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Nordirak
"Gegen diese Waffen haben die Kurden keine Chance"

Die irakische Armee hat die Kontrolle über die Stadt Kirkuk im Norden des Landes übernommen. Tausende Kurden sind auf der Flucht. Der Angriff sei eine Reaktion auf das Unabhängigkeitsreferendum, sagte der kurdische Kulturwissenschaftler Feryad Fazil Omar im Dlf. Er appellierte an den Westen, das Selbstbestimmungsrecht der Kurden anzuerkennen.

Feryad Fazil Omar im Gespräch mit Tobias Armbrüster |
    Irakische Soldaten sitzen auf einem Panzer, im Hintergrund Verkehrsschilder
    Am 16. Oktober 2017 haben irakische Soldaten die Kontrolle über die mehrheitlich von Kurden bewohnte Stadt Kirkuk im Nordirak übernommen. (AFP)
    Tobias Armbrüster: Was passiert da gerade in Kirkuk im Norden des Irak? Gestern haben irakische Armee-Einheiten die Kontrolle in der Stadt übernommen, nachdem Kirkuk drei Jahre lang unter kurdischer Verwaltung stand. Kurdische Verwaltung deshalb, weil es kurdische Peschmerga waren, die die IS-Milizen im Jahr 2014 aus Kirkuk vertrieben haben.
    Aber die irakische Zentralregierung in Bagdad, die hat ihren Anspruch auf diese Stadt nie aufgegeben. Deshalb gestern der Einmarsch. Von den Peschmerga-Kämpfern gab es kaum Widerstand. Trotzdem sorgt das Ganze natürlich für gewaltige Spannungen in der gesamten Region.
    Das wollen wir jetzt genauer besprechen mit Feryad Fazil Omar. Er ist Gründer und Leiter des Instituts für kurdische Studien in Berlin, außerdem Bundesvorsitzender der Gesellschaft für bedrohte Völker, und er ist selber geboren und aufgewachsen im kurdischen Nordirak. Schönen guten Morgen, Herr Omar.
    Feryad Fazil Omar: Guten Morgen, Herr Armbrüster.
    Armbrüster: Herr Omar, was hören Sie seit gestern aus Kirkuk?
    Omar: Ich höre nur Trauer. Ich höre Menschen, die vor einer Armee flüchten, die nicht nur aus irakischer Armee besteht, sondern diese Armee, die gestern die Stadt Kirkuk angegriffen hat, besteht aus der teiliranischen Armee und aus den Söldnern, die die irakische Regierung beauftragt hat, um die Kurden aus der Stadt Kirkuk zu vertreiben.
    "Die meisten sind aus der Stadt geflüchtet"
    Armbrüster: Und gelingt ihnen das? Flüchten die Kurden alle aus Kirkuk?
    Omar: Gestern sind sie alle geflüchtet. Die meisten sind aus der Stadt geflüchtet. Wissen Sie, man muss an die Geschichte dieser Stadt denken. Die Stadt Kirkuk ist tatsächlich heute eine multiethnische Stadt. Das heißt, in der Stadt Kirkuk leben neben einer großen Mehrheit der Kurden auch andere religiöse und ethnische Minderheiten. Aber die Kurden verneinen das nicht und sie respektieren auch die ethnoreligiösen Gruppen in der Stadt. Aber historisch und geografisch gesehen ist die Stadt Kirkuk eine kurdische Stadt.
    "Die Mehrheit in Kirkuk hat für dieses Referendum gestimmt"
    Armbrüster: Darauf können wir vielleicht gleich noch mal blicken, auf diesen Charakter dieser Stadt. Aber zunächst mal die Frage, die, glaube ich, viele Menschen heute beschäftigt. Das ist die große Frage, ob da jetzt noch ein weiterer Bürgerkrieg im Irak beginnt. Was ist da Ihre Einschätzung?
    Omar: In einem Interview habe ich am 21. September, als die irakische Armee oder die sogenannte irakische Armee in Zusammenarbeit mit der iranischen Armee eine Stadt im Südwesten von Kirkuk angegriffen hat, behauptet, dass dieser Angriff dafür gemacht wird, dass sie bald die Stadt Kirkuk angreifen werden. Oder in der Zeit war geplant, dass das Referendum in der Stadt Kirkuk nicht stattfinden dürfte. Aber das Referendum hat stattgefunden. Die Mehrheit der Menschen in der Stadt Kirkuk haben für dieses Referendum gestimmt und seit gestern greift diese sogenannte pseudoirakische Armee die Kurden in der Stadt an.
    Armbrüster: Und werden diese Einheiten jetzt weiter vorrücken?
