Melanie Longerich: Noch etwas mehr als zwei Monate bis zur Wahl zum Europäischen Parlament und eine der Fragen, die im Raum steht, ist, wie stark die Rechtspopulisten abschneiden, also jene Parteien, die zwar zur Wahl antreten, aber die Einflüsse der EU möglichst beschränken und die der Nationalstaaten stärken wollen. Oder hat der Zerfall der EU mit dem Brexit längst begonnen und es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch andere Staaten austreten? Auch in Deutschland, das lange Zeit als Motor der EU galt, ist mit dem Aufstieg der AfD plötzlich nicht mehr klar, ob ein Deutschland ohne die EU wirklich undenkbar ist. Auch hierzulande sehen manche die Zukunft in Nation und Nationalismus. Doch gerade in Deutschland sind das gefährliche Tendenzen, weil sie an unselige Traditionen anknüpfen, warnt eine Gruppe von Geschichtswissenschaftlern um den Jenaer Historiker Norbert Frei, die gemeinsam den Band "Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus" herausgegeben haben. Gelesen hat ihn unser Rezensent Matthias Bertsch. Herr Bertsch "Zur rechten Zeit" - das klingt ja wie ein Wortspiel und soll es ja wohl auch sein?
Matthias Bertsch: Ja, genau. "Zur Rechten Zeit" bezieht sich zum einen auf die Diagnose, dass die Rechten zunehmend Aufwind haben in Deutschland und Europa – wobei leider über ein "wir wissen doch alle, wer die Rechten sind: AfD, Pegida, Identitäre usw." hinaus nicht geklärt wird, was genau unter rechts zu verstehen ist oder wo die Unterschiede zwischen rechts und rechtsextrem liegen. Zum anderen bezieht sich "zur rechten Zeit" auf die Entstehung des Buches: nämlich dass der Ullstein-Verlag beim Hauptautor, dem Jenaer Historiker Norbert Frei, mehrfach angefragt hat, warum sich denn Zeithistoriker außer in Interviews und Zeitungsartikeln nicht zur aktuellen politischen Situation äußern würden. Also eine Aufforderung, sich in diesen Zeiten zu positionieren.
Longerich: Und das haben Frei und seine Ko-Autoren und Ko-Autorinnen nun getan. Das Buch heißt ja wohl nicht umsonst im Untertitel "Wider die Rückkehr des Nationalismus". Sehen die Autoren denn das Wiederaufflammen eines Nationalismus oder gar Nationalsozialismus?
Bertsch: Ich würde sagen: eindeutig ja. Der Nationalsozialismus und seine Verbrechen sind letztlich immer der zentrale Bezugspunkt aller acht Kapitel. Wobei das Interessante und durchaus Widersprüchliche ist, dass Frei und Co in der Einleitung deutlich machen, dass der Rechtspopulismus auf der einen Seite ein europäisches und darüber hinaus gehendes Phänomen ist, auf der anderen Seite aber in Deutschland immer als spezifisch deutsch und das heißt in der Nachfolge des Nationalsozialismus zu sehen ist. Und diesbezüglich sehen die Autoren eben viele Kontinuitäten.
Umstrittenes Verständnis vom Deutsch-Sein
Longerich: Welche sind das?
Bertsch: Viele. Die beiden grundlegenden Kontinuitäten sind ein völkisches oder ethno-kulturelles Verständnis von Deutsch-Sein und der Wunsch nach einem Schlussstrich unter die Vergangenheit bzw. die Erinnerung daran. Beides wird von den Autoren ganz eindeutig abgelehnt, was ich für problematisch halte. Ich glaube, dass es ein ethno-kulturelles Element in unserem Verständnis von Deutsch-Sein gibt – wir brauchen nur auf die Straße gehen und überlegen, wen nehmen wir als Deutsche wahr und ich glaube, dann haben wir schon dieses ethno-kulturelle Element, auch wenn das ausschließend und diskriminierend sein kann. Und auch der Wunsch nach einem Schlussstrich – nicht mehr an die Verbrechen im Nationalsozialismus erinnert zu werden, die ja von den meisten unserer Großeltern mitgetragen oder zumindest von ihnen nicht verhindert wurden – ist für mich nicht per se rechts, sondern angesichts der moralischen Bürde sogar sehr verständlich. Es wird nur nicht funktionieren, weil eben einen schmerzhaften Teil unserer Geschichte ausklammern oder leugnen müssten und weil uns andere daran erinnern.
Longerich: … unter anderem die Juden bzw. Synagogen oder jüdische Friedhöfe.
Bertsch: Ja, deswegen sind die ja in der Bundesrepublik auch schon kurz nach ihrer Gründung jüdische Gräber geschändet worden und zu Weihnachten 1959 wurde in Köln eine Synagoge von Rechtsradikalen mit Hakenkreuzen beschmiert, was weltweit für großes Aufsehen sorgte. Daran erinnert "Zur Rechten Zeit", und auch daran, dass Adenauer die Nachahmungstäter, die es auch sofort gab, als Lümmel bezeichnete, denen man eine Tracht Prügel verpassen müsse. Die beiden Täter aus Köln allerdings waren Mitglieder der Deutschen Reichspartei und eine der Stärken des Buches liegt darin, deutlich zu machen, dass es in der Bundesrepublik immer Parteien oder Gruppen in Parteien gegeben hat, die nicht nur einen Schlussstrich unter die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten ziehen wollten, sondern auch ein Großteil der Deutschen von Mitschuld daran freisprechen und wieder zu nationaler Größe führen wollten. Und erst ganz langsam und teilweise gegen heftigen Widerstand hat sich, nicht zuletzt durch die Arbeit von Emigranten, die im "Dritten Reich" vertrieben worden waren, die Einsicht durchgesetzt, wie viele Menschen dieses System, das ja nicht nur aus Hitler und einer kleinen Clique Unterstützer bestand, auf dem Gewissen hatte. Und mit dieser Einsicht auch eine größere Tendenz zu einer liberalen Demokratie.
