Schritt für Schritt durch den tiefen Schnee geht es langsam, aber stetig bergauf. Bis zum Gipfel ist es nicht mehr weit und allmählig eröffnet sich das Panorama, für das wir hier sind. Das tiefblaue Wasser des Nordmeeres umrahmt die schneeweißen Ufer der Insel Senja.
Fast 400 Kilometer über dem Polarkreis ist die Küste Norwegens durchzogen von Fjorden und gebirgigen Inseln. Es ist das ideale Terrain für Skiwanderungen bis in den Mai hinein: Auf Meereshöhe, in der Nähe vom Hafen in Senjahopen, beginnt der Aufstieg der Tour und endet auf dem fast achthundert Meter hohen Gipfel des Skolpan.
Es geht um das Entdecken und Erleben
Danach folgt die Abfahrt: Zurück Richtung Fjordufer durch unberührten Pulverschnee. Der Traum vieler Wintersportlerinnen und Wintersportler: Skitouren abseits überlaufener Berge und inmitten der Wildnis. Ein Traum, den sich der Finne Fredrik Aspö dauerhaft erfüllt hat, als er vor zehn Jahren zum ersten Mal hierher kam und einfach nie wieder ging.
"Früher bin ich nur auf kleine Berge gestiegen, doch dann wurden sie immer größer und größer. Ich bin immer der Nase nach weiter nach Norden gegangen. Und als ich das erste Mal die norwegischen Berge gesehen habe, war ich sofort verliebt. Und so ist es bis heute."
Die norwegischen Küstengebirge sind Fredriks Heimat geworden. Hier lebt er, denn hier ist er am glücklichsten. Und er kann das tun, was er am liebsten macht: Draußen sein. Zurück im Tal erzählt Fredrik von zwei nordischen Philosophen des 20. Jahrhunderts, nach deren Regeln er lebt. Aus seiner Liebe zu den Bergen hat sich eine umfassende Ethik entwickelt. Anders als im gipfelstürmerischen Alpinismus geht es ihm viel mehr um das Entdecken und Erleben, als das Erreichen eines Gipfels.
"Wir machen das Beste aus einem Tag. Wir gehen raus, haben aber nicht unbedingt einen bestimmten Gipfel als Ziel. Und wenn wir doch ein Gipfelziel haben, versuchen wir dennoch, auch die anderen Aspekte einer Bergtour nicht aus den Augen zu verlieren – wie zum Beispiel das Mittagessen. Man sollte sich die Zeit nehmen, die mitgebrachte Brotzeit auch zu genießen. Genauso wie die Aussicht, den Schnee, die Natur und die Landschaft."
Die "alte Dame" wiegt 700 Tonnen
Zu Fredriks Ethik gehört es auch, so wenige Spuren wie möglich zu hinterlassen, beim Klettern keine Bohrhaken zu verwenden und Erstbegehungen nicht zu veröffentlichen. Auch andere sollen noch die Möglichkeit haben, quasi unentdecktes Terrain zu erschließen. Was in den Alpen beinahe unmöglich wäre, ist in Nord-Norwegen gängige Praxis. Denn nicht jede Route ist in Bergführern beschrieben und ohne ein Gipfelkreuz gibt es auch keine Anzeichen früherer Besteigungen. Und so wirkt jede Tour fast wie eine Pionierleistung.
"Du kannst deinen Freunden erzählen, dass es in diesem Tal, an diesem Berg etwas sehr Cooles gibt. Dass sie es mal auschecken sollen. Aber du verrätst keine weiteren Details und sagst auch nicht ob du auf dem Gipfel warst oder nicht, weil du die Freude am Entdecken erhalten willst."
Zurück am Ufer, wartet "The Old Lady" bereits auf Fredrik – die alte Dame. Sie wiegt fast 700 Tonnen, ist aus Stahl und liegt im Hafen von Senjahopen – ein prächtiges Schiff, eine echte Antiquität.
Ein schwimmendes Hotel zwischen Bodø und Tromsø
"The Old Lady" – wie sie von ihrer Crew genannt wird, heißt eigentlich Gamle Salten – norwegisch für "Altes Salz". Diesen Namen hat sich der frühere Güterfrachter seit den 1950er Jahren redlich verdient. Inzwischen gilt sie als maritimes Denkmal und ist gern gesehener Gast auf Oldtimer-Shows für Schiffe in Norwegen. Ihre wahre Schönheit entfaltet sich allerdings erst in den Fjorden der norwegischen Küste. Zwischen Bodø und Tromsø dient sie als schwimmendes Hotel, so auch für Outdoor-Begeisterte wie Fredrik.
Auf der Brücke der Gamle Salten steht Ole Alexandersen, der Kapitän.
"Ich habe auf diesem Schiff hier schon als junger Segler gearbeitet. Nach meiner Pensionierung haben eine Gruppe von Leuten und ich das Boot 2008 dann gekauft. Und seitdem stehe ich wieder hier an Bord und solange mich niemand zurück an Land zerrt, bleibe ich auch hier."
