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Norman Davies Aufstand der Verlorenen. Der Kampf um Warschau 1944

Wie wohl kaum ein anderes Land in Europa war Polen in den vergangenen drei Jahrhunderten Spielball und Zankapfel seiner Nachbarn. Die diversen polnischen Teilungen mögen an dieser Stelle als Stichwort genügen. Ebenso sehr aber hat dieses Land, hat dieses Volk immer sein unbeugsamer Wille ausgezeichnet, um das eigene Überleben zu kämpfen. Ein ganz besonderes Beispiel für diesen kollektiven Widerstandsgeist jährt sich bald zum 60. Mal. Die Rede ist vom Warschauer Aufstand vom Sommer 1944 gegen die deutschen Peiniger, an dessen Ende die polnische Hauptstadt fast völlig entvölkert und zerstört war. Aber auch unterlassene Hilfeleistung seitens Stalins Roter Armee ist für die blutige Vernichtung der polnischen Widerstandskämpfer durch SS und Wehrmacht verantwortlich. - "Aufstand der Verlorenen. Der Kampf um Warschau 1944". So heißt der neue Band des britischen Polen-Spezialisten Norman Davies, der in wenigen Tagen - am 12. Mai - in die deutschen Buchläden ausgeliefert werden wird. - Den Text unserer Vorab-Besprechung hat Tillmann Bendikowski verfasst:

Von Tillmann Bendikowski | 26.04.2004
    Europa im Sommer 1944. Zahlreiche Städte sind noch immer in der Hand der deutschen Besatzer, darunter Hauptstädte wie Paris oder Warschau. Doch im Westen wie im Osten schöpfen die Menschen angesichts der näherrückenden alliierten Armeen endlich Hoffnung auf Befreiung:

    Vor allem nachts trieben die Anwohner sich in ihren Gärten herum oder lehnten aus den Fenstern und spitzten die Ohren nach dem Grollen entfernter Artillerie. Kollaborateure erbebten bei dem Gedanken an Vergeltung. Die Priester erlebten eine Zunahme der Hochzeiten und Beichten, während die Verkäufer von Sandsäcken, Brettern, Kanistern, Marmeladegläsern, Kerzen, Zucker und falschen Papieren rege Geschäfte machten. Die Häftlinge und Zwangsarbeiter, die in Zelten oder Nazi-Lagern gefangen waren, glaubten wider alle Vernunft an eine Möglichkeit zu einem Ausbruch.

    So beschreibt der britische Historiker Norman Davies die eigentümliche Stimmung jener Monate, die auch in Warschau vorherrschte. In diesem Sommer schien die Befreiung nach fünf Jahren Fremdherrschaft zum Greifen nahe, auch weil die sowjetischen Truppen die Deutschen bis an die Weichsel zurückgedrängt hatten. Doch die Befreiung Warschaus sollte in erster Linie das Werk der Polen selbst sein – so jedenfalls wollte es der polnische Untergrund und die Exilregierung in London.

    Die deutschen, selbsternannten "Herrenmenschen" hausten bereits jenseits aller zivilisatorischen Grundregeln, und die Barbarei steigerte sich noch nach Beginn des Aufstandes am 1. August 1944, der von der polnischen Heimatarmee getragen wurde. Heinrich Himmler hatte seiner SS befohlen, die gesamte Stadt und alle ihre Bewohner zu vernichten. Die Heimatarmee hatte der bald von Artillerie und Luftwaffe unterstützten deutschen Kriegsmaschinerie nur wenig entgegenzusetzen. Und doch leisteten die kleinen, meist aus 50 bis 100 Mann bestehenden Gruppen hartnäckigen Widerstand. Insgesamt wohl über 20.000 Kämpfer waren in solchen Formationen nach dem 1. August in die Stadt ausgeschwärmt, wo sie sich mit den Deutschen lange Zermürbungskämpfe lieferten:

    Die Deutschen kehrten jeden Abend, gewöhnlich bei Einbruch der Dunkelheit, in ihre Sektoren zurück wie Arbeiter von einer Baustelle. Unfähig, den Gegner mit ihrer Infanterie zu fassen, forderten sie immer wieder Bomber und schwere Geschütze an, mit deren Hilfe sie dann die Stellungen der Aufständischen in Trümmerhaufen verwandelten, ein paar Barrikaden zerstörten und einige Meter oder ein paar Straßen eroberten. Am nächsten Morgen mussten sie dann feststellen, dass die Hälfte der Barrikaden während der Nacht wieder aufgebaut und mit Sprengsätzen präpariert worden war.

