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Nordkorea-Experte Ballbach
„Abschreckung alleine führt nicht zum gewünschten Ziel der Denuklearisierung“

Es sei besorgniserregend, mit welcher Geschwindigkeit Nordkorea sein Atom- und Raketenprogramm vorangetrieben habe, sagte der Asienexperte Eric J. Ballbach im Dlf. Der Westen müsse mit Abschreckung und neuen Verhandlungsansätzen reagieren.

Eric J. Ballbach im Gespräch mit Stephan Detjen |
Das Bild zeigt wie der nordkoreanische Führer Kim Jong-un während einer Sitzung der Arbeiterpartei Nordkoreas in der Parteizentrale in Pjöngjang spricht (30.12.2022)
"Wir müssen mit Nordkorea am Ende wieder ins Gespräch kommen, insbesondere angesichts des vollständigen Stillstandes, den wir im Dialog mit Nordkorea seit 2019 eigentlich schon beobachten können," erklärt Eric J. Ballbach von der Stiftung Wissenschaft und Politik im Dlf (IMAGO / UPI Photo / IMAGO / Office of the North Korean gover)
Unmittelbar vor Silvester hat der nordkoreanische Diktator Kim Jong-un eine drastische Ausweitung seines Atomwaffenarsenals angekündigt und von Kriegsvorbereitungen gesprochen. Etwa 60 Tests mit atomwaffenfähigen Raketen hat Kim 2022 durchgeführt. Auch in den ersten Tagen dieses Jahres wurde wieder eine Testrakete abgefeuert. Die USA, Südkorea, Taiwan und Japan sind besonders alarmiert.

Asienexperte Ballbach fordert Verhandlungen mit Pjöngjang

Der Nordkorea-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Eric J. Ballbach, fordert angesichts der nuklearen Aufrüstung in Nordkorea neue Verhandlungen und mehr Aufmerksamkeit für die koreanische Halbinsel. Ballbach sagte im „Interview der Woche“ des Deutschlandfunks, es sei „sehr besorgniserregend, mit welcher Geschwindigkeit Nordkorea sein Nuklear- aber auch seine Raketenprogramme in den letzten Jahren vorangetrieben“ habe.
Der Westen müsse darauf einerseits mit Abschreckung, aber auch mit neuen Verhandlungsansätzen reagieren. „Wir müssen mit Nordkorea am Ende wieder ins Gespräch kommen“, sagte Ballbach. Aus Sicht des Regimes in Pjöngjang sei eine Denuklearisierung dabei keine Option mehr. Weder Sanktionen noch Abschreckung alleine hätten das Land dazu bewogen, von seinem Weg der atomaren Aufrüstung abzugehen. „Hier müssen wir neue Wege beschreiten“, forderte Ballbach. Es gehe zunächst darum, die Gefahren, die von Nordkorea ausgingen, „irgendwie zu managen“, um einen Wiedereinstieg in den Dialog zu ermöglichen.

