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Norbert Frei: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen.

Wenn wir im Jahr 2015 des 70. Jahrestags des Kriegsendes gedenken, dann wird unsere Erinnerungskultur naturgemäß eine andere sein als heute. Schon deshalb, weil dann viele der Zeitzeugen, die uns heute über das NS-Regime noch aus erster Hand berichten können, nicht mehr leben werden. Doch auch in den letzten Jahrzehnten war der Umgang der Deutschen mit dem Jahr 1945 und der davor liegenden dunklen Zeit bereits zahlreichen Metamorphosen unterworfen: Vom ängstlichen Totschweigen der 50er Jahre, das erst durch das beharrliche Nachfragen der 68er-Generation gebrochen wurde, über Weizsäckers legendäre Rede zum 8. Mai 1985 bis zum mitunter geradezu exzessiven, teilweise wohl nur als "Aufarbeitung" getarnten Medienrummel, der schon im letzten Jahr mit dem Spielfilm "Der Untergang" eingeleitet wurde und gerade in diesen Tagen seinen Höhepunkt erlebt.

Von Rainer Burchardt |
    Bundespräsident Horst Köhler konstatierte gestern in seiner Rede zum 8. Mai, Deutschland sei nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich ein anderes Land geworden – und das gilt sicherlich auch für seinen Umgang mit der Vergangenheit. Norbert Frei, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, liefert nun mit seinem Buch "1945 und wir" eine kritische Bestandsaufnahme deutscher Erinnerungskultur im Wechsel der Zeiten. Rainer Burchardt rezensiert.

    Keine Frage: In diesen Tagen und Wochen um den 8. Mai herum läuft die mediale Erinnerungsmaschinerie auf Hochtouren. Ein publizistischer Overkill, der erneut die Frage aufwirft, wo die tieferen Motive für diese Aufarbeitungsversuche liegen. Vielleicht gar im kollektiven schlechten Gewissen aller heute lebenden Generationen. Die einen, die das Grauen der dreißiger und vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts miterlebt haben, und die anderen, die Nachgeborenen, die bis heute das Unfassbare nicht fassen und dennoch mit der Verantwortung des Erinnerns leben müssen.

    Mit seinem Buch "1945 und wir – Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen" versucht der Historiker Norbert Frei detailbesessen und mit Mut zur Wertung eine Analyse aller Facetten der so genannten Vergangenheitsbewältigung. Jenes deutschen Traumas, das alle Generationen nach seiner Meinung allerdings auf sehr unterschiedliche Weise erfasst hat, wenngleich, wie er schreibt, die Epoche der Zeitgenossenschaft zu Ende geht.

    "Tatsächlich geht eben eine Epoche zu Ende. Die Zeit des "Dritten Reiches" entschwindet der Zeitgenossenschaft, der Nationalsozialismus verabschiedet sich aus dem in unserer Gesellschaft präsenten Vorrat persönlicher Geschichtserfahrung. Gegen dieses Faktum postulieren viele, als ließe Unabwendbares sich aufhalten, mehr denn je die Pflicht des Erinnerns. Aber darin liegt ein Element der Selbsttäuschung, denn die Wahrheit ist, dass fast niemand mehr sagen kann: "Ich erinnere mich!" Für die allermeisten von uns ist die Hitler-Zeit keine erlebte Vergangenheit, sondern Geschichte. History, not memory."

    Für Frei allerdings ist die so häufig und gern in Anspruch genommene Zeitzeugenschaft nur ein bedingtes Mittel zur Wahrheitsfindung und objektiven Berichterstattung bzw. Geschichtsschreibung. Ja, schlimmer noch, immer mehr rücke ein vermeintlich deutsches Opfertum in den Mittelpunkt. Gerade der Paradigmenwechsel vom Holocaust-Verbrechen zur Thematik "Flucht und Vertreibung", sind für ihn gefährliche Tendenzen in der jetzigen deutschen Gesellschaft. Der Übergang dahin war schleichend: zunächst die Phase der gezielten Verdrängung und Schlussstrichforderung, dann die Aufarbeitung in Politik, Justiz und Lehre, schließlich die auch international betriebene Aufklärung wie etwa durch die US-Serie "Holocaust" in den siebziger Jahren, durch Bücher wie Daniel Goldhagens über Hitlers willfährige Vollstrecker in den achtziger Jahren, die Wehrmachtsausstellung und schließlich bis auf den heutigen Tag Fernsehdokumentationen mit unzähligen Zeitzeugen: Das alles zeigt auf, wie sehr Deutschland bis auf den heutigen Tag diese schrecklichen zwölf Jahre von 1933 bis 1945 zu verarbeiten hat.