    Omar: Ich denke schon, dass sie das vorhaben. Sie dürfen nicht vergessen, dass diese sogenannte Sicherheitszone, die nach 1991 von den Alliierten für die Kurden im Nordirak eingerichtet worden war, nur aus drei kurdischen Städten bestand, und die anderen kurdischen Gebiete standen unter der Regierung in Bagdad. Aber als ISIS kam, haben die Kurden mit Blut diese Gebiete verteidigt und unter ihre eigene Kontrolle gebracht, und die irakische Regierung plant heute dafür, diese Gebiete alle wieder unter ihre eigene Kontrolle zu bringen.
    "Ich verstehe die Weltöffentlichkeit nicht"
    Armbrüster: Sie haben es korrekt gesagt: Das Ganze muss gesehen werden im Zusammenhang mit dem kurdischen Unabhängigkeitsreferendum vor wenigen Wochen. Da haben auch die Bürger in Kirkuk mit abgestimmt. Trotzdem muss man ja rückblickend fragen: War es geschickt, dieses Unabhängigkeitsreferendum zu veranstalten, ohne zunächst in Verhandlungen einzutreten mit der Zentralregierung in Bagdad? Denn die holt sich jetzt quasi ja zurück, was sie meint, was ihr gehört und was sie sozusagen vor einem unabhängigen Kurdistan retten muss.
    Omar: Ich denke, dass dieses Referendum gerecht war. Ein Volk, welches seit fast Jahrhunderten unterdrückt wird in dieser Region, hat das Recht, freiwillig, nachdem sie 25, 26 Jahre in ihrer Region regiert haben, das Volk zu fragen, ob sie ein Selbstbestimmungsrecht haben möchten. Mehr als 92 Prozent des Volkes haben mit Ja geantwortet.
    Ich verstehe die Weltöffentlichkeit nicht. Ich verstehe Deutschland und die Amerikaner und die Franzosen nicht. Warum respektieren sie das nicht, dass hier das Volk Ja zur Selbstbestimmung gesagt hat? Dass die irakische Regierung eine Marionette in den Händen von der iranischen Regierung ist, das wissen wir alle. Und wir wissen alle: Die irakischen Regierungen und die arabischen Regierungen haben, historisch gesehen, nie die Kurden im Irak respektiert, und wie wir seit gestern sehen werden sie weiter die nicht respektieren.
    Armbrüster: Aber war es denn respektvoll und war es vor allen Dingen politisch klug, in dieses Referendum auch die Stadt Kirkuk mit einzubeziehen, weil diese Stadt stand ja nun bis vor drei Jahren definitiv nicht unter kurdischer Aufsicht und gehörte auch nie zu den offiziellen kurdischen Gebieten?
    Omar: Wissen Sie, ich habe am Anfang gesagt, historisch gesehen ist die Stadt kurdisch. Geografisch gesehen gehört sie zu den kurdischen Gebieten. In dieser Stadt haben die Kurden seit drei Jahren ihre eigenen Institutionen aufgebaut. Und nach drei Jahren haben sie gesehen, die Zeit ist gekommen. Die ethnischen Gruppierungen in der Stadt haben mehrheitlich auch mitgemacht. Sie haben nicht dagegen gestimmt. Es gab natürlich Neinstimmen. Das muss man betonen und sagen. Aber ich denke, sie haben das Recht.
    Aber ob es sich gelohnt hat, da muss man die kurdischen Politiker fragen. Sie müssen doch kalkuliert haben. Sie müssen die Amerikaner gefragt haben, die Alliierten gefragt haben, dass sie so etwas vorhaben. Aber die Reaktionen am Anfang waren nicht mit einem deutlichen Nein, machen Sie das nicht. Aber später, als sie gesehen haben, dass die Kurden vorhaben, das doch zu verwirklichen, haben sie alle Nein gesagt, und da war es zu spät leider.
    "Gegen diese Waffen haben die Kurden keine Chance"
    Armbrüster: Nach diesem Einmarsch der irakischen Armee, ist es da jetzt vorbei mit der künftigen militärischen Zusammenarbeit zwischen kurdischen Peschmerga und irakischen Soldaten? Ist das Geschichte?
    Omar: Wissen Sie, die Amerikaner und die Alliierten – Deutschland nehmen wir auch nicht heraus – haben eine pseudoirakische Armee aufgebaut mit modernsten Waffen. Gegen diese modernen Waffen haben die Kurden keine Chance, keine Möglichkeit, einen Widerstand zu leisten. Wir haben gestern gesehen, als die modernsten Panzer, die amerikanischen Panzer Richtung Kirkuk gerollt waren, dass den Menschen nichts anderes übrig blieb als zu fliehen. Ich denke, eine Zusammenarbeit nach dem, was gestern geschehen ist, ist für mich kaum vorstellbar. Aber Sie wissen doch, dass die Politik vieles schafft und vieles macht.
    Armbrüster: ... sagt hier bei uns im Deutschlandfunk Feryad Fazil Omar, Gründer und Leiter des Instituts für kurdische Studien in Berlin. Und wir haben mit ihm gesprochen über die aktuelle Lage in Kirkuk. Vielen Dank, Herr Omar, für Ihre Zeit heute Morgen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.