Archiv

Norbert Scheuer: "Die Sprache der Vögel"
Flucht und Pilgerreise zugleich

Von der Kritik wird Norbert Scheuer als wichtige Stimme der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur wahrgenommen - seine Bücher werden häufig als "antiidyllische Heimatliteratur" verstanden. Im Mittelpunkt seines neuen Romans "Die Sprache der Vögel" steht ein junger Mann Anfang 20, der eine schwere Last mit sich herumträgt.

Von Ulrich Rüdenauer |
    Norbert Scheuer beim "Bücherfrühling" von Deutschlandradio Kultur auf der Leipziger Buchmesse 2015
    Norbert Scheuer beim "Bücherfrühling" von Deutschlandradio Kultur auf der Leipziger Buchmesse 2015 (Deutschlandradio / Andreas Buron)
    "Ich hab jetzt erst mal so drüber nachgedacht, und ich bin ja in einer Gaststätte aufgewachsen und hab schon als Fünf-, Sechsjähriger schon mich in der Nähe der Theke aufgehalten und alles, was da immer so abgelaufen ist, waren eigentlich immer Geschichten. Und von manchen werde ich dann so affiziert, dass ich es einfach weitererzähle. Ich bin dann quasi derjenige, der die Geschichte erzählt. Und das ist mir in dem Fall auch passiert."
    In diesem Fall begegnete Norbert Scheuer in der Cafeteria eines Supermarkts in seinem Heimatort Kall einem ehemaligen Soldaten der Bundeswehr, der ihm von seinem Einsatz in Afghanistan erzählte. Bei sich nannte Scheuer ihn den "Schildkrötenmann", weil er stets eine Schildkröte bei sich trug. Die Geschichte dieses Mannes faszinierte Scheuer; zugleich lenkte sie ihn ab von dem Schreibprojekt, das er damals eigentlich verfolgte – und richtete sein Interesse auf Afghanistan. Das ferne Land, was wurde rasch klar, hatte dann aber doch mit dem eigenen Lebensumfeld zu tun hat, mit Kall in der Eifel, wo fast alle Erzählungen und Romane Norbert Scheuers spielen. Kall ist inzwischen zu einem literarischen Ort geworden – mit eigener Topografie, eigenen Familienstammbäumen, eigener Historie. Mit der realen Kleinstadt teilt diese fiktive Stadt einige Merkmale; aber mehr noch entstammt sie der Privatmythologie Norbert Scheuers, der sie im Geiste eines William Faulkner oder Sherwood Anderson architektonisch und mentalitätsgeschichtlich neu erschaffen hat. Kall bildet ein unerschöpfliches Reservoir für sein Schreiben:
    "Wenn ich ein Buch schreibe, dann gibt es da so Nebenfiguren, und es gibt Hauptfiguren, und irgendwann, während ich es schreibe, denke ich mir, oh, vielleicht wäre es interessant, die Geschichte von diesem oder jenem dann später aufzugreifen. Oder aber aus dieser Familie dann jemanden erzählen zu lassen. So ist es ja bei diesem Buch so, dass Arimond, die Familie Arimond, hat ja schon häufig in meinen Romanen eine große Rolle gespielt, aber noch nicht der Paul Arimond, das ist sozusagen eine jüngere Generation, und das kommt mir dann meistens während ich gerade an einem aktuellen Projekt schreibe, komme ich auf so eine Idee."
    Paul Arimond ist ein zurückhaltender, in sich zurückgezogener Mensch von Anfang 20. Er trägt eine Last mit sich herum, eine Schuld. Bei einem Autounfall, den er verursacht hat, wurde sein bester Freund so schwer verletzt, dass er zum Pflegefall wurde – er kann nicht mehr sprechen, muss erst mühsam wieder das Gehen erlernen, vegetiert vor sich hin.
