"Gestern haben wir uns noch die Sonne angeguckt. Es ist ja eben nie dunkel geworden am Nordkap", erzählt stolz die fünfjährige Lorenza aus Berlin, die zum ersten Mal mit ihren Eltern und Geschwistern mit dem Wohnmobil hier oben ist.
"Jetzt hat uns das hier so gut gefallen, dass wir den zweiten Tag noch einmal hergekommen sind und noch mal die Mitternachtssonne beobachten wollten", berichtet Johanna Greve aus Greifswald. Sie ist mit ihrer Familie und dem Zelt am Nordkap. Ihre Mutter Heike bestätigt die Sehnsucht ihrer Landsleute nach dem Norden: "Das stimmt, das fällt hier auf, dass hier viele Deutsche sind. Norwegen ist schon ein tolles Reiseland - spektakulär mit den ganzen Fjorden."
"71-10-21" - die Zahlenkombination für Insider
Das Nordkap in der Finnmark im Norden Norwegens ist der nördlichste mit dem eigenen Fahrzeug zu erreichende Punkt Europas. Und viele tausende Kilometer entfernt von Deutschland. Für Reisende ist es ein Sehnsuchtsort. Liegt es daran, dass es sich 514 Kilometer nördlich vom Polarkreis befindet? Oder dass es von dieser ins Nordpolarmeer reichende Felsspitze nur noch 2.100 Kilometer bis zum Nordpol sind? Jedes Jahr machen sich mehr und mehr Touristen und Abenteurer auf die Reise in den kahlen, oft kalten und feuchten Norden. Alle wollen einmal auf der bekannten Aussichtsplattform mit dem Globus stehen, um zu wissen, was es mit den Koordinaten "71-10-21" auf sich hat. Insider tragen diese Zahlenkombination auf ihren T-Shirts.
So wie Lothar Schiwy aus der Oberlausitz: "Das ist auf dem 71. Breitengrad, zehn Minuten und 21 Sekunden. Aber ich weiß jetzt nicht wie viel in Kilometern das ist. Ich weiß nur, von Breitengrad zu Breitengrad sind es 111 Kilometer, hat man mal in der Schule gelernt." Lothar kommt gerade von einer Wanderung zurück. Er war auf einer Landspitze, die etwas links vom Nordkap liegt und nur zu Fuß auf einem neun Kilometer langen Weg zu erreichen ist: "Knivskjelodden, geht etwa eineinhalb Kilometer nach Norden und die liegt auf 71-11-08". Das ist also noch nördlicher als das Nordkap.
Neben vielen Rentieren an Land sah er dort etwas im Meer: "Dann habe ich dort eine Robbe tauchen sehen. Es ist mal interessant, so was zu beobachten, so ein wildes Tier halt, wenn es dann beim Fischfang ist. Da guckte so ein großer schwarzer Buckel mit einer Rückenschwanzflosse raus. Ich denke mal es war wie ein Schweinswal, ein sogenannter Tümmler."
"Bin jedes Jahr hier am Nordkap und bin ganz begeistert, wie warm und sommerlich das hier heute ist. Vor sechs Jahren waren wir hier. Da hat es hier fürchterlich gestürmt. Wir konnten unser Glas mit dem Linie-Aquavit kaum halten. Die Nordkap-Halle war von dem Globus aus nicht zu sehen. Man stand hier so wie in der Waschküche. Ich bin immer glücklich, wenn man von hier oben aus das Wasser unten sehen kann", sagt Erko Janiesch.
Karge Landschaften unter der Mitternachtssonne
Seit 1984 ist er regelmäßig mit Reisegruppen aus Deutschland hier am Nordkap. In der von ihm erwähnten Nordkap-Halle können die Touristen Ausstellungen besichtigen, in Souvenirläden shoppen, oder sich im Restaurant ein Glas Nordkap-Champagner kredenzen lassen. Sogar ein kleines Postamt und eine ökumenische Kapelle finden die Besucher. Reiseführer Janiesch weiß, was die Touristen anzieht:
"Ich glaub, was am allermeisten den Gästen gefällt ist die Art der Landschaft. Das Karge, finden wir sonst in Europa ganz, ganz selten. Tundra, so einfach, bequem in einem Fahrzeug sitzend zu erreichen – ist sonst nirgendwo möglich. Und das fasziniert die Menschen auch, dass es nachts nicht dunkel wird - dass es nachts hell ist."
Der Reiseprofi registriert kritisch die Veränderungen durch die Tourismusindustrie: "Es gab weniger Tourismus und es gab vor allem die Kreuzfahrer nicht, denn das ist manchmal schon wirklich eine Qual. Ich war letztes Mal hier und da waren 3.000 Leute von "Mein Schiff" - das macht dann keinen Spaß mehr, ganz ehrlich gesagt."
