Norbert Niemann hat mit seinem ersten Roman „Wie man´s nimmt“ ein geradezu paradigmatisches Beispiel dafür geliefert, welche ideologischen Impulse im zeitgenössischen kulturellen Diskurs wirksam sind, und wie sie sich nicht in erzählende Literatur ummünzen lassen. Dies aber mit einer solchen Verve, mit solcher inhaltlicher und formaler Konsequenz, daß man ihm den Respekt für diese Leistung nicht verweigern kann. Zunächst hat Niemann jede Strategie der Bejahung postmoderner Lebensverhältnisse, auch die zynische, hinter sich gelassen und aus der sanften Sphäre des Waren- und Medienkonsums mit ihren schlauen Lockungen und versteckten Imperativen einen unüberwindlichen anonymen Apparat der Lebensformatierung gemacht, der einer Vernichtungsmaschine gleichkommt. Diesen Apparat hat er im Hintergrund seines Romans aufgebaut, und dann erst hat er seine fünf Personen vorne an die Rampe geschickt. Diese müssen nun aktive menschliche Romanfiguren spielen, sind aber als passive, als gespielte Figuren immer schon erkannt. Ein Dilemma. Denn diese Fünf lieben und hauen sich, bauen Häuser und reißen welche ab, kriegen Kinder und hegen Mordgelüste gegeneinander wie nur je ein Romanpersonal, aber all dies darf nicht auf herkömmlichen Weg psychologisch oder sozial motiviert sein. Sie müssen von außen gesteuert handeln, sie müssen an den künstlichen Bildern, die die Welt bedeuten, kleben, müssen mit diesen Bildern von Anfang an identisch sein.
Kein kleiner Vorsatz, ein intimes Grüppchen von Leuten ohne Ich-Substanz, nur als Träger eines medialen Unbewußten vierhundert Seiten lang intim miteinander kommunizieren zu lassen. Zu diesem Zweck werden alle konventionellen Teile bürgerlicher psychischer Konstruktion aufgefahren und zugleich dementiert durch die immer wieder behauptete Außensteuerung durch Medien. Eine romanhafte Variante der Dekonstruktion kann man darin sehen. Doch allzu eindeutig und geheimnislos führt der Weg von außen nach innen. Und das auf jeder Seite. Ich habe Maschinen konstruiert, Maschinen, die wie Menschen aussehen, sagt uns Norbert Niemann unentwegt. Entschuldigung, daß ich den romanhaften Eindruck von privaten Erfahrungsträgern hervorrufe, in Wirklichkeit rufe ich nur Fernseh- und Filmeffekte hervor. Weh dem, der Menschen sieht! – „Schönlein als Film“ sollte der Roman denn auch ursprünglich heißen.
Peter Schönlein führt ein schönes Leben. Der erfolgreiche Restaurator sonnt sich in der Illusion, gegen alle kulturkritischen Einwände ein perfektes Leben zu führen. Man hat Geld, Geschmack, Kinder und Verstand, und man weiß, daß es das alles nicht geben darf, weil diese Gesellschaft die Standards, nach denen man Glück und gelungenes Leben definiert, retortenmäßig produziert, um die Energien des Lebendigen zu binden, zu verwalten und einzuspeisen in die abstrakte Maschine, die sie nun einmal ist. Dies zu wissen und es trotzdem zu genießen, das ist die Lebenskunst der Schönleins, die uns aber leider nicht einfach erzählt wird, sondern erst nachdem wir erfahren haben, wie dieser Traum zerbrochen ist. Schönlein nämlich zieht es sogleich hin zu Abfall und Schmutz, zu Gemeinheit und Gewalt, Zerfall und Häßlichkeit. Damit wir das Dilemma nicht zu spät bemerken, bekommen wir es buchstäblich plakativ und parabelhaft, wie so vieles im Roman, vorangestellt. Ganz am Anfang des Romans wird uns Schönlein durch ein vielsagendes Bild charakterisiert: ein kaputtes, verrottendes Haus und ein Fuß Schönleins, der dabei ist, diese Domäne der Auflösung und des Verschwindens zu betreten. Wer hier noch zögert, dem hilft Niemann mit dem Begriff Entropie weiter. Für die weniger begrifflich operierenden Leser fährt er ein dickes Konvolut von Kennzeichnungen auf, wie „Korrosionen“, „Abplatzungen“, „Fraßbefälle“, oder adjektivisch: „schmierig“, „lieblos“, „schaurig“ usw. für die chaotische Seite; auf der anderen Seite lauten die Markierungen jener falsch schönen und schön falschen Denk- Fühl- und Lebensweise der Schönlein-Hintereders dieser Welt: Attrappe und Kulisse, Monitor und Modell, Schein und Simulation usw.