    Doch die Heimatarmee hatte sich nur auf wenige Tage eines alleinigen Kampfes eingestellt, schließlich vertrauten die Führer des polnischen Untergrundes ebenso wie die Exilregierung fest auf die Hilfe der Alliierten. Diese Hoffnungen wurden enttäuscht. Die Rote Armee, die sich bis auf wenige Kilometer an Warschau herangekämpft hatte, machte keinerlei Anstalten, den Aufständischen zur Hilfe zu eilen. Moskaus Sympathie galt den wenigen Kommunisten im polnischen Widerstand, die Heimatarmee wurde hingegen zu keinem Zeitpunkt als Waffenbruder anerkannt. Über zwei Wochen präsentierten die Sowjets eine militärische Ausrede nach der anderen, um ihre Passivität mehr schlecht als recht zu legitimieren. Erst am 18. August 1944 beendeten sie für alle erkennbar ihr Versteckspiel. Dem US-Botschafter in Moskau wurde erklärt:

    Die Sowjetregierung kann natürlich keinen Einspruch erheben, wenn englische oder amerikanische Flugzeuge im Raume Warschau Waffen abwerfen, da das eine amerikanische und britische Angelegenheit ist. Sie verwahrt sich jedoch ganz entschieden dagegen, dass amerikanische oder britische Flugzeuge nach dem Abwurf von Waffen im Raume Warschau auf Sowjetterritorium landen, da sich die Sowjetunion weder direkt noch indirekt mit dem Warschauer Abenteuer in Beziehung zu setzen wünscht.

    Die polnische Heimatarmee wurde von Moskau aus politischen Gründen im Stich gelassen – militärisch wäre die Hilfe ohne weiteres möglich gewesen. Und die Westalliierten setzten sich nicht energisch genug für eine Unterstützung ein, wenngleich vereinzelt zumindest britische Flugzeuge aus dem fernen Italien starteten und versuchten, Nachschubmaterial abzuwerfen. Die Zahl der gelungenen Abwürfe blieb gering, die insgesamt zwar durchaus die Moral, weniger indes die Schlagkraft der seit Wochen kämpfenden Polen stärkten. Die Aufständischen, die inzwischen der deutschen Übermacht kaum noch standhielten, brauchten lange, um sich selbst die ausbleibende Hilfe einzugestehen. Als am 2. Oktober 1944, zwei Monate nach Beginn des Aufstandes, die letzten Kämpfer schließlich die Waffen strecken mussten, formulierte der Untergrund-Ministerrat in seinem letzten Aufruf noch die Anklage an die Nachwelt:

    Das ist die heilige Wahrheit. Wir sind schlimmer behandelt worden als Hitlers Satelliten, schlimmer als Italien, Rumänien, Finnland. Mag Gott der Gerechte sein Urteil über die furchtbare Ungerechtigkeit fällen, die dem polnischen Volk widerfahren ist, und möge Er alle Schuldigen strafen.

    Über 160.000 Menschen hatte der Aufstand bis zu diesem Zeitpunkt das Leben gekostet, die allermeisten waren polnische Zivilisten. Doch das Leiden der Stadt ging nach der Kapitulation weiter. Norman Davies beschreibt auch diese Zeit nach dem Aufstand, beginnend mit der völligen Zerstörung der Stadt und der einhergehenden Deportation der überlebenden Kämpfer und der Zivilbevölkerung in den Tagen nach der Kapitulation:

    In der größtenteils zerstörten westlichen Hälfte der Stadt wurde eine Restbevölkerung von einer halben Million Menschen gezwungen, sich in die Gefangenschaft der Deutschen zu begeben, während in der östlichen Hälfte die größte Armee der Welt so tat, als sei sie gar nicht da.

    Mit den stalinistischen Repressionen im Nachkriegspolen setzten die geschichtspolitischen Strategien ein, die Kämpfer der Heimatarmee zu diskreditieren. Sie wurden als westliche Spione oder Antisemiten denunziert, inhaftiert und ermordet, in Schauprozessen vorgeführt und schließlich nach Jahrzehnten des erzwungenen Schweigens im eigenen Land fast vergessen. Erst in jüngster Zeit kann sich die polnische Gesellschaft wieder ungehindert und unvoreingenommen diesem Teil seiner Geschichte öffnen.

    Mit seiner Darstellung steht Norman Davies ganz in der Tradition britischer Historiker: Gerne schreiben diese dickleibige Werke – hier sind es 800 Seiten –, was man ihnen angesichts ihrer zuweilen erstaunlichen erzählerischen Stärke aber gerne nachsieht. Das gilt auch für dieses Buch, dessen Lektüre in dieser Hinsicht ein Ansporn für Historiker ist, die ein breites Publikum erreichen möchten. Zugleich scheut der Autor nicht davor zurück, seine Sympathie für die Aufständischen darzulegen und ihren Verdienst vor der Geschichte herauszustellen:

    Jeder, der die freie Welt von heute schätzt, steht bei den Warschauern von 1944 in einer tiefen Dankesschuld. Sie gaben ein würdiges Beispiel für die altmodischen Werte von Patriotismus, Uneigennützigkeit, Standhaftigkeit, Selbstaufopferung und Pflichtbewusstsein.

    Das neue EU-Mitglied Polen bringt diese historische Leistung in das gemeinsame europäische Erbe ein. Gerade dem deutschen Publikum sei empfohlen, in diesem Jahr nicht nur des 60. Jahrestages des 20. Juli 1944 und damit einem Akt deutscher Widerständigkeit zu gedenken, sondern sich auch den ungeheuren Opfern des polnischen Widerstandes zuzuwenden. Das Buch von Norman Davies bietet hierzu eine vorzügliche Gelegenheit und Ausgangsbasis.

    Tillman Bendikowski besprach: Norman Davies: "Aufstand der Verlorenen. Der Kampf um Warschau", erschienen im Verlag Droemer/Knaur, München; das Buch hat 798 Seiten und wird 24.90 kosten.