Seit fünf Jahren arbeitet Peter Schulz in der Nordkap-Halle. In der Hochsaison sind hier über 200 Menschen aus vielen Ländern beschäftigt. Ursprünglich kommt Schulz aus der Nähe von Stralsund. Dann wanderte er nach Schweden aus und bewarb sich vor fünf Jahren am Nordkap um eine Stelle. Als einziger festangestellter Deutscher ist er in der Buchhaltung tätig und beobachtet als Zahlenmensch den wachsenden Strom von Reisenden. In diesem Jahr rechnet er mit einem Rekord von bis zu 280.000 Besuchern. Und davon aus Deutschland: "Ich denke mal es wird mehr als die Hälfte sein."
Dank asphaltierter Straßen kommen Menschen zu allen Jahreszeiten zum Nordkap. Das Besucherzentrum hat ganzjährig geöffnet. Nur jenseits des Sommers sind aufgrund der Wetterverhältnisse auch mal die Anfahrtswege gesperrt, wie Peter Schulz berichtet. Da kommen nicht einmal die Angestellten zu ihrer Arbeitsstelle: "Also wir waren über Ostern mehr als eine Woche abgeschnitten hier. Wir hatten im letzten Jahr noch am 3. Juni gesperrte Wege, wegen Schnee und Unwetter."
Sehnsuchtsort seit Jahrhunderten
Reisen zum Nordkap haben seit Jahrhunderten Tradition. Bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts gelang es meist nur der wohlhabenden Oberschicht, das knapp 300 Meter steil aus dem Meer aufragenden Hochplateau des Nordkaps zu betreten. Die Reise war mühsam und beschwerlich. Konnte nur in Etappen mit dem Schiff und zu Fuß sowie mit vielen Helfern und Dienern bewältigt werden.
So ist in den Annalen verbürgt, dass 1795 der französische Prinz Ludwig Philipp I. hier war. 1873 der Schwedische und spätere Norwegische König Oscar II.. Und im Jahr 1907 sogar der König von Siam, dem heutigen Thailand. An seinen Besuch erinnert in der Nordkap-Halle ein kleiner Thai-Pavillon samt Ausstellung. Manager Peter Schulz verrät die idealen Reisezeiten: "Wir haben ja die Mitternachtssonne vom 11. Mai bis Ende Juli. Es wird ja erst richtig dunkel wieder Mitte, Ende August."
Zwar kann man in der Nordkap-Halle gut Essen und Trinken sowie in den Shops allerlei Andenken einkaufen, nur einen Hotelbetrieb mit Übernachtungsmöglichkeiten gibt es hier nicht. Gegen eine Eintrittsgebühr von derzeit 275 norwegischen Kronen, was dem Gegenwert von etwa 30 Euro entspricht, übernachten viele für ein oder zwei Nächte auf einem großen Parkplatz.
Lebhaft geht es vor der Plastik des "Globus" – dem beliebten Fotomotiv aller Nordkap-Reisenden – zu. Besonders in den gut 11 Wochen der Mitternachtssonne. Und manches Mal greifen einige zur Gitarre: "Es war jetzt irgendwie spannend einfach einen Punkt zu haben an dem ankommt und von dem man aus wieder nach Hause fährt - nach München. Deshalb haben wir gesagt, wir nehmen das Nordkap mit. Aber für den Cornelius ist es schon eine lange Strecke zu fahren. Es ist grenzwertig. Er ist sechs Jahre alt", sagt Patricia Seiler.
Sie ist mit ihrem Mann Thomas und ihrem Sohn bereits seit drei Monaten quer durch Europa unterwegs. Der Informatiker und die Sozialpädagogin nutzten die Elternzeit im VW-Bus, bevor ihr Kind in die Schule kommt. Am Ende werden sie in 14 Länder gewesen sein und 14.000 Kilometer zurücklegt haben. Patricia hat vor zwei Jahrzehnten schon einmal die Faszination der Mitternachtssonne erlebt:
"Es ist einfach beeindruckend. Es sieht toll aus. Man könnte sich, wenn man das Kind nicht dabei hätte da einfach stundenlang hinsetzen und das anschauen. Es ist schön. Hier ist wahnsinnig viel los. Wenn man bedenkt, wie wenig vor 20 Jahren in Norwegen los war. Es ist schon sehr rummelig."