    "Aus dieser Einsicht in die demokratiepolitisch notwendige Unterscheidung zwischen privater Erinnerung und staatlicher Geschichtsrepräsentation erklären sich die Stärken wie manche Schwächen jener altbundesrepublikanischen "Vergangenheitsbewältigung", die sich als Gegenentwurf zur fortgesetzten Verdrängung herausbildete und inzwischen selbst schon Historie geworden ist. Wer ihren gesellschaftlichen Nutzen im Rückblick bewerten möchte, tut gut daran, die denunziatorische Opposition der Verstockten in Rechnung zu stellen, die in der kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit über Jahrzehnte hinweg stets nur eine schwarze Pädagogik der "Umerziehung" erblickten, die den nationalen Selbstbehauptungswillen der Deutschen unterminiere."

    Allerdings sieht Frei auch in der heutigen Verantwortung tragenden Generation einen Hang zur Subjektivierung und Privatisierung, die der vermeintlichen Opferrolle der Deutschen Geltung verschafft.

    "Gerhard Schröder, Halbwaise, Jahrgang 1944, aufgewachsen in prekären materiellen Verhältnissen, hat beste Aussichten, zum heimlichen Repräsentanten jener rasch sich ausbreitenden Erinnerungsgemeinschaft der Kriegskinder zu werden, deren Selbsterfindung wir gerade erleben: "Das Grab meines Vaters, eines Soldaten, der in Rumänien fiel, hat meine Familie erst vor vier Jahren gefunden. Ich habe meinen Vater nie kennen lernen dürfen." – Wer als Staatsmann in diesem Modus des Privaten über die Geschichte spricht, der bekennt sich damit nicht nur zu einer kohortentypischen "Schicksalslage" (Schelsky), der wirkt auch mit an einer Umcodierung der Vergangenheit. In deren Mittelpunkt schrieben sich nun: die Deutschen als Opfer."

    Genau dort liegt nach Frei die Intentionen von Vertriebenenverbänden und deren Chefin Erika Steinbach für das ominöse Zentrum gegen Vertreibungen. Auch Martin Walsers Frankfurter Rede über "Auschwitz als Moralkeule" und das Buch von Jörg Friedrich über die Alliierten Städtebombardierungen in Deutschland zeugt nach seiner Meinung von einer fatalen Geschichtsvergessenheit und Umdeutung.

    "Das Ende der Schuld scheint also nahe, und von links bis rechts sind die Erwartungen an diesen Zustand groß. Einem Land, in dem keine Täter mehr leben, eröffnen sich, so die Auguren, bisher nicht gekannte Chancen. Vielleicht noch größer als in der Politik, wo Europa Halt und Rahmen gibt, sind die Hoffnungen in der Wirtschaft, deren Wortführer auf den Abschied von "deutscher Selbstzerstörung" durch zuviel Geschichte setzen und wo die erzwungene Zwangsarbeiterentschädigung als abgehakter letzter Akt auf dem Weg zu fürderhin ungestörten Geschäften mit dem Ausland gilt. Von dem Aufbruch in eine Unternehmenskultur, die Anfang der neunziger Jahre Selbstaufklärung und historische Bewusstseinsbildung versprach, ist denn auch kaum mehr geblieben als ein Dutzend ungelesener Konzerngeschichten."

    Allerdings, so Frei, hat die nach dem Krieg von den Alliierten propagierte Kollektivschuld-These die Deutschen in eine Art Solidargemeinschaft gezwungen, die kontraproduktive Wirkung hatte. Frei kategorisiert in diesem Zusammenhang fünf Erfahrungsgenerationen, die, beginnend mit dem Geburtsjahr 1905, sich in Zwanzig-Jahr-Abschnitte aufgliedern lassen. Die erste ist die Generation der NS-Funktionseliten, die zweite der Flakhelfer und jungen Frontsoldaten, die dritte ab Jahrgang 1945 die so genannten "Achtundsechziger" und dann zwei Generationen, die die Epoche der Neujustierung der deutschen Geschichtsverhältnisse erlebten. In diesem Zusammenhang sieht Frei eine in immer schwierigeres Fahrwasser geratene Zeitgeschichtsschreibung, die sich der Verharmlosung, Relativierung und Beschönigung widersetzt.