    Das Trauma bringt Paul dazu, sich bei der Bundeswehr zu verpflichten und als Sanitätssoldat nach Afghanistan zu gehen. Es ist das Jahr 2003, es ist ein gefährlicher Einsatz, und die Fahrt in die Fremde ist für Paul Flucht und Pilgerreise zugleich. Von den politischen Hintergründen, den gefährlichen Umständen, der Gewalt und den Menschen in Afghanistan bekommt man in Scheuers Roman nur wenig mit: Paul lässt sich davon kaum berühren. Er beschäftigt sich mit der Tierwelt Afghanistans, er beobachtet Vögel, schreibt ein Tagebuch und macht Zeichnungen (die man in Scheuers Buch ebenfalls sehen kann). Mit dem Vater war Paul als Kind häufig in der Natur, um die Vogelwelt zu studieren. Ihm bringt der kontemplative Akt der Vogelbeobachtung die Heimat nah, die er, wenn er auch vor ihr fliehen möchte, nicht abzuschütteln kann.
    "So funktionieren wir doch alle. Was machen wir hier im Moment in Deutschland, während in der Ukraine was passiert oder während in Afrika Kriege geführt werden, während IS den Terror ausübt. Wir lenken uns ab mit irgendwas. Und ich glaube, dass der Paul genauso funktioniert in Afghanistan. Und die Soldaten, die dort sind, funktionieren auch genau so. Man wird, glaube ich, mit bestimmten Situationen, vor allem mit sehr gefährlichen Situationen nur fertig, indem man sich ablenkt. Und der Paul hat seine Vögel. Die anderen Soldaten haben andere Sachen, während sie da in dem Lager sind. Sie machen Fitness oder sehen fern oder sonstwas."
    Naturbeobachtungen und sich selbst vergessen
    Vor einigen Jahren erschienen die Tagebücher von Jonathan Trouern-Trend, eines amerikanischen Soldaten, der während des Irak-Kriegs Vögel studierte und seine Beobachtungen veröffentlichte. Damals schrieb Marcel Beyer im Vorwort der deutschen Ausgabe von Trouern Trends "Birding Babylon", die Naturbeobachtung müsse als "zivilisatorischer Akt" inmitten der Grausamkeit des Krieges verstanden werden.
    "Ich bin auf eine ganz eigentümliche Art auf diesen Autor gestoßen. Und zwar, als ich das Buch fertig hatte, quasi fertig hatte, man hat ja so verschiedene Stadien, wenn man einen Roman schreibt – also, so weit, dass man ihn abgeben kann, den Roman mal jemandem zum Lesen geben kann. Und für mich war in dem Buch sehr wichtig "Zoologie Afghanistans" von Professor Dr. Gunther Nogge. Es gibt ganz wenige Bücher über die Zoologie Afghanistans, ich glaube, das ist fast das einzige, und dem hab ich das Manuskript geschickt, um sicher zu stellen, dass ich keinen Blödsinn schreibe. Und der hat mir dann zurückgemailt, ob mein Buch im Grunde angelehnt sei an einen gewissen Frank Joosten. Frank Joosten ist ein Soldat, der vier Jahre lang in Afghanistan war. Und während dieser Zeit hat er Vogelaufnahmen gemacht und hat die diesem Professor zur Verfügung gestellt. Also, im Grunde ist dieser Frank Joosten derjenige, der für mich sehr wichtig war, der hat mir dann unheimlich viele Bilder geschickt oder Fotos, die Vögel in dem Lager zeigen, Vögel, an die ich im Traum nicht gedacht hab, also, ganze Schwärme von Bienenfressern, die auf den Nato-Drähten sind, Blauratten – alles das, was man in den Nachrichten überhaupt nicht sieht, auch überhaupt nicht wahrnehmen kann. Und der hat mir dann gesagt, dass er – zusammen mit seinem Kameraden, er hat die Vogelbeobachtungen nicht alleine gemacht -, dass er diesen Jonathan Trend gelesen hat, und jetzt wollten sie das mal aus ihrer Sicht machen, aber richtig. So bin ich dann sozusagen an dieses Buch gekommen als meins schon mehr oder weniger fertig war."