"DDR ist deutscher geblieben als die Bundesrepublik"
Longerich: Wie war das im anderen deutschen Staat, in der DDR?
Bertsch: Anders: Obwohl die DDR in manchen Bereichen anfangs hart gegen ehemalige Nazis vorgegangen ist, hat sie als antifaschistischer Staat - wohlgemerkt: nicht Anti-nationalsozialistisch, denn den Namen des Sozialismus durfte man nicht beflecken! - einen ganz anderen Weg eingeschlagen. Gerade weil in der DDR Antifaschismus und Völkerfreundschaft Teil der Parteidoktrin waren – und die Partei einen ständig bevormundet hat -, sind Abweichungen von dieser Doktrin umso häufiger gewesen, und das hat es Kontinuitätslinien "Schlussstrich" und "ethnokulturelle Homogenität" umso leichter gemacht, fortzubestehen. Dazu kommt, dass es in der DDR keine Gastarbeiter wie in der Bundesrepublik gab, die bei allen Vorbehalten doch irgendwann als zur Gesellschaft dazugehörend wahrgenommen wurden, sondern nur Vertragsarbeiter, die außerhalb der Betriebe kaum Kontakt zum Rest der Bevölkerung hatten. In diesem Sinne ist die DDR eben auch deutscher geblieben als die Bundesrepublik.
Longerich: Was die Wahlerfolge der AfD und das Erstarken des Rechtspopulismus in Ostdeutschland erklären soll…
Bertsch: Ja, grob gesprochen kann man sagen, dass die Rechtsextremen aus dem Westen, die gut organisiert waren, nach der Wende im Osten einen Nährboden für nationalistisches Denken und vor allem auch rechtsterroristisches Handeln gefunden haben. Die ersten Kontakte dazu gab es längst vor der Wende – schon Ende der 80er Jahre haben als Rowdys verharmloste Rechtsextreme in der DDR Zecken, also Linke, und Ausländer gejagt. Nach dem Fall der Mauer kam es dann zu dem, was im Buch Vereinigungsrassismus genannt wird: die feigen Morde des NSU, den brutalen Mord an dem Mosambikaner Amadeu Antonio 1990 in Eberswalde oder die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen: übrigens nur einer von weit über 1.000 Anschlägen auf Flüchtlings- und Ausländerwohnheime allein im zweiten Halbjahr 1992. Oft standen damals ja ganz normale Bürger dabei und haben geklatscht, deswegen spricht die Autorin des Kapitels, Franka Maubach, auch von Pogromen. Allerdings tut sie das dezidiert, um eine Analogie zur Reichspogromnacht von 1938 zu ziehen, und das finde ich fatal. Denn die Reichspogromnacht war, bei allen antisemitischen Ressentiments, die dabei ausgelebt wurden, eben kein spontaner Ausbruchs des Volkszorns sondern sie war von oben inszeniert.
Kontinuitätslinien in rechten Diskursen
Dahinter deutet sich für mich auch noch etwas grundsätzlich Fragwürdiges in dem Buch an: das ständige Herstellen von Bezügen zum Nationalsozialismus. Das beginnt schon mit dem Titel der Einführung: "weil wir das (fast) alles schon mal hatten." Modern gesprochen würde man sagen, da werden ganz bewusst gewisse Frames aktiviert, die ein "und es endet in Auschwitz" ergänzen. Ich finde das falsch, weil ich bei aller Gefahr des Nationalismus keine Planungen für einen Angriffskrieg oder einen Völkermord sehe, und ich finde es anmaßend, weil ich glaube, dass es vor allem dazu dienen soll, die eigene Argumentation oder Position moralisch unangreifbar zu machen – weil "ich habe ja aus Auschwitz die richtigen Lehren gezogen".
Longerich: Das klingt sehr kritisch. Wie ist Ihr Fazit?
Bertsch: Ich bin in der Tat zwiegespalten. Einerseits rekonstruiert das Buch Kontinuitätslinien in rechten Taten und Diskursen – über letztere haben wir jetzt leider gar nicht gesprochen, also die Vorläufer von Alexander Gauland, Björn Höcke oder Götz Kubitschek – und weist in diesem Kontext auf Gefahren hin, Andererseits ist das Buch aus meiner Sicht sehr nach einem Freund-Feind-Schema geschrieben: Der Feind steht rechts. Das mag für die Selbstverortung gut sein und auch Menschen mobilisieren, gegen rechts auf die Straße zu gehen, aber für mich ist es letztlich ein Feindbild. Und ich halte es für wichtiger, zu fragen, warum so viele Menschen die Gegenentwürfe zur rechten Volksgemeinschaft nicht oder nicht mehr so attraktiv finden: also die liberale Demokratie und die Migrationsgesellschaft.
Norbert Frei, Franka Maubach, Christina Morina, Maik Tändler: "Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus",
Ullstein Verlag, 256 Seiten, 20 Euro.
Ullstein Verlag, 256 Seiten, 20 Euro.
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