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Vor 100 Jahren geboren
Norman Mailer - virtuoser Kraftprotz der US-Literatur

Wie kaum ein US-Schriftsteller war Norman Mailer dem Sound seiner Zeit auf der Spur. Der Debüt-Roman "Die Nackten und die Toten“ machte ihn 1948 weltberühmt. Später wurde er als Reporter legendär. Etwa mit einem Bericht über die erste Mondlandung.

Von Christian Linder | 31.01.2023
Der  Schriftsteller Norman Mailer (links)  1965 beim Armdrücken mit dem Schwergewichtsweltmeister Muhammad Ali .
Schriftsteller Norman Mailer (links) 1965 mit dem mehrfachen Box-Weltmeister Muhammad Ali, den er im Buch "The Fight" porträtierte. (picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
Es gibt von Norman Mailer die Beschreibung eines Mittagessens mit Henry Kissinger. Bei der Begrüßung im Weißen Haus setzte Kissinger ein breites Lächeln auf und sagte: „Ich muss heute meinen masochistischen Tag haben, dass ich es wage, mich von Ihnen interviewen zu lassen.“
Natürlich wusste Kissinger genau, mit wem er es zu tun hatte: Geboren am 31. Januar 1923 in Long Branch in New Jersey und aufgewachsen in Brooklyn, war Norman Mailer als 25-Jähriger mit seinem Debut-Roman „Die Nackten und die Toten“ über Nacht weltberühmt geworden. Mit diesem 1948 erschienenen, während des Zweiten Weltkriegs auf einer Pazifikinsel spielenden Epos, bewies er sich früh als Autor, der den Sound der Zeit und Gegenwart mit allen Sinnen aufnehmen und schmecken wollte.

Eine neue, subjektive Form der Reportage

„Ich hatte mir von Anfang an vorgenommen, in meinen Romanen alle möglichen Erfahrungen einzuarbeiten. Es war immer mein Ehrgeiz, soviel wie möglich auszuprobieren und zu lernen. Ein Romanautor bleibt wirkungslos, wenn er sich nicht weiterentwickelt.“
Solche Weiterentwicklung wollte Mailer in folgenden Romanen aber nicht gelingen. Da erinnerte er sich an die Reportage-Elemente, die er im ersten Roman verwendet hatte, und fand einen neuen Stoff im Oktober 1967 buchstäblich auf der Straße: im Protestmarsch von Vietnam-Kriegsgegnern zum Pentagon. An diesem Protestmarsch hatte er nicht nur teilgenommen, sondern ihn auch mitgestaltet und war sogar verhaftet worden, so dass er sich selbst ins Geschehen einbringen und in dem Buch „Heere aus der Nacht“ eine neue, subjektive Form der Reportage kreieren konnte:  
"Sein Zorn darüber, dass die Welt bei weitem schlechter funktionierte, als sie das bei Anwendung seiner Vorstellungen getan hätte, gab ihm den Mut zum Sprechen."

Streitsüchtig - dissonant - exzentrisch

Auch außerhalb seines Schreibens pflegte Mailer sein kraftprotzendes Selbstbewusstsein und Image als Enfant terrible der amerikanischen Literatur. „The Sound of Time“ nannte Jacob Druckman ein nach Mailer-Texten komponiertes Musikstück, das auch einen Ausdruck vermittelt von Mailers streitsüchtiger, dissonanter, exzentrischer Person. Dass er im Rausch seine zweite Ehefrau mit einem Messer attackierte und lebensgefährlich verletzte, wunderte fast schon niemanden mehr, genauso wenig wie seine Kandidatur für den Posten des Oberbürgermeisters von New York. Abgeschlagen auf einem hinteren Rang landend, musste er feststellen: „Ihm blieb eigentlich zum Schluss nur das Gefühl, dass er sich selbst ungemein langweilig war.“

Die Mondlandung als metaphysisches Abenteuer beschrieben

Aufgrund mehrerer missratener Filmprojekte auch finanziell in arger Bedrängnis, kam in diesem Moment von „Time/Life“ das Angebot, für ein Honorar von einer Million Dollar eine Reportage über die Mondlande-Expedition Apollo 11 zu schreiben. Mailer mietete sich in einem Motel bei Houston ein und beobachtete monatelang wie ein Detektiv die Vorbereitungen der ersten Mondlandung, die er als metaphysisches Abenteuer beschrieb. Dann das Ereignis am 21. Juli 1969 um 03:56 Uhr mitteleuropäischer Zeit: Neil Armstrong setzte als erster Mensch einen Fuß auf den Mond. Sein Geheimnis, antwortete Mailer auf die weltweite Euphorie, habe der Mond aber nicht verraten:
"Der Mond ist eine Stimme, die nicht spricht, eine Geschichtstafel, die voll enthüllt vor dem Auge steht und dennoch keine Antwort gibt: Ja, der Mond ist die Zentrifuge der Träume, sie beschleunigt jede neue Idee, bis sie aus sich selbst heraus zu leuchten beginnt. Wer den Mond ansieht, tut unwillkürlich einen tiefen Atemzug."
Bis zu seinem Tod 2007 blieb Norman Mailer in seiner Spur und belauschte den Sound der Zeit und der Gegenwart. Marilyn Monroe war ein Objekt seiner Schreib-Begierde, aber er porträtierte auch Jesus und Picasso, Mohammed Ali und den Doppelmörder Gary Gilmore. Mailers Traum, „the Great American Novel“, das große romanhafte Gesamtbild Amerikas zu schreiben, blieb allerdings unerfüllt. Doch wer sich den Sound of Time in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch einmal vergegenwärtigen will, kann ihn in vielen Büchern seines umfangreichen Werks vernehmen.