region für siebenhundert Jahre versklavt hat."
    Zur Fusion der Bedrohungen kam es dann im August 1939 mit dem berüchtigten Hitler-Stalin-Pakt, der die drei Staaten der sowjetischen Einflusszone zusprach. Was dann geschah, hinterließ im Bewusstsein von Esten, Letten und Litauern zu Russland tiefe Spuren.
    "Dann kam die Rote Armee, und am Ende dieses ersten Jahres der sowjetischen Okkupation, kurz bevor die deutsche Wehrmacht dann im Juni '41 einfiel, gab es noch die ersten Massendeportationen aus der Region, aus allen drei baltischen Staaten zugleich, und seither haben die Deutschen - wie soll ich sagen? - das Glück, dass diese Rolle des historischen Erbfeindes gewechselt hat."
    Dabei wüteten im Baltikum auch die deutschen Besatzer - und vor allem unter der besonders in Litauen zahlreichen jüdischen Bevölkerung - noch weit schlimmer als die Sowjets. Die baltischen Nationen selbst erkannten die Nazis nicht oder nur so weit an, wie sie Unterstützung bei ihren Judenpogromen und beim Krieg gegen die Sowjetunion benötigten.
    Nur währte die Sowjetmacht in Estland, Lettland und Litauen eben wesentlich länger als die deutsche Besatzung. In den 1970er Jahren betrieb Moskau eine entschlossene Russifizierung.
    Es ist - ganz im nüchternen Geist der ostseeischen Hansestädte - eine schnörkellose Geschichtsschreibung, zu der die beiden Autoren sich zusammengetan haben: Chronologisch, ohne eingestreute Anekdoten, Kurzbiografien oder philosophische Erörterungen. Aber hinter der unprätentiösen Geschichtserzählung verbergen sich, ganz bescheiden, eine große analytische Kraft, ein solides Urteil, und ein weiter Horizont, der auch Kunst und Kultur, Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie, wenigstens in politischer Hinsicht, den ganzen Kontinent umfasst. Man merkt dem Buch nicht an, wie sehr es einen belehrt. Abends im Bett ist es wohl eher mühsam zu lesen - mit den vielen Namen und Daten. Aber wer sich im gemeinsamen europäischen Haus zurechtfinden will, tut gut daran, auch einen Blick in die drei kleinen Mansardenstübchen unter dem Dach zu werfen. Dazu bietet das Werk eine gute Anleitung.
    Norbert Angermann, Karsten Brüggemann: "Geschichte der baltischen Länder",
    Reclam Verlag, 360 Seiten, 29 Euro.