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Nordisrael
"Wir sind hier in einem Schnellkochtopf"

Israel sieht sich im Norden von der mit dem Iran verbündeten Hisbollah bedroht. Diese habe den Südlibanon zu einer Raketenabschuss-Station gemacht, so die Regierung. Eine Eskalation scheint nicht unmittelbar bevorzustehen, doch Bewohner der Grenzregion wie Clairy Lishansky empfinden die Lage als angespannt.

Von Tim Aßmann |
    Clairy Lishansky betreibt ein Hotel in Metulla im Norden Israels an der Grenze zum Libanon
    Clairy Lishansky betreibt ein Hotel in Metulla im Norden Israels an der Grenze zum Libanon. "Jede Minute kann etwas passieren, aber man gewöhnt sich daran", sagt sie. (Deutschlandradio/ Tim Aßmann)
    Clairy Lishansky ist eine Institution in Metulla. Die Lishanskys gehörten zu den Gründern des Ortes. 1896 war das. Clairy betreibt nun ein kleines Hotel und ein Restaurant am Rand der 3.000-Einwohner-Gemeinde und in Sichtweite der Grenze. Wie ein Fingernagel ragt Metulla hinein in libanesisches Gebiet, ist an drei Seiten vom Nachbarland umgeben.
    "Seit dem Krieg 2006 ist es mehr oder weniger ruhig. Wir sind hier in einem Schnellkochtopf. Jede Minute kann etwas passieren, aber man gewöhnt sich daran. Für die Kinder ist es hart. Wenn jetzt mitten in der Nacht etwas passiert, müssen sie aus ihren warmen Betten raus. Es ist nicht einfach, aber wir leben nun einmal hier. Das ist unsere Heimat."
    Als Mitte Februar eine mutmaßlich iranische Drohne über den nicht weit entfernten Golanhöhen abgeschossen wurde, heulten auch in Metulla die Luftschutzsirenen.
    "Der Alarm war am frühen Morgen. Ich brachte alle Gäste in den Bunker. Wir hatten drei Kleinkinder dabei, die natürlich Angst hatten und weinten, aber wir kamen zurecht. Nach rund zehn Minuten konnten wir den Bunker dann wieder verlassen."
    Die Armee informiert per WhatsApp
    In den letzten Monaten hat Clairy Lishansky die Lage in Metulla angespannter empfunden als zuvor. Die Manöver der israelischen Armee hätten zugenommen, erzählt die 77-Jährige. Sie und die anderen Einwohner werden von der Armee mit WhatsApp-Nachrichten auf ihre Smartphones über die Übungen und mögliche Ernstfälle informiert.
    Von einem Hügel oberhalb von Metulla kann man weit in den Südlibanon hinein sehen. Ortschaften, Straßen und Felder sind zu erkennen. Die Szenerie wirkt friedlich. Nur eine israelische Sperrmauer in einiger Entfernung erinnert daran, dass dies keine normale Grenze ist.
    Kobi Marom hat hier gedient. 25 Jahre war er in der israelischen Armee. Zuletzt kommandierte er als Oberst eine Brigade rund um Metulla. Nun arbeitet er für ein renommiertes Sicherheitsinstitut und ist ein gefragter Experte, wenn es um Israels nördliche Grenzen geht. Den Vorfall mit der Drohne, den darauffolgenden israelischen Angriffen auf mutmaßlich iranische Stellungen in Syrien und den Abschuss eines israelischen Jets durch die syrische Armee nimmt Marom sehr ernst. Der Iran versuche sich direkt und auch in Form von schiitischen Milizen in Syrien militärisch festzusetzen und Israel versuche rote Linien zu ziehen, erklärt der Ex-Offizier:
    "Für Israel ist es wichtig bei diesen roten Linien nicht nachzugeben, um so künftigen Herausforderungen begegnen zu können. Die iranischen Bemühungen stehen noch am Anfang."
    An eine unmittelbar bevorstehende Eskalation glaubt Kobi Marom nicht. Daran hätten weder der Iran noch die mit ihm verbündete schiitische Hisbollah-Miliz ein Interesse, sagt er, und lässt seinen Blick dann wieder Richtung Libanon schweifen.