Ballbach: Nordkorea ist ein rationaler Akteuer

Ballbach zufolge ist der nordkoreanische Diktator Kim Jong-un ein Akteur, der einer eigenen Rationalität folgt. Diese sei aus westlicher Sicht verheerend; Kim als unzurechenbar oder irrational einzuschätzen sei aber unzutreffend. Es gehe daher darum, für einen Sanktionen-Plus-Ansatz Themen zu finden, die sowohl für Nordkorea als auch für den Westen zentral seien. Dazu gehöre auch die Wirkung der Sanktionen auf die nordkoreanische Bevölkerung sowie Fragen der Gesundheit und Umwelt.
In Deutschland müsse das Thema Korea in Wissenschaft und Ministerien wichtiger werden. „Hier mangelt es noch immer an dauerhafter Kompetenz zur koreanischen Halbinsel“, sagte Ballbach. Andere EU-Mitgliedsstaaten seien Deutschland in diesem Bereich „einen Schritt voraus“.
Das Interview im Wortlaut:
Stephan Detjen: Wie kann und wie soll man auf die Drohungen Kims reagieren? In Deutschland gibt es nur ganz wenige Fachleute, die sich seit Jahren intensiv mit Nordkorea beschäftigen. Einer von ihnen ist der Politikwissenschaftler Eric J. Ballbach von der Stiftung Wissenschaft und Politik, dem von der Bundesregierung finanzierten, aber politisch unabhängigen außenpolitischen Thinktank in Berlin.
Fangen wir mit den Fakten an, die wir kennen. Die Flugstrecke von Berlin nach Pjöngjang ist gut 8.000 Kilometer. Die Reichweite einer nordkoreanischen Hwasong-17 Langstreckenrakete beträgt 15.000 Kilometer. Müssen wir uns bewusst sein, dass auch Deutschland unmittelbar von der Atomaufrüstung Kim Jong-uns bedroht ist?
Eric J. Ballbach: Sicherlich. Auch, wenn Deutschland nicht im Ziel nordkoreanischer Militärpläne steht, ganz sicher nicht, ist es dennoch sehr besorgniserregend, mit welcher Geschwindigkeit Nordkorea sein Nuklear- aber auch seine Raketenprogramme in den letzten Jahren vorangetrieben hat. Sie haben das ganz richtig gesagt. Das vergangene Jahr war das Jahr mit den meisten Tests. Aber es ist eben nicht nur die Quantität, die hier zählt, sondern wenn man genauer schaut, sieht man eben sehr schnell, dass es Nordkorea vor allem um Diversifizierung geht, sprich um Trägersysteme, die mehr als einen Sprengkopf rein theoretisch transportieren können, um Raketen, die schneller transportiert werden können, die schwerer zu entdecken sind und damit auch schwerer abzufangen sind. Das sind die Pläne, die Nordkorea mit einem neuen Modernisierungs-, militärischen Modernisierungsprogramm vorantreibt, was wir eben in den letzten Jahren hier ja auch sehr genau beobachten können.
Ein Fernsehbildschirm zeigt am 20.12.2022 das Bild einer nordkoreanischen Rakete mit Testsatelliten während einer Nachrichtensendung
Mit der Rhetorik Nordkoreas solle auch der Zusammenhalt innerhalb des Landes gestärkt werden, so Ballbach von der Stiftung Wissenschaft und Politik (IMAGO / ZUMA Wire / IMAGO / Kim Jae-Hwan)

"Es geht in der nordkoreanischen Rhetorik stets um die existenzielle Bedrohung von außen"

