Ann-Kathrin Büüsker: Ob die Europäische Union mit dem 31. Oktober ein Mitglied weniger hat, das steht, Stand heute immer noch in den Sternen. Könnte doch noch eine Verschiebung des Brexits geben, ja, nein, vielleicht – Prognosen traut sich da kaum jemand noch zu. Würde er vollzogen, dann wären es nur noch 27 Mitgliedsländer, aber es könnten auch wieder mehr werden. Die EU-Staaten entscheiden heute in Luxemburg, ob Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien aufgenommen werden sollen. Im Vorfeld hatte es erhebliche Skepsis aus Frankreich gegeben.
Wir wollen das Thema jetzt hier im Deutschlandfunk vertiefen mit Josef Janning. Er leitet das Berliner Büro des European Council on Foreign Relations – eine Denkfabrik, die sich insbesondere mit europäischer Außenpolitik beschäftigt. Schönen guten Morgen, Herr Janning.
Josef Janning: Guten Morgen, Frau Büüsker.
Büüsker: Wie schätzen Sie das ein? Sind Nordmazedonien und Albanien bereit für die EU-Beitrittsverhandlungen?
Janning: Im eigentlichen Sinne gibt es diese Bereitschaft nicht. Sie sind an einem Punkt, an dem die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen sinnvoll erscheint – auch, weil natürlich Reformen immer schwieriger werden. Die ersten Schritte sind vielleicht noch leicht, sie sind nur politisch schwierig, aber danach geht es dann doch ins Eingemachte und danach braucht man dann auch politischen Willen, um bei der Sache zu bleiben, und dazu hilft die Beitrittsperspektive ungemein.
Büüsker: Können Sie Macrons Argument verstehen, dass man erst mal die EU reformieren sollte und erst dann erweitern?
Janning: Das kann ich! Dies war das französische Argument seit der ersten Debatte um die Osterweiterung. Die Franzosen waren immer erfüllt von der Sorge, dass die Europäische Union durch mehr Mitglieder verwässert werden würde, dass am Ende nur der Markt bliebe, und wenn nur der Markt bliebe, dann würde der auch nicht bleiben. Und wenn man zurückschaut, dann muss man sagen, dass diese Furcht oder Befürchtung nicht völlig unbegründet war. Nur es gibt auch eine andere Seite. Es gibt die andere Seite, die zeigt, wenn es kein Ziel gibt, wenn es keine glaubwürdige Perspektive gibt, dass es dann für Staaten, für politische Akteure schwierig, wenn nicht gar zu schwierig wird, auf Kurs zu bleiben und tatsächlich ihr Land konsequent Schritt für Schritt an den EU-Standard heranzubringen.
Keine Verhandlungen, eher eine Art Screening
Büüsker: Aber was genau heißt denn auf Kurs bleiben? Gehen wir dann als EU davon aus, wir können die anderen Länder besser machen?
Janning: In gewisser Weise ja, denn diese Beitrittsverhandlungen sind ja in dem eigentlichen Sinne gar keine Verhandlungen. Hier verhandelt die EU ja nicht und man trifft sich dann mit dem Beitrittskandidaten irgendwo in der Mitte, sondern dies ist eine Art Screening, ein Monitoring, in dem es darum geht, welche Fortschritte macht der Kandidat im Blick auf die Standards und Anforderungen der EU. Und die sind nicht ohne und diese Anforderungen haben dann oft damit zu tun, sich an spezifische Verfahren, an spezifische Institutionen, an spezifische Prozesse anzupassen, die jetzt nicht wirklich marktwirtschaftlich nötig sind, die aber nötig sind, um im Binnenmarkt der Europäischen Union funktionieren zu können, um die Freizügigkeit der Warendienstleistungen, aber auch der Personen am Ende aushalten und gestalten zu können.
Büüsker: Welches Interesse kann denn die Europäische Union an einer Erweiterung durch Nordmazedonien und Albanien haben?