"Und irgendwann wird’s halt wie eine Sucht"
"Ich bin jetzt insgesamt zum 15. Mal hier." - Die vielen Menschen und der Rummel scheinen dem Installateur Lothar Schiwy nicht zu stören. Seit 1999 reist er fast jedem Sommer nach Skandinavien und immer auch zum Nordkap. Die Nächte ohne Dunkelheit haben es dem Sachsen angetan. Unser Gespräch findet nachts um ein Uhr statt - bei Sonnenschein. Warum fährt jemand in seinen Ferien immer wieder in den hohen Norden Europas?
"Naja am Anfang war es so ein bisschen Mal um die Mitternachtssonne zu sehen und je weiter nördlich umso besser. Aber dann entdeckt man im Nachhinein immer mehr Ziele, die man unterwegs so erforschen kann und irgendwann wird’s halt wie eine Sucht." Hat man jeden Sommer so eine herrliche Sicht am Nordkap mit warmen Tagen um die 25 Grad, so wie in diesem Jahr? "Es ist ein Glücksspiel. Das ist ein Nachteil, wenn man mit einer Reisegruppe fährt, man ist nur den einen Abend am Nordkap und dann heißt es eben Top oder Flop. Wenn man selber fährt, man kann mehrere Tage hier verbringen und hat die Chance größer."
Wie viele Wochen ist der Nordkap-Fan Lothar jeden Sommer unterwegs? Und wie reist er? "Dreieinhalb dieses Jahr. Immer mit dem eigenen Wagen. Das bietet ja doch einige Vorteile. Das selber Fahren und Reisen ist eben auch die Möglichkeit, man hat mehr Bezug, um Land und Leute kennenzulernen."
Nicht alle sind begeistert
Und wo übernachtet der Alleinreisende Nordkap-Fahrer auf seiner fast 4000 Kilometer langen Tour? "Meistens schlafe ich im Auto oder im Zelt. Oder wenn ich mal im Nationalpark oder beim Wandern unterwegs bin, dann auch mal in einer Blockhütte. Man lernt, die kleinen Sachen des Lebens zu schätzen: einen Schlafplatz in einer Hütte, einen Ofen zum Heizen und dann noch was Warmes zu Essen und da ist man schon glücklich."
Viele Jahre lang war das Nordkap, weil es auf einer Insel liegt, nur per Schiff zu erreichen. Und als vor knapp 20 Jahren der fast sieben Kilometer lange Nordkaptunnel eröffnet wurde, erhielt der Reisestrom zum "Globus" - der bekannten Metallskulptur, die in diesem Jahr ihren 40. Geburtstag feiert - weiteren Zulauf.
Und der Tunnel: "Seit 2012 ist er mautfrei. Insgesamt hatte dieses Projekt eine Milliarde norwegische Kronen gekostet. Und dann ist es in Norwegen so, wenn das Projekt fertig ist, dann wird ein Mauthäusl hingestellt, dann wird Maut kassiert, bis die Baukosten wieder rein sind und ab dann ist er kostenlos zur Verfügung."
Seit einiger Zeit ist Lothar Schiwy sogar in einem speziellen Club für Nordkap-Fahrer: "Das ist dieser Royal Nordkap-Club, dann kann jeder eintreten, wer mindestens einmal am Nordkap war. Ich bin schon seit 2001 dort Mitglied. Man bekommt da so eine Urkunde ausgestellt, einen Ausweis, einen Anstecker und einen Aufkleber dazu und hat durch die Mitgliedschaft freien Eintritt auf Lebenszeit."
Weniger euphorisch, recht nüchtern und kritisch bilanziert Thomas, der Mann von Patricia Seiler aus München seinen Nordkap-Aufenthalt: "Mir gehen die vielen Leute hier auf die Nerven. Also ich bin nicht der Crowded-Places-Typ. Das hier ist nicht so unser Stil. Ich find die Preise ein bisschen überzogen. Wenn da mal wenigstens ein Toilettenhäuschen wäre mit Duschen – okay, dann würde ich mir das eingehen lassen, den Spaß. Aber so finde ich es schon ein bisschen abgefahren. Ich finde es nicht gerechtfertigt. Aber mei das ist halt Kommerz und wir sind in Norwegen. Da ist alles schön teuer."
Über Finnland, das Baltikum und Polen geht es für die Seilers zurück nach Bayern. Zu einem Sehnsuchtsort wie für viele andere Deutsche scheint das Nordkap für sie nicht geworden zu sein. So wie für Nordkap-Lothar, der schon seine nächste Reise, plant. Thomas glaubt es nicht und fragt erstaunt: "Das fünfzehnte Mal? Würde ich nie machen. Also einmal reicht."