Das Buch "Der Treuhandkomplex. Legenden. Fakten. Emotionen" ist nicht nur eine aktuelle Antwort auf das diesjährige Wahlkampfmanöver. Norbert Pötzl, der das Berliner Spiegel-Büro in jenen Treuhand-Jahren leitete, hatte das Thema weitaus früher im Blick. Dass der Philosophie-Professor Richard Schröder der Initiator der von Pötzl verfassten Entmystifizierungs-Schrift ist, schimmert nicht nur auf vielen Seiten durch, der Autor bekennt sich ganz offen dazu. Sein Buch steht in einer Linie zu Schröders Veröffentlichungen zum Thema. Der SPD-Politiker und Fraktionschef in der Volkskammer ist derzeit Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats für die Erforschung der Treuhandanstalt beim Institut für Zeitgeschichte in München. Pötzl recherchierte als erster direkt im Treuhand-Archiv, denn die Akten des Vorstands und Verwaltungsrates sind bereits einsehbar, nicht erst ab 2020, wenn die 30jährige Sperrfrist ausläuft.
"Es war Richard Schröder, der mit anderen bei dem damals zuständigen Bundesfinanzminister Schäuble darauf gedrängt hat, dass die Akten vorzeitig freigegeben werden. Und das ist 2016 passiert. Obwohl die Sperrfrist eigentlich noch besteht, hat man sie nun schon früher geöffnet, weil es eben das Interesse der Öffentlichkeit an dem Wirken der Treuhand gibt."
Viele Gründe für das Negativ-Image
Alle von Schröder früher bereits entkräfteten Mythen werden thematisiert. Das tut dem Band keinen Abbruch, im Gegenteil. Bei Pötzl ist kompakt nachzulesen, welche Vorwürfe der Treuhand zu Recht gemacht werden können und welche falsch sind.
In flüssigem Stil erklärt der 71-Jährige, warum die DDR angeblich zu den zehn größten Industrienationen gezählt wurde, was man selbst im Westen glaubte. Und er benennt die Ursachen für die großen Verwerfungen in Ostdeutschland seit dem Fall der Mauer: die DDR-Misswirtschaft, die die SED zu verantworten hatte, und die Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl, CDU, die aus Machtkalkül nicht mit offenen Karten spielte, den Bürgern in Ost und West nicht reinen Wein einschenkte über die Kosten der Transformation von der Plan- in die soziale Marktwirtschaft. Die eine übereilte Währungsunion einführte, die politisch nötig schien, wirtschaftlich aber für die DDR-Betriebe den sofortigen Tod bedeutete. Der Leser erfährt, wer noch am Negativ-Image der Treuhand mitwirkte. Zum Beispiel die Ministerpräsidenten der damals neuen Bundesländer, die ab Oktober 1990 im Verwaltungsrat saßen, die Treuhand-Entscheidungen stets mit absegneten - was sie nicht hinderte, sie danach lautstark zu kritisieren. Ähnlich verhielten sich Gewerkschaftsvertreter:
"Die Gewerkschaften verlangten rasche Lohnangleichung an die Verhältnisse in Westdeutschland und setzten ihre Forderungen größtenteils auch durch. Obendrein fochten sie für kürzere Arbeitszeiten und andere Vergünstigungen und konterkarierten damit die dringend erforderliche Erhöhung der Produktivität. Sie versprachen sich durch ihre Tarifpolitik den Zulauf der mehr als neun Millionen FDGB-Mitglieder. Die Arbeitgeberverbände unterstützten die Politik der Lohnanpassung, weil sie kein Interesse daran hatten, aus Ostdeutschland ein Niedriglohngebiet zu machen, das zu den westdeutschen Konzernen in direkte Konkurrenz getreten wäre."
Populisten nicht nach dem Mund reden
Pötzl setzt sich sehr detailliert mit Petra Köppings erfolgreichem Buch "Integriert doch erst mal uns!" auseinander. Seiner Meinung nach geht es in die gleiche Richtung wie die Stimmungsmache von Linkspartei und AfD. Er weist der sächsischen Integrationsministerin mehrere Falschmeldungen nach, die im aktuellen Treuhand-Bashing nichtsdestotrotz immer wieder zitiert werden.