Detjen: Was Sie da schildern, ist ja ein bedrohliches Arsenal. Jetzt ist natürlich die Frage: Was hat der Mann damit vor? Kim Jong-un hat in der bereits erwähnten Rede kurz vor dem Jahreswechsel gesagt, Nordkorea müsse 2023, also im jetzt begonnenen Jahr, Vorbereitungen für eine Mobilisierung für den Krieg treffen. Was will er damit sagen?
Ballbach: Die Rhetorik Nordkoreas ist früherer Rhetorik doch sehr ähnlich. Es geht in der nordkoreanischen Rhetorik stets um die existenzielle Bedrohung von außen. Damit soll zum einen natürlich der Zusammenhalt nach innen gestärkt werden. Es soll aber auch eine Legitimierung für das Nuklearprogramm darstellen. Denn auch ein Land wie Nordkorea muss am Ende ein so ressourcenintensives Programm wie das Nuklearprogramm vor der eigenen Bevölkerung rechtfertigen. Auf der einen Seite haben wir also eine sehr konsistente Rhetorik Nordkoreas, aber wenn wir genauer hinschauen, sehen wir eben, dass die Rhetorik das eine ist, die tatsächlichen nordkoreanischen Handlungen sind das andere. Und hier sehen wir durchaus eine Änderung, sowohl im internen als auch im externen regionalen Kontext Nordkoreas.
Detjen: Welche Änderungen sind das?
Ballbach: Das ist zum einen geopolitisch betrachtet natürlich mit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, aber auch mit der Verstärkung, mit der Verschärfung des Konfliktes zwischen den USA und China. Das hat die Rahmenbedingungen in Ostasien geändert und die strategische Bedeutung Nordkoreas, sowohl für Russland als auch für China eben noch mal enorm vergrößert. Wir sehen also, dass sich der regionale Kontext verändert, aber gleichzeitig ist es eben auch der interne Kontext. Militärisch betrachtet hat Nordkorea enorme Fortschritte gemacht im Vergleich zu früheren Krisen und mit der neuen Nukleargesetzgebung vom letzten Jahr eben auch die institutionellen und rechtlichen Rahmenbedingungen geändert.
Detjen: Neue Gesetzgebung, wenn man das erklären kann, das bezieht sich, vermute ich, auf eine Gesetzgebung, die auch beinhaltet, dass sich Nordkorea, dass sich Kim Jong-un die Option nuklearer Erstschläge vorbehält. Das ist doch schon auch, sagen wir, rhetorisch oder jedenfalls in der die tatsächliche Rüstung umrankenden Rhetorik eine ganz neue Dimension.
Ballbach: Das ist ein neuer institutioneller und rechtlicher Kontext den Nordkorea mit dem neuen Gesetz, Nukleargesetz geschaffen hat. In einer ersten Gesetzgebung 2013 hieß es noch, dass das eigene Nuklearprogramm rein defensiv ausgerichtet sei. Sprich man wolle sich schützen gegen mögliche Angriffe von außen. Und wie Sie richtig sagen, in der neuen Gesetzgebung ist jetzt explizit von einer sogenannten zweiten Mission des Nuklearprogramms die Rede, sprich man behält sich die Möglichkeit potenzieller Erstschläge vor, aber – und das ist eine zweite wichtige Änderung – man hat auch die Rahmenbedingungen geändert im Hinblick auf die Entscheidungsfindung, wer einen Einsatz von Nuklearwaffen in Nordkorea überhaupt befehligen kann. Das war zuvor nur Kim Jong-un . Und jetzt ist eben sozusagen die Entscheidungsbefugnis weiterdelegiert worden. Falls Kim Jong-un beispielsweise im Rahmen eines gezielten sogenannten Kill-Chain-Schlags Südkoreas oder der USA ausgeschaltet werden sollte, hat man sich hier eben jetzt auch den Rahmen geschaffen, auch in einem solchen Notfall diese Befehlsgewalt zum Einsatz von Nuklearwaffen zu delegieren.

