Das Geräusch der Sirenen ist verschwunden. Menschen sind auf die Straßen und Plätze zurückgekehrt. Bars haben wieder geöffnet. Und auch der Fußball beginnt. Ausgerechnet hier in Bergamo, einem Hotspot der Pandemie, geht nun auch die Serie A wieder los, mit dem Nachholspiel Atalanta Bergamo gegen Sassuolo Calcio.
Nicht alle sind damit einverstanden. Ultras der Curva Nord wollen das Spiel boykottieren. Schon Ende Mai haben sie Banner mit der Aufschrift "Ihr folgt nur dem Geld, nicht dem Ball" an der Stadionmauer angebracht. Sie werfen dem Fußball mangelnden Respekt vor den Toten vor.
Andere Fans begrüßen aber den Neubeginn der Serie A. "Es ist notwendig, dass es wieder losgeht, auch, um etwas Normalität zu erzeugen für die Leute", sagt Alessandro Pezzotta, Präsident eines Fanclubs der Atalanta. Auch er hat Menschen in der Pandemie verloren, Freunde, die wie er Tifosi waren oder deren Eltern. Besonders getroffen hat ihn der Tod Ricos, eines 87-Jährigen aus seinem Heimatort:
"Er hat immer die Messe in Latein gesungen. Er ist damit durch die ganze Provinz gezogen in einem Chor. Er ist ganz allein gestorben. Für ihn hat niemand gesungen. Nicht einmal seine Verwandten haben ihm einen letzten Gruß geben können."
Atalanta-Sieg in Valencia als "zwei Stunden der Freude"
Der Tote war ja noch gefährlich, war infiziert. Viele Menschen in Bergamo erzählen dies im Rückblick als den traurigsten Moment: Nicht einmal Abschied nehmen zu können von den Toten. Sie haben sie als Infizierte ins Krankenhaus gebracht. Tage lang, manchmal Wochen lang, hatten sie keine Nachricht - bis dann eine Urne ins Haus geliefert wurde oder der Sarg abgeholt werden musste. Beerdigt wurde in Abwesenheit der Trauergemeinde. Menschenansammlungen waren verboten. In kleinem Rahmen werden in diesen Tagen Trauerzeremonien nachgeholt. Da rückt ein Fußballspiel sehr in den Hintergrund.
Andererseits kann der Fußball auch Kraft spenden und Gemeinschaft stiften. Genau das passierte auch im Lockdown, erzählt Alessandro Pezzotta: "Ich denke nur an das Rückspiel in Valencia. Es gab diesen Sieg, als wir alle zu Hause eingeschlossen waren. Ich erinnere mich an die Facebook-Messages von damals. Es waren zwei Stunden der Freude, der enormen Freude für alle."
Am 10. März, einen Tag nach dem Lockdown, gewinnt die Atalanta 4:3 in Valencia und macht den Einzug ins Viertelfinale der Champions League perfekt. Das Hinspiel vom 19. Februar in Mailand wurde im Nachhinein zum Spiel Null erklärt, zum Auslöser der Pandemie.
"Das war sicher nicht der einzige Grund", meint Agostino Piccinali, Vizepräsident der Handelskammer Bergamo. Er hat selbst in seiner Firma einen Mitarbeiter, der sich vermutlich bei diesem Spiel infiziert hatte. Er rekonstruiert die Timeline: Das Spiel war am 19. Februar. Am 25. Februar empfahl die Handelskammer, Abstandsmaßnahmen in den Unternehmen einzuführen. Zwei Wochen später erst reagierte die Politik.
"Am 9. März wurde der Lockdown verhängt. Das Spiel und die folgenden zwei Wochen des freien Umgangs, als soziale Distanz nur in den Unternehmen vorgeschrieben war, draußen aber Bars und Restaurants offen waren, waren Hauptauslöser der Verbreitung."
Ultras als Helfer beim Krankenhaus-Bau
Während der dramatischen Wochen der Pandemie bleiben viele Tifosi der Atalanta nicht untätig. Einige Fanklubs stellen Masken her und spenden die Einnahmen an Krankenhäuser. Einige beteiligen sich sogar am Aufbau eines provisorischen Krankenhauses auf dem Messegelände in Bergamo. Es hatte 142 Betten, die Hälfte davon Intensiv- und Subintensiv-Betten. Es entlastete damit die überfüllten Krankenhäuser der Umgebung.
"Ja, da waren viele. Etwa 30 Mann von der Curva Nord haben uns geholfen", erzählt Cristian Persico. Er ist Maler, und hat freiwillig dort gearbeitet. Er spielt selbst auch Fußball, in einem Amateurverein in der Provinz Bergamo. Und er ist Fan von Inter Mailand. Über die Ultras der Atalanta sagt er:
"Mir hat das gefallen. Denn in Italien werden die Anhänger von Atalanta gern als, in Anführungszeichen, 'Delinquenten' gesehen. Und hier haben sie gezeigt, dass sie gute Leute sind, ein Herz haben, und zur Stelle sind, wenn Bergamo, wenn Italien sie braucht."
Bergamo trägt seine Toten im Herzen
Inzwischen sind alle Covid-19-Patienten aus dem Krankenhaus entlassen, erzählte ein Mitarbeiter am Empfang dem Deutschlandfunk. Abstrichtests und die Nachbetreuung der Genesenen werden weiter durchgeführt. Ein Teil der Anlage ist umgebaut in ein Impfzentrum für Kinder. Das ist die neue Normalität in Bergamo.
Alessandro Pezzotta geht sogar wieder seinem alten Nebenjob im Fußball nach. Er ist Steward, Steward bei einem Geisterspiel. Als Ordner wird er vor allem aufpassen, dass die Journalisten die Regeln einhalten. Allein fühlen wird er sich dort ohnehin nicht.
"Ich denke, wer nicnt mehr unter uns ist, schaut uns von oben zu. Vielleicht schauen sie uns zu und denken, es wäre schön, noch bei uns zu sein. Sie sehen uns von der anderen Seite und drehen sich nicht weg. Sie sehen das, was wir auch sehen."
Bergamo trägt seine Toten im Herzen, und das auch während eines Fußballspiels.