Christoph Heinemann: Der Laie staunt, der Fachmann wundert sich, vielleicht aber auch nicht: Die Hwasong-14 ist eine nordkoreanische Interkontinentalrakete, zweimal wurde sie im Juli erfolgreich getestet. Fast unmöglich, sagen Fachleute, dass eine Langstreckenrakete von Anfang an so fliegt, wie sie fliegen soll! Robert Schmucker ist ein solcher Fachmann. Er hat für die US-Weltraumbehörde NASA an den Triebwerken des Space Shuttle gearbeitet, er ist Professor für Raumfahrttechnik an der Technischen Universität München und jetzt bei uns am Telefon. Guten Morgen!
Robert Schmucker: Guten Morgen!
"Alles Raketen, die sie woanders her beschafft haben"
Heinemann: Professor Schmucker, kann es sein, dass Ihre nordkoreanischen Kollegen Genies sind?
Schmucker: Also, ich glaube das nicht. Denn was wir bis jetzt gesehen haben aus Nordkorea, jedenfalls die letzten über 30 Jahre, das waren alles Raketen, die sie woanders her beschafft haben und dann abgeschossen haben. Was mit den neuen Raketen ist, wissen wir nicht so ganz genau. Aber es schaut alles aus, als ob sie die auch von woanders her bekommen haben.
Heinemann: Von wo?
Schmucker: Ja, da gibt es ja Nachbarländer und da gibt es also Länder der ehemaligen Sowjetunion. Es hat alles eine Handschrift, die in diese Richtung deutet.
Heinemann: Was heißt Handschrift?
Schmucker: Ja, wir sehen technische Elemente, wir sehen Raketentriebwerke, wir sehen die Konzeption dieses Gerätes oder dieser Geräte, die deuten alle in diese Richtung hin. Und wenn ein Gerät von Anfang an perfekt funktioniert, dann muss es eine Entwicklung hinter sich haben.
"Übereinstimmung mit einem russischen Triebwerk"
Heinemann: Ganz konkret gefragt: Woran erkennen Sie, wenn zum Beispiel eine Hwasong-14 abhebt, dass da möglicherweise russische Technik drinsteckt?
Schmucker: Wir sehen das Triebwerk, das Haupttriebwerk. Und da gibt es gewisse Indikationen von den Abmessungen, vom Aufbau, dass es mit einem russischen Triebwerk übereinstimmt oder Ähnliches, sage ich mal. Ich will es mal ganz zurückhaltend formulieren. Und dann können wir dieses Gerät rekonstruieren und feststellen, wie viel Schub drin ist, wie schwer das Gerät ist und was es kann. Das ist alles keine Geheimwissenschaft, das ist alles relativ einfach. Und das deutet alles in diese Richtung hin.
Heinemann: Welche weiteren Kriterien gibt es für Sie, um die Herkunft nachzuweisen?
Schmucker: Das sind diese Kriterien. Wir schauen uns etwas an. Das ist genauso, wenn Sie ein Auto anschauen, sehen Sie, das ist ein BMW oder das ist ein Mercedes.
"Nachbauen ohne Lizenz hat es bis jetzt noch nie gegeben"
Heinemann: Könnte es denn sein, dass die Nordkoreaner dieses russische Modell einfach nachgebaut haben?
Schmucker: Um es nachzubauen, brauchen Sie einen riesigen Aufwand an Fertigungsvorrichtungen, Instruktionen, Qualitätssicherung, das dauert alles jahrelang, wenn Sie so etwas nachbauen wollen. Und richtig nachbauen, ohne Lizenz, hat es bis jetzt noch nie gegeben. Alle, die das versucht haben, sind gescheitert bei so etwas.
Heinemann: Wie lange braucht es denn normalerweise, bis eine Rakete so fliegt, wie sie fliegen soll?
Schmucker: Viele Jahre. Viele, viele Jahre. Typische Entwicklungen, je nachdem, wie viel Sie da machen, vielleicht fünf, sieben Jahre. Und Sie sehen, dass vorher anhand von vielen Erprobungen … Die Rakete muss oft und oft getestet werden. Sie wird getestet am Prüfstand, sie wird getestet im Flug, Sie haben Flugversager, und erst wenn es so weit ist, dass sie fertig ist, dann kann sie so verschossen werden, wie die nordkoreanischen verschossen werden, nämlich von einem Fahrzeug wie im Kriegseinsatz.
Mehr als sieben neue Raketen in einem Jahr - unmöglich
Heinemann: Das heißt, die Hwasong-14 kann nicht in Nordkorea entwickelt worden sein?