    Bei Trouern-Trend ist das Beobachten der Vögel eine Beschäftigung, die davor bewahrt, sich vom Wahnsinn des Krieges vollkommen lähmen zu lassen. Bei Paul hingegen scheint es auch der paradoxe Versuch zu sein, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, indem er aus der Distanz eine andere, neue Verbindung zur Vergangenheit herstellt: zu seinem Leben in Kall, zu seinem Vater, zu seinem kranken Freund, zu seiner Freundin Theresa, die bezeichnenderweise als Pferdewirtin arbeitet. Und es gibt noch eine tiefere Vergangenheit: Ein Urahn Pauls, Ambrosius Arimond, war im 19. Jahrhundert bereits schon einmal in Afghanistan, um einer Universalsprache der Vögel auf die Spur zu kommen. Ihm eifert Paul nach, sich selbst vergessend, seine Umwelt vergessend, fast auch den Verstand verlierend. "Ich glaube nicht, dass Vögel allein zum Zweck der Fortpflanzung singen. Irgendetwas existiert im Leben, das mehr ist als wir selbst und für das es keine Sprache gibt", schreibt Paul an einer Stelle seines Afghanistan-Tagebuchs. Man könnte diese Projektion Pauls naturromantisch nennen, fast schon metaphysisch.
    "Ja, er begibt sich ja während seiner Zeit in Afghanistan immer mehr in einen reflektierenden Status und denkt über Sachen nach, über die er in Kall wahrscheinlich gar nicht so nachgedacht hat. Und insofern ist das schon sehr metaphysisch. Wenn man die Geschichten, die erzählt werden in dem Roman – es sind ja insgesamt vier Ebenen, die erzählt werden. Einmal die Ebene von Ambrosius, der auf der Suche nach der Universalsprache der Vögel ist, dann gibt es die Geschichte von Theresa, der Freundin von Paul, dann gibt's die Geschichten, die von seinem Vater berichten, der auch ein Vogelnarr war und der sich sozusagen in einen Zustand begeben wollte, in dem er die Sprache der Vögel versteht. Und dieser Zustand ist im Grunde ein Zustand, in dem man eins geworden ist mit allem. Und die Frage ist, wann ist man mit allem eins. Für mich war die Lösung: Man ist mit allem eins, wenn man tot ist, wenn man Teil von allem ist, ein Staubkorn."
    Tatsächlich nimmt Pauls Geschichte noch tragische, traurige Wendungen – und von Anfang an schwebt über Norbert Scheuers Buch etwas Unheilvolles, das immer wieder momentweise in den wundervollen Tierbeobachtungen, in den sanften Beschreibungen der Vogelwelt trostreich aufgehoben scheint. "Möglicherweise schaue ich aus Dummheit so lange auf dieselben Dinge, immer wieder, bis sie in mir verschwinden, vielleicht beobachte ich deswegen so gerne Vögel." Muss auch ein Schriftsteller so lange auf dieselben Dinge schauen, bis sie in ihm verschwinden, bis sie ein Teil von ihm werden?
    "Wenn Sie mich fragen, an welcher Stelle ich am meisten selbst gemeint bin, dann ist das diese Stelle. Mir geht's zumindest so. Ich glaub, dass sich das schon alleine daraus ableitet, dass ich immer an einem Ort bin und immer über den selben Ort schreibe. Wenn ich zum ersten Mal irgendwo herspaziere, sehe ich gar nichts. Aber wenn ich zum 50. Mal diesen Weg gehe, dann ist er irgendwie unbewusst für mich vorhanden und ich kann darüber schreiben. Ob ich die Sachen wirklich da gesehen habe, ist eine andere Sache. Aber das ist etwas, was eine Poetologie für mich ist – ja."
    Norbert Scheuer wird Kall treu bleiben – und diese literarische Welt weiter ausmessen.
    "Ich wüsste nicht, was ich sonst schreiben sollte."
    Norbert Scheuer: "Die Sprache der Vögel". Roman
    Verlag C.H. Beck. München 2015. 238 Seiten. 19,95 Euro.