Davutoglu habe auch durch die Verhandlungen mit der EU über das Flüchtlingsabkommen ein eigenes politisches Gewicht erlangt, sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag. Dies habe Erdogan nicht gepasst. Er habe keine Zweifel, dass diese Machtdemonstration des Staatschefs weg von der EU führe, meinte Röttgen. Dies sei eine schlechte Nachricht für Europa und die Türkei.
Zur geplanten Visafreiheit für türkische Staatsbürger in der EU äußerte sich Röttgen zurückhaltend. Die EU-Kommission habe dafür klare Bedingungen genannt, meinte der CDU-Politiker. Nun müsse die Türkei auch mit einer stramm auf Erdogan-Linie liegenden neuen Regierung liefern. Sonst komme die Visafreiheit nicht.
Das Interview in voller Länge:
Sandra Schulz: Die Türkei bekommt einen neuen Ministerpräsidenten, die Regierungspartei AKP einen neuen Chef. Gestern kündigte der bisherige Inhaber dieser beiden Ämter, Ahmet Davutoglu, seinen Rückzug an. In einem Konflikt mit Präsident Erdogan hatte er ganz offenbar den Kürzeren gezogen. Als Nachfolger im Gespräch ist unter anderem Erdogans Schwiegersohn.
Und am Telefon ist der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, der CDU-Politiker Norbert Röttgen. Schönen guten Morgen!
Norbert Röttgen: Guten Morgen, Frau Schulz!
Schulz: Nach all dem Rückenwind aus Europa – ist Erdogan jetzt so kraftstrotzend, dass ihn nichts und niemand mehr stoppen kann?
Röttgen: In der Türkei selber hat er noch mal neu die Machtverhältnisse geklärt. Die waren auch klar, gleichwohl hatte Davutoglu eigenes Gewicht erlangt und zweitens gab es auch politische Meinungsverschiedenheiten. In allen für Europa wichtigen Fragen wollte Davutoglu die Türkei in Richtung Europa bringen, Erdogan will das dezidiert nicht. Darum sind das schlechte Nachrichten für Europa. Und auch für die Türkei.
Schulz: Und das heißt, dass die Bundesregierung das auch deutlich als schlechte Nachricht bezeichnen wird?
Röttgen: Ich habe es gerade so bezeichnet, man kann auch keinen Zweifel darüber haben. Welche Worte die Bundesregierung wählen wird, wird man sehen.
Schulz: Verstehen Sie denn, dass die Europäische Union sich jetzt so zurückhaltend äußert? Mogherini, die Außenbeauftragte, sagt, na, wir sprechen jetzt mal mit der Türkei und dann kommen wir zu einem Urteil. Was ist das für ein Schweigen?
Röttgen: Es sind innerstaatliche Vorgänge, die dort stattfinden, und insofern ist das in der diplomatischen und internationalen Reaktion üblich und nicht verwunderlich. Trotzdem darf man und muss man kein Zweifel daran haben, wie diese neue Machtdemonstration, verbunden eben auch mit einer inhaltlichen Klarstellung in Richtung Erdogan, nicht nach Europa hin, sondern von Europa weg bedeutet. Also, was gedacht wird, ist glaube ich klar. Wie man sich erst mal artikuliert, bevor ja auch der Nachfolger da ist, das ist glaube ich üblich und nicht überraschend.
Davutoglu hat zuviel Gewicht bekommen
Schulz: Ist Erdogan zu dieser Machtdemonstration aber nicht gerade deswegen in der Lage, weil er diese starke Rolle jetzt bekommen hat, auch durch den – wie gesagt – Rückenwind ja aus Europa?
Röttgen: Nein, das halte ich wirklich für eine … würde ich für eine Fehlinterpretation halten. Es ist erst mal bemerkenswert … In Ihrer Anmoderation war ja auch von der Marionette Davutoglu die Rede. Das ist eben eine westliche Fehlinterpretation gewesen, Davutoglu hat eben eigenes Gewicht erlangt. Das hat Erdogan gar nicht gepasst, und in allen wichtigen Fragen – Korruptionsbekämpfung, Begrenzung der Macht des Präsidenten, die Kurdenfrage, die Pressefreiheit – hat Davutoglu auch eine andere Richtung entwickelt.
Und die Verhandlungen der Europäer mit Davutoglu, was ja bemerkenswert war, mit ihm eben, was ihm auch internationale Sichtbarkeit und dadurch Gewicht verliehen hat, haben Davutoglu in diesem Kurs bestätigt.