Verzerrte Wahrnehmung Nordkoreas

Detjen: Das spricht ja alles dafür, dass wir es da mit einem sehr systematischen, sorgfältig geplanten, durchdachten Vorgehen in Nordkorea zu tun haben. Und das steht dann in dem Gegensatz zu den, ja, sprichwörtlich zu den Bildern, die wir uns gerne von diesem Diktator Kim Jong-un machen, der da als eine fremdartige Gestalt erscheint, den man vielleicht gern auch als einen Verrückten sehen würde. Was ist das für einer?
Ballbach: Das ist ein ganz, ganz wichtiger Punkt, den Sie ansprechen. Denn diese Attribute, diese Zuschreibungen, mit denen in den letzten Jahren, Jahrzehnten in Bezug auf Nordkorea immer wieder gearbeitet wurde, haben unsere Wahrnehmung von Nordkorea tatsächlich verzerrt. Wie Sie es sagen, es wird oft das Bild von einem unzurechenbaren, gar irrationalen Akteur hier gezeichnet. Und das ist schlichtweg nicht zutreffend. Es ist eine eigene Rationalität, in der Nordkorea operiert, aber es ist eine rationale Entscheidung, die dieses Land getroffen hat. Die Folgen dieser Rationalität sind natürlich politisch von unserer Seite aus betrachtet natürlich verheerend und stehen unseren politischen Zielen, diametral entgegen. Aber es ist nichtsdestotrotz ein rationaler Akteur, mit dem wir es hier zu tun haben.
Das zeigt auch, dass die Macht in der Familie jetzt bereits in die dritte Generation vererbt wurde, und dass hier sehr gezielt auch auf internationale Entwicklungen reagiert wird. Nachdem beispielsweise, wie gerade gesagt, in Südkorea diese Debatte um eine Kill-Chain-Strategie, also sprich der gezielten Ausschaltung der nordkoreanischen Führung, wieder aufgetaucht ist nach fünf Jahren eher liberaler, zurückhaltender Regierung in Südkorea, hat Nordkorea reagiert mit dieser neuen Nuklearstrategie. Das sind Reaktionen auf Veränderungen des regionalen und internationalen Kontextes, auf die Nordkorea ganz gezielt reagiert.
Dieses am 19. November 2022 von der nordkoreanischen Regierung veröffentlichte Foto zeigt den nordkoreanischen Staatschef Kim Jong-un, bei der Inspektion einer angeblichen Hwasong-17 Interkontinentalrakete auf dem internationalen Flughafen von Pjöngjang
Laut nordkoreanischer Regierung inspiziert Kim Jong-un im November 2022 eine der angeblichen Hwasong-17 Interkontinentalrakete auf dem internationalen Flughafen von Pjöngjang (IMAGO / UPI Photo / IMAGO / Office of the North Korean gover)
Detjen: Sie haben eben schon angedeutet, Herr Ballbach, dass man sich Kim Jong-un nicht als monolithisches Machtzentrum vorstellen muss, sondern dass es da noch andere Akteure gibt. Welche unterschiedlichen Interessen und vielleicht auch Interessengegensätze oder sogar Machtkämpfe kann man in diesem Land beobachten?
Ballbach: Also, über die innere Entscheidungsfindung und internen Prozesse im Machtapparat Nordkoreas wissen wir in der Tat nur sehr, sehr wenig, haben wir nur sehr wenig gesicherte Informationen. Wir wissen, dass es unterschiedliche Interessen in Nordkorea gibt. Das haben wir beispielsweise zu Anfang der Amtsperiode von Kim Jong-un 2011/2012 sehr deutlich gesehen, wo ein sehr starker Fokus auf die ökonomische Entwicklung gelegt wurde, wo, wie manche Beobachter sagten, gar erste Anzeichen sichtbar wurden von dem Entstehen einer neuen Mittelschicht. Sprich es gab die sogenannten Donjus. Das sind die Leute, die gerade unter Kim Jong-un zu Geld gekommen sind. Es gab Marktaktivitäten. Die Märkte in Nordkorea hatten eine weitaus größere Rolle auch in der Versorgung der Bevölkerung gespielt als früher. Da haben wir schon gesehen, dass es unterschiedliche Interessen gibt.
Aber es gibt eben auch die ganz deutlichen militärischen Machtblöcke, die eben auf diese Forcierung des Nuklearprogramms und Raketenprogramms pochen. Und wir müssen ganz deutlich sagen, die nordkoreanische Strategie, offiziell Byongjin genannt, also die simultane Entwicklung sowohl der nationalen Wirtschaft als auch der nationalen Verteidigung ist in der Realität so nicht aufrechtzuerhalten. Denn in der Realität führt eben die fortgesetzte Entwicklung des Nuklear- und Raketenprogramms zu immer stärkeren Restriktionen und Sanktionen und zu einer immer weiter eingeengten Möglichkeit Nordkoreas, auch international ökonomisch zu operieren.

„Derzeit keine Hinweise auf Instabilität des politischen Regimes in Nordkorea“

Detjen: Und dann kam Covid noch hinzu mit einer noch rigideren Abschottung des Landes. Es kamen dann im Mai die ersten Covid-Fälle oder wurden jedenfalls gemeldet. Ein paar Monate später, im August hat Kim Jong-un dann verkündet, die Pandemie sei besiegt worden im Land. Wie hat sich das ausgewirkt? Und noch einmal zusammenfassend gefragt: Wie stabil ist dieses System, gerade unter diesen extremen Belastungen durch die innere Aufrüstung und die Sanktionen?
Ballbach: Also, wir haben derzeit keine Hinweise auf Instabilität des politischen Regimes in Nordkorea. Und wir haben auch gesehen, dass sich die vergangenen zwei, drei Jahre offensichtlich nicht negativ auf die Herrschaft Kim Jong-uns ausgeübt haben. Wir sehen aber schon natürlich, dass dieses Regime unter Stress steht. Diese enorme Abschottung, die Nordkorea nicht nur einerseits durch die internationalen Sanktionen erlebt, sondern insbesondere durch den selbstauferlegten nationalen Lockdown seit Januar 2020. Das hat dramatische Auswirkungen auf Nordkorea, die sich eben immer weiter von der internationalen Gemeinschaft abgeschottet haben. Und das ist auch ein zentraler Unterschied zu vorherigen Krisen.
Das Bild vom 30.12.2022 zeigt wie der nordkoreanische Führer Kim Jong-un während einer Sitzung der Arbeiterpartei Nordkoreas in der Parteizentrale in Pjöngjang spricht
Nordkorea ist durch internationale Sanktionen isoliert (IMAGO / UPI Photo / IMAGO / Office of the North Korean gover)