Ole ist jenseits der 70 und einer von nur ganz wenigen, die die Gamle Salten überhaupt noch steuern können. Der Grund dafür liegt drei Stockwerke tiefer – im Maschinenraum, wo es ohrenbetäubend laut ist. Es sind noch immer die originalen Maschinen, die das Herz der Gamle Salten bilden – gebaut 1953.
"Der Schiffsmotor ist ein schwedischer Atlas Polar mit elfhundert Pferdestärken. Er läuft noch sehr gut, aber wer heutzutage von der Kapitänsschule kommt, weiß nichts über diese Maschinen. Darum besteht die komplette Crew der Gamle Salten aus Rentnern, die ihr ganzes Leben auf solchen Schiffen gearbeitet haben. Es ist eine Herausforderung, aber wir tun alles, damit auch junge Leute diese Schiffe lieben lernen."
Dünn besiedelte Mondlandschaft aus schneebedeckten Bergen
Die Gamle Salten ist einzigartig und ist deshalb besonders beliebt bei Hochseeromantikern und Schiffsliebhabern aus ganz Europa. Zehn Knoten schafft die alte Dame maximal – keineswegs ein Spitzentempo, aber wer braucht das schon in dieser Landschaft.
Während die Gamle Salten die Insel Senja hinter sich lässt, spielt die Crew über die Lautsprecher die Lieder der Rockband Senjahopen. Die Musiker stammen tatsächlich von hier und haben sich nach ihrem Heimathafen benannt. Und mittlerweile ist die Band auch im restlichen Norwegen recht bekannt.
Die Gamle Salten befindet sich nun auf offener See und schippert parallel zum Ufer Richtung Süden. Die meisten Passagiere sind an Deck und genießen die Aussicht. Auf Backbord fällt die schroffe Felsküste steil ins Meer hinab. Nur in den Fjorden finden sich natürliche Häfen zum Anlegen. Dahinter erstreckt sich eine dünn besiedelte Mondlandschaft aus schneebedeckten Bergen und Gipfeln, die sich auch die Arctic Haute Route nennt. Vor diesem Panorama ist die Gamle Salten zu Hause.
Die Lofoten sind ein einzigartiges Klettergebiet
Bis in die Nacht hinein trotzt die alte Dame den Wellen auf dem Weg nach Svolvær – einem verschlafenen Hafen auf den berühmten Lofoten. In der Dunkelheit erkennt man höchstens die Konturen dessen, was die Inselgruppe so bekannt macht: Dramatische Landschaften aus Felsgiganten, die aus dem Wasser zu wachsen scheinen. Mit 4.000 Einwohnern ist Svolvær der größte Ort der Lofoten. Die nächstgrößere Stadt liegt über drei Autostunden entfernt. Wer hier wohnt, muss mit der Ruhe leben können, die dieser Ort mit sich bringt. So wie Stian Bruvoll. Er ist hier geboren und aufgewachsen. Doch im Vergleich zu seinen Altersgenossen in den Städten, hat er nicht das Gefühl, dass er auf den Lofoten irgendetwas verpasst.
"Es ist ruhig, selbst am Wochenende passiert hier nicht viel. Dafür gibt es andere Dinge zu tun, wie Skifahren oder Klettern. In einer Großstadt will man Kultur erleben, ein Bier mit Freunden trinken. Und hier geht man halt Skifahren oder Klettern mit Freunden. Man macht ähnliche Dinge, nur in einem anderen Umfeld."
Auch wenn Stian manchmal gerne ins Kino oder auf ein Konzert gehen würde, weiß er, was er an der Natur der Lofoten hat. Etwas, was er in der Stadt nicht finden kann, denn die Lofoten sind ein einzigartiges Klettergebiet.
"Die Gipfel sind sehr alpin und manche sind nicht über eine Straße erreichbar. Man braucht ein Boot, um dorthin zu kommen. Es kann sein, dass dann seit Jahrzehnten niemand mehr dort gewesen ist. Das fühlt sich so an, als ob man seinen eigenen Garten zum ersten Mal erkundet. Das ist sehr aufregend."
Aufwachen aus dem Winterschlaf
Stian ist Ende 20 und arbeitet als Bergführer, lebt also von der Natur und vom Tourismus. Doch im Winter, wenn es für mehrere Wochen dunkel ist und sich praktisch keine Touristen auf die Lofoten verirren, kann das Leben hier oben auch ganz schön hart sein.
"Wenn es dunkel ist und es regnet, fühlt man die Einsamkeit. Man bleibt dann häufiger drinnen. Aber wenn im Frühling die Tage wieder länger werden, hat man plötzlich wieder ganz viel Energie und man fühlt wie die Laune sich schlagartig verbessert. Und das haben alle, die hier leben gemeinsam. Alle freuen sich im Frühling wieder darauf, Dinge zu unternehmen. Sie wachen dann auf aus dem Winterschlaf. Und das ist ein großartiges Gefühl."