Der Roman beginnt mit dem Aufeinandertreffen, der Durchdringung dieser beiden Sphären. Schönlein trifft gewissermaßen Schmützchen, und er will in sie eindringen. Dieses Schmützchen heißt Lisa, ist die Lebenspartnerin eines Jugendfreundes von Schönlein, dem trinkenden Künstler Kreiner, und sie lebt in eben jenem Haus des Verfalls inmitten von ungespülten Tassen und Schweißgeruch. Schönlein dringt, von Ekel und Haß geschüttelt, in dieses Haus und diese Frau ein und verfällt stehenden Gliedes dem Verfall. Diese Episode ist die beste des ganzen Romans, und zurecht hat Norbert Niemann mit ihr den letztjährigen Ingeborg Bachmann-Preis gewonnen. Hier funktioniert die ungenaue, verschliffene Spaltung zwischen der Erzählerstimme und der inneren Rede der Figuren. Zwar sind die Charakter auch hier bereits restlos zu Chiffren einer Parabel verhärtet – Lisa muß das Verworfene so ausschließlich verkörpern wie Schönlein die aggressiv behauptete Souveränität darüber –, aber die Eindringlichkeit der Schilderung, der rhythmisierte Furor der zugleich begehrlichen wie abwehrenden Rede Schönleins und die für Augenblicke vom Bedeutungszwang entlastete atmosphärische Darstellung machen ein imposantes Stück Prosa, das im übrigen Roman nur noch selten ähnlich gelungene Seitenstücke findet.
Das scheitert schlicht an der Erzählermanie, alles und jedes im Roman mit Erläuterung und Erklären bis zum Verschwinden zuzustellen. Auf die Idee, daß der Leser die Aufgabe der Scheidung oder Durchdringung von Realem und Imginärem gerne selbst übernehmen würde, kommt Niemann nie. Er kaut ihm mittels Figurenreflexion vor, was er denken soll, terrorisiert ihn geradezu mit der im Kern paranoiden Einsicht, daß alles, was sich ereignet, Funktion eines undurchsichtigen Anderen ist. Man kann dieses Denken auch für religiös halten und Gott als eine Art Weltenverschlinger in und hinter den Medien verorten. Aber auch dieses Denkmotiv, leider, wird uns redselig serviert. Denn nichts Gescheites darf nicht gesagt sein im Roman.
Niemanns „Wie man´s nimmt“ ist sicher kein Generationenroman, als der er schon im Vorfeld der Publikation gehandelt wurde. Aber er ist tatsächlich eine medial und technisch gewendete und zugespitzte Reprise jener totalen Gesellschaftsverwerfung wie sie eine Generation vorher noch als politische Haltung verbreitet war. Der anonyme Apparat ist alles, alles ist der anonyme Apparat. Dadurch, daß er jetzt mit Fernsehen und Kino, Computerspielen und Werbung läuft, ändert sich seine totalisierende Funktion nicht. Un(an)greifbar ist er, in seinen Wirkungen universell.
Die Generation, die mit Pop groß und mit Diskurs- und Medientheorien schlau geworden ist, hat es schwer mit dem schönen alten Instrument des Romans. Sie wird es kaum benutzen können, ohne sich selbst zu verändern. Norbert Niemann hat eine große Anstrengung unternommen, um unter selbst auferlegtem Erzählverbot dennoch einen Roman zu schreiben. Er markiert exakt das Gegenteil von dem, was zur Zeit als unterhaltsame Erzählliteratur gefeiert wird. Niemann flüchtet davor in die überdrehende, die rasende Diskursivierung (während Ingo Schulze die extreme Reduktion wählt). Süffig sind beider Romane nicht. Aber der popsozialisierte und theoriegetriebene Westler mißtraut seinem Medium zutiefst. Noch opfert er in Haßliebe den anderen, den technischen Medien.