Die USA und Nordkorea

Detjen: Was heißt das alles für den Westen? Es gibt da eine lange Geschichte von unterschiedlichen diplomatischen Ansätzen, mal mit verschärftem Druck, mal mit diplomatischen Bemühungen aufeinander zugehen, mit Nordkorea ins Gespräch zu kommen. Donald Trump hat sich 2018/2019 zweimal mit Kim getroffen, einmal in Singapur, einmal in Hanoi. Das zweite Treffen in Hanoi wurde dann abrupt abgebrochen. Was haben Sie damals von der Initiative Trumps gehalten? War das grundsätzlich ein richtiger Ansatz?
Ballbach: Ich glaube, dass es eigentlich ein geschickter Schachzug war, Kim Jong-un auf die Denuklearisierung zu verpflichten. Der Fehler war eben, dass es nicht gelang, einen stabilen Verhandlungsmechanismus auf Arbeitsebene parallel ins Leben zu rufen. Denn auf Führungsebene können so komplizierte Dinge wie Denuklearisierung eines de facto Nuklearstaates eben nicht verhandelt werden. Dazu braucht es langfristige, stabile Gespräche auf Arbeitsebene. Und die sind eben in der Realität nur zweimal zustande gekommen. Und das war schlichtweg zu wenig.
Der damalige US-Präsident Donald Trump und der nordkoreanische Staatschef Kim Jon-un reichen sich die Hände bei einem Treffen 2019 in der entmilitarisierten Zone zwischen Nord- und Südkorea
Im Juni 2019 fand eines der Treffen zwischen dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump und dem nordkoreanischen Staatschef Kim Jon-un statt (imago images / ZUMA Wire / White House, via www.imago-images.de)
Detjen: Es wird ja auch gerade in diesen Tagen, in dieser Zeit wieder auch in den USA gerade unter Experten lebhaft darüber diskutiert, wie sich die USA jetzt verhalten sollen. Da gibt es zwei Linien, grob gesagt. Die einen sagen, Kim hat sich seit Jahren nicht zu einer nuklearen Abrüstung bewegen lassen. Die einzige Antwort kann jetzt nur noch eine wirksame und verstärkte Abschreckung sein, bis hin dann möglicherweise zu einer nuklearen Aufrüstung Südkoreas oder sogar Taiwans und Japans. All das ist im Gespräch. Die anderen sagen, um eine solche Eskalationsspirale zu vermeiden, sollten die USA jetzt einseitige Schritte auf Kim Jong-un zugehen, neue Verhandlungen, möglicherweise auch Lockerungen des Sanktionsregimes anbieten. Was ist Ihr Rat?
Ballbach: Das ist sehr, sehr schwierig, diese Frage. Die Strategie der USA besteht derzeit, man kann sagen oder beruht derzeit auf zwei Säulen. Das ist zum einen das Angebot an Nordkorea, ohne Vorbedingungen zu Verhandlungen mit Pjöngjang bereit zu sein. Und auf der anderen Seite eben die Stärkung der Allianz mit Südkorea. Wie Sie gesagt haben, es geht um verstärkte Abschreckung, die Wiederaufnahme der gemeinsamen Militärübungen, die Wiederaufnahme von Dialogprozessen zu der sogenannten Extended Deterrence Group, also einer Gruppe, in der Maßnahmen zur ausgeweiteten Abschreckung auch konkret diskutiert und umgesetzt werden. Und die Biden-Administration hat eben das Problem, dass Nordkorea auf Angebote der USA nicht reagiert. Und das wirft die Frage auf: Ist es sinnvoll, in einer solchen Situation, in der man davon ausgehen kann, dass Denuklearisierung kurzfristig nicht zu erzielen ist …
Detjen: Aber darf ich kurz einsteigen?
Ballbach: Ja.