Es ist nun die Frage, wie viel Bestand hat das noch. Aber die Europäer, glaube ich, haben … und auch die Kommission, auch die Bundesregierung haben durch die Verhandlungen und die Aufwertung von Davutoglu diesen Kurs bestätigt, und andererseits hat das dazu geführt, dass damit auch innerstaatlich Davutoglu Macht bekommen hat. Und das hat nun Erdogan beendet, sowohl machtpolitisch wie möglicherweise inhaltlich.
Schulz: Ja, das haben die Vorgänge ja nun gerade gezeigt, welche Rolle die Stärkung aus der Europäischen Union für Davutoglu hatte, der ist ja jetzt weg.
Röttgen: Ja, genau so ist es.
Schulz: Kann es denn bei dem Plan bleiben, die Visapflicht für die Türkei aufzuheben?
Röttgen: Das hängt von der Türkei ab. Es hing schon von der Türkei ab, weil ja die Europäische Union, die Kommission Bedingungen genannt hat, die noch zu erfüllen sind, wesentliche Sicherheitsbedingungen und Fragen der inneren Freiheit. Also eine Antikorruptionsgesetzgebung, eine Reform der Antiterrorgesetzgebung, die polizeiliche Zusammenarbeit. Das muss die Türkei nun liefern. Davon bin ich bislang auch fest ausgegangen, aber nun muss auch die neue Regierung unter einem Ministerpräsidenten, der sicherlich stramm auf Erdogan-Linie ist, dies liefern. Das heißt, die Türkei ist nun am Zuge.
Schulz: Sie sagen das so, als sei das wirklich noch vollkommen offen, in welche Richtung sich die Türkei jetzt entwickelt bis Ende Juni.
Röttgen: Nein …
Schulz: Jetzt hatte Erdogan ja nun gerade ein starkes Signal gesetzt, es gibt Politiker, die daraus jetzt auch schon andere Schlussfolgerungen ziehen. Die Linkenpolitikerin Sevim Dagdelen hat bei uns im Programm vor wenigen Minuten gefordert, das müsse jetzt der Stopp für die Gespräche sein, für die Visafreiheit. Und so hat sie das begründet:
O-Ton Sevim Dagdelen: Ich finde, unter diesen Umständen, wo die Opposition kriminalisiert wird, wo Menschenrechte mit Füßen getreten werden, wo es keine Presse- und Meinungsfreiheit gibt, einen Präsidenten, der sagt: Wer unter mit Ministerpräsident wird, ist ohne Belang, weil es nur darum geht, meine absolute Macht abzusichern – da finde ich, dass die Visafreiheit und auch die Beschleunigung des EU-Beitritts unter dem Bruch von europäischem Recht lediglich die Despotie Erdogans stärken wird.
Die Türkei muss sich entscheiden
Schulz: Lösen Sie das noch mal auf für uns! Wenn diese Visafreiheit jetzt kommt, ist das nicht wirklich das Signal an Erdogan: Mach, was du willst, aber wir entsprechen deinen Wünschen?
Röttgen: Nein, ganz im Gegenteil ist es der Fall. Weil ja die Europäer der Türkei sagen: Wenn das kommen soll – übrigens nur für diejenigen, die über biometrische Pässe verfügen, das sind zurzeit zehn Prozent der Türken, für 90 Tage –, dann müsst ihr Bedingungen erfüllen, die in der Zusammenarbeit der Sicherheit mit uns und auch in der innerstaatlichen Freiheit, die die Türkei verändern würden. Es ist also genau der gegenteilige Prozess. Die Türkei muss sich verändern, wenn sie mit Europa kooperieren möchte. Und jetzt ist es allein an der Türkei zu entscheiden, auch unter normal geklärten Verhältnissen innermachtpolitisch, ob sie dazu bereit ist. Wenn sie das tut, dann wird sie sich durch die Kooperation mit den Europäern verändern. Ob sie dazu bereit sind, wird man sehen, die Verabredung ist so getroffen.
Schulz: Da gibt es ja noch ganz andere Kritik an diesen Verabredungen und diesen Plänen, die kommt aus der CSU, zum Beispiel vom bayrischen Innenminister Herrmann, der lehnt die Visa-Erleichterung auch ab mit dem Argument, das sei schlichtweg eine Gefahr sozusagen für die innere Sicherheit. Der CDU-Innenexperte Bosbach sagt, er fürchtet eine nicht unerhebliche Ausweitung der irregulären Migration. Die Befürchtung haben Sie nicht?