Schmucker: Sie bringen es genau auf den Punkt, sie kann nicht entwickelt worden sein. Mehr kann ich nicht dazu sagen. Die Handschrift deutet ganz klar auf einen der Nachfolgerstaaten von der Sowjetunion mit … Klar, das Triebwerk scheint aus Russland zu sein, aber das ist das, was wir sagen: Es kann nicht aus Nordkorea sein. Vor allem weil Nordkorea ja in dem letzten, sage ich mal, etwas mehr als einem Jahr sieben neue unterschiedliche Raketen herausgebracht hat. Das ist mehr, als jedes andere Land gemacht hat.
"Das, was Kim Jong Un hat, bekommt er von außen"
Heinemann: Ja. Verfügt – genau das wäre jetzt meine Frage – eigentlich Kim über ein ernst zu nehmendes Raketenarsenal?
Schmucker: Nein. Das, was er hat, bekommt er von außen. Er kann vielleicht einige Sachen damit zusteuern, Strukturteile fertigen, aber er hat kein ernsthaftes Raketenarsenal. Gut, ein Raketenarsenal, das Südkorea und vielleicht auch Japan bedrohen kann, das sicher. Aber weitere darüber hinaus, dass er Amerika bedrohen kann, natürlich nicht.
Heinemann: Das heißt, wenn man das Land abschottete, wenn wirklich alle Grenzen, also etwa auch die nach China dicht wären, säße der Mann sehr schnell auf dem Trockenen?
Schmucker: Sie haben es richtig gesagt, ganz klar. Der lebt davon, was er von außen bekommt, und die eigenen Leistungen sind sicher sehr schwach, wenn nicht ganz null.
Heinemann: Professor Schmucker, klingt jetzt wie eine Mathematikaufgabe: Wie weit käme Ihren Erkenntnissen nach die am längsten fliegende nordkoreanische Rakete, also die, die da sind, die wir kennen, mit einem etwa eine Tonne schweren atomaren Sprengkopf?
Schmucker: Die größte, das ist die Hwasong-14, kommt nach meinen Rechnungen so 5.200 Kilometer, sagen Sie 5.500, aber mit einer Tonne kommt die eben gerade mal so an den Rand der Mittelstrecken- oder IRBM-Raketen, ist jedenfalls keine Interkontinentalrakete.
Schmuggel von Bauteilen über die Grenzen nach China oder Russland
Heinemann: Tendenz steigend? Also, rechnen Sie damit, dass die Reichweite sich vergrößern wird?
Schmucker: Die Reichweite hängt nur von der Raketengröße ab. Das heißt also, diese Rakete hat eine bestimmte Größe, ein bestimmtes Triebwerk, da bräuchte er schon eine neue Raketenklasse, um weiter zu kommen.
Heinemann: Kriegswaffen, Raketenteile, auch Raketentreibstoff dürfen laut Sanktionen nicht mehr nach Nordkorea geliefert werden. Haben Sie, Professor Schmucker, eine Vorstellung davon, auf welchen Wegen solches Material nach Nordkorea gelangt?
Schmucker: Nordkorea hat doch zwei Grenzübergänge, einen nach China und einen nach Russland, und mit Bahnverbindungen. Wir wissen, dass Lastwagen mit großen Containern von China nach Nordkorea gehen. Wir haben einen großen Bahnhof an der Grenze nach Russland. Da ist es doch gar kein Problem, Sachen rüberzubringen. Wer kontrolliert das?
Heinemann: Also, dieses …
Schmucker: Wer kann das beurteilen?
Heinemann: Dieses Material kann man sich auf dunklen Umwegen einfach so beschaffen?
Schmucker: Das geht doch immer so, das haben wir doch überall. In aller Welt, jeder … Wir wissen doch von den Drogen, wie da was geschmuggelt wird, gebracht wird, warum soll das bei Raketen nicht auch sein? Wenn Sie einen großen Treibstofftank haben, den deklarieren Sie zum Beispiel als Silo. Oder elektronische Bauteile, wer weiß, ob das ein Fernseher ist oder irgendetwas anderes oder ein Rechner? Also, all diese Dinge sind nicht zu überblicken. Und wenn Sie gut zahlen, dann schaut doch keiner hin.
"Ich habe keine Sorge, da passiert nichts"
Heinemann: Halten Sie, jetzt unterm Strich gefragt, die Befürchtungen vor der Kombination zwischen nordkoreanischen Raketen und nordkoreanischer Atomtechnik für übertrieben?
Schmucker: Ich halte das alles für übertrieben. Ich habe keine Sorge, da passiert nichts. Es ist eine Auseinandersetzung der Worte. Nur, die Frage ist natürlich: Wenn beide Seiten so etwas mehr sagen, wie wird das irgendwann mal ausgehen? Das ist doch die entscheidende Frage. Ich sehe im Augenblick noch keine Lösung, aber ich sehe nicht, dass es da zu einem kriegerischen Konflikt kommt.
Heinemann: Professor Robert Schmucker von der Technischen Universität München, danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!
Schmucker: Ich danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.