Nordkorea reagiert auf Angebote der USA nicht

Detjen: Gibt es diese Angebote denn im Augenblick noch? Als US-Präsident Biden im Frühjahr Südkorea besucht hat, wurde er gefragt, ob er eine Botschaft an den Norden, an Kim Jong-un hat. Und Biden hat schlicht gesagt: „Hello. Period.“ Hallo, Satzende, das war es. Also, das ist kein Verhandlungsangebot.
Ballbach: Biden hat ausgeschlossen vorerst, sich auf Führungsebene, auf Präsidentenebene mit Kim Jong-un zu treffen. Das hat die Administration bereits sehr früh klargemacht. Aber auf Arbeitsebene gibt es diese Angebote, die wiederholt Nordkorea unterbreitet wurden über mehrere Kanäle, beispielsweise auch den sogenannten New York Channel, also Nordkoreas Repräsentanz bei den Vereinten Nationen. Der Sondergesandte des US-Außenministeriums für Nordkorea hat diese Angebote wiederholt den Nordkoreanern unterbreitet. Aber Nordkorea reagiert auf dieses Angebot nicht. Und das wirft eben die Frage auf: Über was können wir derzeit überhaupt sinnvoll mit den Nordkoreanern verhandeln? Und hier sind wir genau an einem ganz zentralen Punkt. Werden wir weiterhin politisches, diplomatisches Kapital in einen Denuklearisierungs-Verhandlungsprozess investieren, der derzeit schlichtweg sehr unrealistisch ist? Die Nordkoreaner haben das durch ihre Worte, aber auch Taten deutlich gemacht, dass Denuklearisierung derzeit keine Option ist. Und sollten wir uns kurzfristig eben nicht darum bemühen, die Sicherheit des Nordkoreanischen Nuklearprogramms oder die Bedrohungen, die durch Nordkorea ausgehen, eben erstmal sinngemäß einzudämmen? Und das würde eben Fragen aufwerfen von Nonproliferation, von der allgemeinen Sicherheit des nordkoreanischen Nuklearprogramms. Alls diese Dinge bleiben derzeit komplett außen vor und sind meiner Meinung nach essenziell, um den Wiedereinstieg in Verhandlungen mit Nordkorea zu finden. Denn Nordkorea wird einer Wiederaufnahme von Denuklearisierungs-Verhandlungen derzeit nicht zustimmen.