Janning: Das ist eine Frage, die man im NATO-Kontext stellt. Was fügen die eigentlich zu unserer Sicherheit dazu? – Für die EU stellt sich die Frage: Kann sie europäische Demokratien, die den Beitritt wollen, auf Dauer fernhalten? – Das kann sie nicht, wenn sie nicht ihre eigene Idee, nämlich die Organisation, die Heimat aller europäischen Demokratien zu sein, aufgeben will. Das heißt, ihr bleibt gar nichts anderes übrig, als diesen Prozess positiv zu begleiten. Also ist die Schlussfolgerung vieler Europäer: Wenn das schon so ist, dann müssen wir ziemlich klare Kriterien haben und wir müssen einen Prozess haben, der lang genug ist, um tatsächlich dann auch die schwierigen Fortschritte und die Konsolidierung von Reformen zu ermöglichen, damit wir dann am Ende zustimmen können. Für Europa ist eine Situation, wo man dauerhaft eine Art Exklave in der Europäischen Union hat, von Staaten, die zwar im Prinzip rein wollen, aber denen es am letzten Schwung fehlt, um die Hürde zu nehmen, nicht gut haltbar.
Büüsker: Wir haben ja gerade im Fall Syrien gesehen, weil Sie das Stichwort NATO gebracht haben, dass sich wieder einmal zeigt, wie schwer Entscheidungsprozesse sind, wenn es darum geht, Einigkeit zu finden – gerade auch unter dem Stichwort Rüstungsexporte. Wenn man jetzt aber zusätzliche Länder reinholt, das macht ja das Finden von einheitlichen Positionen nicht unbedingt leichter.
Janning: Ja, ganz genau. Ganz genau richtig. Wir haben ja heute bereits eine Lage, wo die Uneinigkeit eigentlich das charakteristische Merkmal der Europäischen Union ist. Es ist immer schwieriger geworden mit der wachsenden Zahl, zu gemeinsamen Entscheidungen zu kommen in der passenden Zeit, und das wird nicht einfacher. Das ist ein wirkliches Dilemma, vor dem die Europäer stehen.
Die andere Seite ist: Würde man aus diesen Gründen den Staaten des westlichen Balkans eine Beitrittsperspektive verweigern, dann entsteht dort mehr Unsicherheit, mehr möglicher Konflikt und mehr an Kosten für die Europäische Union. Das lässt sich nicht auflösen. Ich glaube aber auch nicht, dass die Einigkeit vergrößert, wenn man weniger Mitglieder hat. Das war einmal so und diese Zeit kommt nicht wieder.
Serbiens nationalhistorisches Narrativ nicht kompatibel
Büüsker: Aber durch wen entsteht denn auf den Ländern des Balkans zusätzliche Unsicherheit?
Janning: Weil die dann die Linie nicht mehr halten. Nehmen Sie mal einen Kandidaten, der ja auch noch irgendwann an die Reihe kommt, wie Serbien, wo es eine Art nationalhistorisches Narrativ gibt, das praktisch nicht europakompatibel ist. In Serbien brauchen Sie speziell eine jüngere Generation, die ihren Vätern und Müttern sagt, lasst uns mit diesem Zeug in Ruhe, wir wollen in die Europäische Union, wir wollen ein anderes Leben und wir wollen unser Leben auf eine andere Identitätsbasis stellen als die, die ihr uns anbietet. In dem Moment, wo dieser Prozess keine Perspektive hat, dann wird eine solche Veränderung, wird ein solcher Wandel in den Köpfen auch nicht stattfinden, und dann haben wir gewissermaßen diese historischen Konfrontationslinien, diese Konflikte da, die uns dauerhaft plagen werden.
Büüsker: Also so, wie wir das im Prinzip am Beispiel der Türkei gesehen haben?
Janning: Die Türkei ist ja noch ein anderer Fall, weil die Türken sich selber ganz eindeutig wegbewegen von der Europäischen Union.
Büüsker: Aber es gab ja auch da mal die große Bereitschaft, Teil der EU zu werden.
Janning: Es gab auch da die große Bereitschaft, ja, und die ist in der Türkei dann einem Modell gewichen, in dem man sich selbst als eine regionale Großmacht sieht, die gewissermaßen sich nicht hinten in die Reihe anstellt, und bei der Union um Aufnahme bittet. Dieses Potenzial hat keiner der Staaten des westlichen Balkans, auch Serbien nicht. Dort würden wahrscheinlich ähnliche Reflexe losgelöst werden aus Frustration oder Enttäuschung, aber dem fehlte dann das Gestaltungspotenzial, das bei allen Schwierigkeiten und bei allen Defiziten, die die Türkei noch aufweist und die die Türkei zweifellos hat, die aber die deutlich kleineren Staaten des westlichen Balkans nicht haben.
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