Zum Beispiel, wenn die SPD-Politikerin sagt, 85 Prozent des ostdeutschen Produktivvermögens seien an Westdeutsche gefallen. Das stimme nur, wenn allein der Kaufpreis herangezogen werde, aber nicht bei der Zahl der Firmen. Denn Geschäfte, Gaststätten und Hotels, Apotheken, Buchhandlungen oder Kinos seien fast immer ausschließlich an Ostdeutsche gegangen, ebenso kleine und mittlere Firmen, die fast immer von leitenden ostdeutschen Mitarbeitern gekauft worden seien.
Köppings Beispiel einer angeblichen Marktbereinigung zum Wohle westdeutscher Investoren nimmt Pötzl regelrecht auseinander. Sie hat den ostdeutschen Elektro-Porzellan-Hersteller Großdubrau genannt, bei dem angeblich westdeutsche Unternehmer die Porzellan-Rezepturen, Mitarbeiterlöhne und Maschinen mitgenommen hätten. Während sich Köpping nur auf Hörensagen beruft, recherchierten Pötzl bzw. Schröder und fanden heraus, dass nichts an der Geschichte wahr ist:
"Köpping redet, nicht anders als die AfD, den Leuten populistisch nach dem Mund. Sie versucht, den Frust, der Wähler zur AfD treibt, auf ihre parteipolitischen Mühlen umzuleiten. Sie tritt mit anderen ostdeutschen Politikern in einen Wettstreit, Menschen in ihrem Selbstmitleid zu bestärken, statt sie zu ermutigen und zu eigenen Anstrengungen anzuspornen. Statt zu versöhnen, spaltet sie das Land."
Der Hamburger Journalist nennt die Summe der Transferleistungen von West nach Ost, die netto über anderthalb Billionen Euro betragen haben, und er stellt Überlegungen an, warum interessierten Kreisen so viel daran liegt, die Ostdeutschen als Opfer zu stilisieren. Seiner Vermutung nach steckt dahinter eine Strategie, sich Vorteile zu verschaffen, und er verstärkt diesen Gedanken mit Herfried Münklers Warnung, dass es nichts Schlimmeres gebe als Opfernarrative, weil sie die Berechtigung verliehen, bei nächster Gelegenheit mal so richtig draufzuhauen.
Wider die Legendenbildung
Pötzls Treuhandkomplex geht weit über die Legenden über die Privatisierungsanstalt hinaus. Auf knappen 220 Text-Seiten sind Fakten zusammengetragen, werden Belege angeführt, dass die Treuhand es keineswegs auf die Vernichtung der ostdeutschen Erwerbstätigen abgesehen hatte, dass sie aber ein Erbe antrat, das sie nicht zu verantworten hatte.
Das Buch zeigt zudem, dass die Stimmung im Osten schlechter als die Lage ist. Die Arbeitslosigkeit ist noch 1999 zehn Prozent höher als im Westen gewesen, heute sind es keine zwei Prozent mehr. Die Renten sind mit fast 1200 Euro bei den Ostmännern rund 100 Euro höher als die Durchschnittswestrenten. Frauen im Osten bekommen sogar 300 Euro mehr als im Westen, weil sie viel länger und häufiger erwerbstätig waren.
Besonders wertvoll sind die Verweise auf die vielen Quellen, die der jahrzehntelang für den Spiegel tätige Autor zu Rate gezogen und in einem umfangreichen Verzeichnis zugänglich gemacht hat. Trotz der vielen Fußnoten bleibt der Text übersichtlich.
Bedauerlicher Schwachpunkt ist das Beispiel Bitterfeld im 7. Kapitel "Erfolgsgeschichten". Da verlässt sich Pötzl nur auf Monika Marons Buch "Bitterfelder Bogen", das nicht zu ihren stärksten gehört, vor allem aber veraltet ist. Zum Stand der ökologischen Sanierung Bitterfeld-Wolfens kann man mehr wissen, - zum Bespiel, dass sie nur oberflächlich erfolgte und 200 Millionen Kubikmeter Grundwasser bis heute chemisch verseucht sind und auf ihre Sanierung warten.
Wer sich ungern Pauschalurteilen anschließt, vielmehr annimmt, dass die Wahrheit selten schwarz-weiß ist, findet in dem kleinen handlichen Format aus der kursbuch.edition eine Reihe guter zusätzlicher Argumente.
Norbert F. Pötzl: "Der Treuhand-Komplex: Legenden. Fakten. Emotionen",
Kursbuch.edition, 200 Seiten, 22 Euro.
Kursbuch.edition, 200 Seiten, 22 Euro.