Allianzverpflichtung der USA im Falle eines Krieges gegen Südkorea

Detjen: Aber ist dann nicht auch eine verstärkte Abschreckung die logische Konsequenz? In Südkorea hat sich jetzt im vergangenen Jahr zum ersten Mal eine Mehrheit der Bevölkerung, 55 Prozent, für eine nukleare Aufrüstung Südkoreas als Antwort auf diese nordkoreanische Bedrohung ausgesprochen. Und das wird auch gedeutet als ein sinkendes Vertrauen in die Sicherheitsgarantien der USA, auf die der neue konservative Präsident Südkoreas zurzeit immer noch setzt. Aber kann er sich wirklich dauerhaft darauf verlassen, auch angesichts der politischen Instabilitäten, die wir in den USA zurzeit sehen und der Ungewissheit, ob der nächste Präsident in den USA nicht wieder Donald Trump heißt?
Ballbach: Das ist genau die Frage – die Frage, ob Südkorea ein eigenes Nuklearprogramm umsetzen würde. Und wir wissen, dass Südkorea selbstredend sowohl die finanziellen als auch die technisch, technologischen Fähigkeiten hat, das ganz schnell zu tun. Die Frage, ob Südkorea das tun wird, hängt am Ende von der Glaubwürdigkeit der Allianz mit den USA ab. Die ist derzeit noch gegeben. Joe Biden setzt ja genau auf eine solche Ausweitung der Abschreckungsfähigkeiten und hat ganz deutlich gemacht, dass man sich auch bei einem Einsatz taktischer Nuklearwaffen, dass man entsprechend auf einen solchen Einsatz unmittelbar reagieren würde.
Detjen: Wenn ich da auch noch mal einhaken kann. Wieder der Konnex zum Krieg in der Ukraine: Wenn man sich das anschaut, sieht man die Bereitschaft der USA, sich zu engagieren nimmt dann rapide ab, wenn es um das Risiko eines Atomschlages gegen den Westen geht. Das muss ja auch den Südkoreanern zu denken geben.
Ballbach: Nun ja, aber Südkorea hat ja eine formelle Militärallianz mit den USA. Sprich: Es gibt eine ganz klare Allianzverpflichtung der USA im Falle eines Krieges gegen Südkorea.
Detjen: Aber angesichts der Reichweite der nordkoreanischen Raketen heißt das ja für die USA faktisch die Frage: Sind die bereit, sich für Südkorea in die Bresche zu werfen, wenn sie damit einen Atomschlage gegen San Francisco riskieren?
Ballbach: Das ist genau die Frage. Aber laut Allianzverpflichtung ist man – und das hat Joe Biden und auch sein nationaler Sicherheitsberater eben wiederholt deutlich gemacht, dass man im Falle eines Krieges auf der koreanischen Halbinsel, der von Nordkorea begonnen wird, an der Seite Südkoreas zurückschlagen wird. Diese Zusage gibt es. Und die Frage ist jetzt eben: Wie glaubwürdig sind diese Allianzverpflichtungen? Wenn es da in Südkorea Zweifel geben wird in den kommenden Jahren, dann wird es sicherlich sehr heikel, denn es gibt – wie Sie richtig sagen – erstmals eine Mehrheit. Aber auch da müssen wir sehen, wenn wir uns den genauen Text dieser Umfrage anschauen, dann gibt es zwar eine generelle Mehrheit. Aber es wird eben nicht gefragt, ob man diesen Weg auch dann mittragen würde, wenn es beispielsweise politische Konsequenzen, beispielsweise über ein Ende der Allianz mit den USA nach sich ziehen würde. Ob man auch dann weiterhin sozusagen diese Fragen so beantwortet hätte, da bin ich etwas skeptisch. Aber es stimmt, es gibt eine, ja, auch ganz konkrete Interessengruppe in Südkorea mit Vertretern aus der Wissenschaft, die sich dafür stark machen, dass Südkorea sein eigenes Nuklearprogramm umsetzt, ja.
Detjen: Was heißt das alles für Deutschland und für Europa? Die Bundesregierung arbeitet gerade an einer Sicherheitsstrategie. Erwarten Sie sich davon Antworten auf die Fragen, über die wir gerade sprechen?
Ballbach: Ich denke, dass auf Nordkorea in dieser Sicherheitsstrategie, wenn, dann nur indirekt eingegangen wird. Für Deutschland steht hier natürlich ganz klar die Bedrohung des Nonproliferationsregimes im Vordergrund. Nonproliferation ist für Deutschland und Europa ein sicherheitspolitisches Kernthema. Und Nordkorea stellt natürlich eine unmittelbare Bedrohung für dieses Regime der Nichtweiterverbreitung von Nuklearwaffen dar. Aber Deutschland agiert eben nicht alleine im ostasiatischen Raum, sondern in erster Linie im Kontext der EU. Und hier sehe ich durchaus, weil die EU ja einen ganz deutlichen Fokus auf den Indopazifik gesetzt hat und auf die Umsetzung der eigenen Indopazifikstrategie, die kann sicherlich von Nordkorea sehr stark torpediert werden. Insofern sind die Entwicklungen dort zentral für Europa, der diplomatische Einfluss jedoch eher begrenzt.