    "Es ist ja wahr: die wissenschaftliche Zeitgeschichtsschreibung hat von Anfang an viel dafür getan, die NS-Zeit in gewisser Weise zu entdramatisieren. Sie arbeitete sich durch ein wild wucherndes Gestrüpp aus Lügen und Legenden, sie positionierte sich gegen eine notorisch verharmlosende Individualerzählung und gegen das Kolportagehafte der kollektiven Erinnerung. Sie interessierte sich stattdessen für die Veränderungen des politischen Systems, für dessen innere Verfassung, für Strukturen und Prozesse. Damit setzte sie sich ab von einer nicht zuletzt im Kontext des Nationalsozialismus als problematisch erkannten historiographischen Tradition, in der die großen Männer Geschichte machen – ein Konzept im übrigen, das fabelhaft zu jener populären Vorstellung gepasst hätte, der zufolge die Schandtaten des "Dritten Reiches" alleine auf das Konto von ein paar "Hauptkriegsverbrechern" gingen, denen, soweit noch verfügbar, in Nürnberg der Prozess gemacht worden war."

    Teile seines hochinteressanten Buches widmet Frei allerdings auch der Behandlung etwa über Justiz und Zeitgeschichte oder den Mythos Stalingrad, ohne auch hier eine ausführliche Brücke zur heutigen Nacharbeitung zu liefern. Dagegen wieder genau zielende und bewertende Analysen zum Widerstand aus der Sicht der Nachkriegszeit, etwa von der anfänglich weitverbreiteten Volksverräterthese bis hin zur allerdings dann auch teilweise überzeichneten Heldenverehrung, auf jeden Fall aber der Apologie-Vereinnahmung der Dabeigewesenen.
    Prinzipiell beobachtet Frei eine nicht unproblematische Hinwendung der Interpretation von Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust, vom Ende her.

    "Dass wir den Nationalsozialismus inzwischen mehr von seinem Ende als von seinem Anfang her verstehen, mag man einen Paradigmawechsel nennen. Jedenfalls ist, was das Interesse der Welt an der "deutschen Katastrophe" im 20. Jahrhundert aufrechterhält, nicht länger "1933" das Ende einer parlamentarischen Demokratie unter dem Druck einer totalitären Bewegung, sondern der Völkermord an den europäischen Juden. Zugleich scheint der Holocaust zum verbindenden Element einer europäischen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zu werden, die begonnen hat, sich von nationalen Mythen und Lebenslügen der Nachkriegszeit zu trennen. Über Europa hinaus wird der Holocaust inzwischen als eine globale Mahnung verstanden, genozidalen Entwicklungen rechtzeitig Einhalt zu gebieten. Das ist wenig genug, aber vielleicht mehr, als viele von uns noch vor nicht allzu langer Zeit, sagen wir 1983, zum 50. Jahrestag der nationalsozialistischen Machtergreifung, erhofft und erwartet hätten."

    Schade ist, dass Frei leider auf keine Motivsuche für den wachsenden Neonazismus in Deutschland geht. Hier in der Tat fehlt die notwendige Analyse des Zeitgeschichtlers, der mit diesem Werk jedoch wertvolle Zusammenhänge und Analysen über das deutsche Trauma geliefert hat. Es wird für uns die ewige Herausforderung bleiben, für jeden einzelnen, ebenso wie für den Historiker.

    Rainer Burchardt über Norbert Frei: "1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen". Das Buch umfasst 224 Seiten und ist zum Preis von 19 Euro und 90 Cent im C.H. Beck Verlag München erschienen. Damit sind wir mit unserer – notgedrungenermaßen unvollständigen – Revue neuer Literatur zum Themenkreis "1945" am Ende angelangt. Für Ihr Interesse dankt Marcus Heumann – und wünscht Ihnen noch einen schönen Abend.