    Kobi Marom war 25 Jahre in der israelischen Armee und arbeitet jetzt als Experte für ein Sicherheitsinstitut
    "130.000 Raketen genau hier vor unserer Nase": Sicherheitsexperte Kobi Marom sieht die Raketen der Hisbollah als größte Bedrohung für Israel (Deutschlandradio/ Tim Aßmann)
    Süden des Libanons als Raketenabschussstation?
    Genau wie die israelische Regierung und die Armeeführung ist auch Marom davon überzeugt, dass die Hisbollah den Süden des Nachbarlandes zu einer großen Raketenabschuss-Station gemacht hat:
    "Es gibt Schätzungen, wonach in einem künftigen Konflikt die Hisbollah mindestens 1.500 Raketen pro Tag auf Israel abschießen würde. Selbst mit all unseren modernen Systemen können wir eine solche Menge nicht abwehren. Das ist ohne Frage die größte Bedrohung für Israel – diese 130.000 Raketen genau hier vor unserer Nase."
    Marom und viele andere Experten halten einen Krieg zwischen Israel und der Hisbollah für unausweichlich, glauben aber nicht, dass er jetzt unmittelbar bevorsteht. Dass die Hisbollah über Syrien mit iranischen Waffen versorgt wird, steht für den Militärexperten Marom fest. Und auch, dass die UN-Soldaten im Südlibanon daran gescheitert sind, eine Wiederbewaffnung der Hisbollah in der Grenzregion zu verhindern:
    "Wir haben eine spanische Brigade hier, als Teil der UN-Truppen. Nette Jungs. Sie genießen die Sonne und kriegen gutes Geld, aber verhindern sie Waffenlieferungen vom Iran an die Hisbollah? Leider nicht."
    Die Landkarte zeigt den Libanon und einen Teil Syriens und Israels.
    Die Karte zeigt den Libanon und einen Teil Syriens und Israels. Das Örtchen Metulla liegt in der Spitze, die nördlich des Sees Genezareth in den Libanon hineinragt. (Screenshot Google Maps, 19.8.2017)
    Unifil-Sprecher: Keine Waffentransporte in den Süden festgestellt
    Das sieht Andrea Tenenti ganz anders. Der Italiener ist Sprecher von Unifil, jener rund 10.500 Mann starken Truppe, die im Südlibanon entlang der israelischen Grenze und auf Schiffen vor der Küste operiert:
    "Wir haben 450 Patrouillen am Tag und wir nehmen die Sorge der Konfliktparteien sehr ernst, wenn wir Informationen über Waffen im Süden bekommen. Aber in den letzten zehn, zwölf Jahren haben wir außer sporadischen Funden keine Waffentransporte in den Süden festgestellt."
    Unifil arbeitet eng mit der libanesischen Armee zusammen. Das Einsatzgebiet liegt zwischen dem Litani-Fluss im Südlibanon und der israelischen Grenze. Die Blauhelme würden weder Milizen noch deren Waffen sehen, versichert Andrea Tenenti. Zwischen der zurzeit hitzigen Rhetorik auf beiden Seiten und der Realität vor Ort klaffe eine große Lücke, sagt der Unifil-Sprecher:
    "Die letzten zwölf Jahre hier im Süden gehörten zu den ruhigsten in der jüngeren libanesischen Geschichte. Abgesehen von einzelnen, sporadischen Zwischenfällen war die Lage ruhig und stabil."
    Der Unifil-Sprecher Tenenti, der israelische Ex-Oberst Marom und die Hotelbesitzerin Lishansky – sie alle glauben nicht an eine unmittelbar bevorstehende Eskalation, aber sie alle erinnern auch an die Situation vor gut zwölf Jahren. Damals schien alles ruhig. Dann überfiel die Hisbollah eine israelische Patrouille und was folgte, war der zweite Libanon-Krieg. Dieses Risiko, dass die Konfliktparteien an Israels Nordgrenzen in eine Spirale aus Aktion und Reaktion geraten, aus der sie nicht mehr herausfinden, sehen Experten auch jetzt.