Ballbach fordert einen Sanktionen-Plus-Ansatz

Detjen: Sie haben einen Text geschrieben mit Kolleginnen und Kollegen zusammen, mit Blick auf europäische Strategien, vor dem Hintergrund, dass Europa, wir haben das schon erwähnt, seit 2006 die schärfsten Sanktionen überhaupt gegen Nordkorea verhängt hat. Aber wenn man jetzt in den Blick nimmt, dass das auch nicht dazu geführt hat, die nukleare Aufrüstung des Landes zu stoppen, was heißt das dann? Sie sprechen von einem Sanktionen-Plus-Ansatz. Was könnte da zu Sanktionen hinzukommen?
Ballbach: Also, am Ende gibt es natürlich über die Frage von Denuklearisierung hinaus sehr viele Themen, über die wir mit Nordkorea sprechen müssen. Nicht nur wir als Deutschland und Europa, sondern auch die USA und insbesondere Südkorea. Sanktionen alleine werden dieses Problem nicht lösen. Es gibt kaum ein Land in der internationalen Gemeinschaft, das bereits so lang unter internationalen Sanktionen steht. Bereits seit dem Korea-Krieg in den 50er-Jahren gibt es Sanktionen gegen Nordkorea. Die jüngsten Sanktionen im Rahmen des Nuklearprogramms bestehen seit 2006, wurden sukzessive verschärft. Und seit wenigen Jahren gibt es jetzt auch ein neues Sanktionspaket, das sich auf die Menschenrechtsverletzungen in Nordkorea bezieht.
Nordkorea hat deutlich gemacht, dass man mit diesen Sanktionen umgehen kann. Das heißt nicht, dass sie nicht wirksam sind, aber das heißt, dass Sanktionen alleine sicherlich Nordkorea von dem beschrittenen Weg nicht abbringen werden. Und hier braucht es eben einen Sanktions-Plus-Ansatz. Wir müssen mit Nordkorea am Ende wieder ins Gespräch kommen, insbesondere angesichts des vollständigen Stillstandes, den wir im Dialog mit Nordkorea seit 2019 eigentlich schon beobachten können. Wir müssen Themen finden, die sowohl für uns als auch für Nordkorea am Ende zentral sind. Da geht es auch um die Frage, wie es am Ende mit der nordkoreanischen Bevölkerung weitergeht, die unter diesen Sanktionen natürlich auch dramatisch leiden. Ein Großteil der Bevölkerung ist von internationalen Hilfslieferungen abhängig. Aber auch diese Lieferungen und die Finanzierung dieser Lieferungen sind derzeit äußerst schwierig. Gesundheitsthemen, Umweltthemen – das sind alles Dinge, mit denen wir mit Nordkorea im Gespräch bleiben müssen und eben neue Dialogansätze finden müssen.
Detjen: Verstehe ich das für Sie richtig? Die Lehre aus dem Krieg gegen die Ukraine heißt nicht, Diktatoren wie Kim Jong-un und wie Wladimir Putin reagieren einzig und alleine auf Abschreckung und Druck?
Ballbach: Wir versuchen ja, Abschreckung mit den Nordkoreanern am Ende schon seit über zwei, ja, weit über zwei Dekaden. Das alleine wird nicht zum Ziel führen. Das heißt nicht, dass Abschreckung nicht wichtig ist. Aber die Abschreckung alleine – und das haben wir ja jetzt in den letzten Jahren sehr deutlich gesehen – führt eben nicht zum gewünschten Ziel der Denuklearisierung. Hier müssen wir neue Wege beschreiten. Und der erste Schritt besteht eben meines Erachtens darin, überhaupt erst mal diese enormen Gefahren, die von Nordkorea ausgehen, irgendwie zu managen. Und das würde eben den Wiedereinstieg in den Dialog mit Nordkorea dann auch ermöglichen.

Mangel an Kompetenzen zur koreanischen Halbinsel in Deutschland

Detjen: Wenn Sie die Wichtigkeit von Austausch und Dialog jetzt so betonen, dann schließt sich natürlich auch die Frage an: Welche Voraussetzungen hat das, auch, was Infrastruktur angeht? Ich habe am Anfang gesagt, Sie sind einer der wenigen Experten, die sich so intensiv mit Nordkorea beschäftigen. Sind wir überhaupt ausgestattet dafür, einen solchen Dialog, eine solche Diplomatie zu führen?
Ballbach: Korea muss wichtiger werden, sowohl in der Wissenschaft in Deutschland, aber auch, was die institutionelle Ausstattung in den Ministerien angeht. Hier mangelt es noch immer an dauerhafter Kompetenz zur koreanischen Halbinsel. Da sind uns andere EU-Mitgliedsstaaten tatsächlich einen Schritt voraus. Aber was die Wahrnehmung Koreas angeht – ich spreche jetzt nicht nur von Nordkorea als Bedrohung, sondern auch Südkorea als einer unserer wichtigsten Verbündeten im asiatischen Raum – hier muss viel mehr getan werden in der Zukunft, um Kompetenzen wie gesagt, sowohl in der Wissenschaft als auch in den entsprechenden Ministerien in Deutschland nachhaltige Koreakompetenz zu schaffen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.