Röttgen: Ich habe sie dann nicht, wenn dieses Abkommen gilt, und nur das steht ja zur Verhandlung. Dieses Abkommen sieht vor eine Ausweitung auch der Sicherheitsleistungen, die die Türkei erbringen muss im Verhältnis zu Europa, die ich für enorm halte. Es wird erstmalig eine wirkliche Zusammenarbeit dann mit Europol geben, es wird überhaupt die Ausstellung von biometrischen Pässen, die ja unter Sicherheitsgesichtspunkten ein Quantensprung sind, vorankommen, und es wird auch innerstaatlich Veränderungen geben müssen. Ansonsten kommt das alles auch nicht.
Es ist ja auch nicht so, dass bislang überhaupt die Türken nicht nach Europa kommen können, sie brauchen eben ein Visum. Und die Ablehnungsquote bei den Visa ist relativ gering. Das ganze Abkommen ist beschränkt, wie ich bereits sagte, auf diejenigen, die einen biometrischen Pass mit enormen sozusagen … mit einer ganz anderen Sicherheitsqualität haben. Bislang sind das zehn Prozent der Türken. Also, ich finde die Kritik von beiden Seiten … Es ist ja auffällig, dass sie sozusagen von ganz unterschiedlichen politischen Seiten kommt, jeweils sozusagen sehr stark aus der eigenen Sicht argumentiert.
Ich finde, man muss auch mal würdigen, was an Veränderung erreicht ist und was der Türkei abverlangt wird. Die einzige und große Frage ist: Erfüllt sie es jetzt auch? Wenn nein, wird das Konsequenzen haben von den Europäern aus, wenn ja, glaube ich, ist das eine qualitative innerstaatliche und außenpolitische Veränderung der Türkei.
Schulz: Norbert Röttgen, der CDU-Politiker heute Morgen im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Unionsintern ist jetzt wieder ein Thema zur Diskussion gestellt, dass Sie ja auch schon länger beschäftigt. Ich würde gerne heute Morgen noch mal fragen, Frage an Sie, Norbert Röttgen: Gehört der Islam zu Deutschland?
Röttgen: Ach, wissen Sie, das ist so eine Testfrage, auf die man jetzt antworten muss, und ich habe offen gestanden keine Lust, über das – es ist okay, wenn Sie die Frage stellen –, aber das journalistische Stöckchenspringen mitzumachen.
Union hat kein Problem mit dem Thema Islam
Schulz: Weil Sie keine Antwort haben?
Röttgen: Nein, weil ich diesen Modus, dass man jetzt irgendwie ein Zitat gebraucht, und dann guckt man jetzt mal zu, wie springt denn jeder über dieses Stöckchen … Wir können über alle Fragen des Islam und auch der Türkei, wie wir das jetzt prima gemacht haben, sprechen, aber diese Art sozusagen, jetzt testen wir mal, was sagt er denn auf diese Frage, das finde ich keinen guten Stil und möchte es nicht mitmachen, bitte dafür um Ihr Verständnis.
Schulz: Okay, jetzt sage ich aber unseren Hörern der Vollständigkeit halber noch, wonach ich Sie gerade gefragt habe: Der Anlass für meine Frage ist, dass der Unionsfraktionschef Volker Kauder sich eben zu diesem Themenkomplex noch mal geäußert hat. Er hat gesagt: Die Äußerungen von Christian Wulff zum Islam, wonach der Islam zu Deutschland gehöre, die halte er für unpräzise und teile sie nicht, wohl aber gehörten Muslime zu Deutschland. Ich muss es noch mal versuchen einfach, damit ich Ihren Standpunkt verstehe: Warum hat die Union so ein Problem damit, mit diesem Themenkomplex? Warum hat die Union ein Problem damit, zu sagen, der Islam gehört zu Deutschland? Was die Kanzlerin ja auch schon längst gesagt hat.
Röttgen: Ich glaube nicht, dass wir zu dem Themenkomplex Islam, wie werten wir den Islam, als Union ein Problem haben. Das sehe ich nicht. Wir haben ja gerade über das Thema Türkei gesprochen, die Türkei ist ein islamisches, großes, bedeutsames Land, wir haben über die konkreten Ansätze gesprochen, wie es zu Veränderungen kommt. Also, ich glaube, auf jede konkrete Sachfrage kriegen Sie von der Union eine sehr plausible Antwort dazu. Wir haben auch unsere Diskussionen dazu. Aber ich glaube, wir haben ein sehr geklärtes Verhältnis und eine sehr konstruktive Politik, mit dem Islam in seinen ganz unterschiedlichen Facetten und Schattierungen und staatlichen und politischen Aufstellungen und auch religiösen Aufstellungen umzugehen.
Schulz: Das halten wir so fest.
Röttgen: Prima.
Schulz: Vielen Dank an den CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen heute Morgen hier bei uns im Deutschlandfunk!
Röttgen: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.