Die Bilder von Norwegens erstem WM-Qualifikationsspiel gegen Gibraltar gingen um die Welt. Zu den Klängen ihrer Nationalhymne ziehen sich Erling Haaland und die anderen Spieler die roten Trainingsjacken aus. Darunter: Weiße T-Shirts mit der Aufschrift: "Human rights. Off and on the pitch". "Menschenrechte, auf dem Platz und daneben."
Ein großartiges Zeichen sei das gewesen und eine wichtige Botschaft, sagte der Präsident des norwegischen Fußballverbandes NFF, Terje Svendsen, norwegischen Medien. Die Initiative von Nationaltrainer Ståle Solbakken und seiner Mannschaft mache deutlich, dass den Spielern die Situation im Gastgeberland Katar am Herzen liege. Eine nette Geste, aber nicht genug, findet dagegen Gjert Moldestad. Er ist Sprecher der Norsk Supporterallianse, des Dachverbands von mehr als 40 norwegischen Fußball-Fanclubs und sagt:
"Ich finde es gut, dass sich die Spieler engagieren wollen. Es ist lobenswert, dass die Nationalmannschaft ihre Stimme einsetzt, um Einfluss zu nehmen. Aber für uns Fanclubs ist klar, dass ein Boykott der einzig richtige Weg ist."
Über die Möglichkeit eines WM-Boykotts wird in Norwegen seit Wochen diskutiert. Den Anstoß gab ein Artikel des britischen "Guardian". Dieser berichtete Ende Februar, dass seit der WM-Vergabe an Katar vor zehn Jahren mindestens 6.500 Gastarbeiter ums Leben gekommen seien. Gjert Moldestad findet, damit sei endgültig eine Grenze überschritten:
"Man hat jetzt lange genug versucht, den Dialog zu suchen. Es gibt immer noch Berichte über Menschenrechtsverletzungen, über Arbeiter mit sklavenähnlichen Verträgen. Viele sind gestorben. Wir finden, es ist Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen."
Mehrere Erstligavereine wollen den Boykott
Das findet nicht nur die Norsk Supporterallianse. Inzwischen machen sich auch sieben von 16 Erstligavereinen für einen Boykott stark. Der erste Aufruf kam im Februar von Tromsø IL, inzwischen haben sich unter anderem Brann Bergen und Norwegens Rekordmeister, Rosenborg Ballklub Trondheim, angeschlossen. Und das, obwohl die dortige Vereinsführung eigentlich lieber auf einer Linie mit Norwegens Fußballverband geblieben wäre, räumt Vorstandschef Ivar Koteng ein. Wie der NFF war er gegen einen Boykott:
"Unser Argument ist, dass es mehr bringen würde, mit den Menschen zu sprechen, um Einfluss auf die Situation in Katar zu nehmen. Aber die Mitgliederversammlung hat eine klare Entscheidung getroffen. Und die lautet, dass wir als Verein für einen Boykott stimmen werden."
Letztlich hätten ohnehin alle im norwegischen Fußball das gleiche Ziel, sagt Koteng – ob sie nun für einen Boykott seien oder dagegen:
"Die Situation der Arbeiter muss sich verbessern und die Entscheidungen der Fifa müssen transparenter werden, als sie es heute sind."
"Boykott würde Beachtung finden"
Die Entscheidung soll auf einer außerordentlichen Sitzung am 20. Juni fallen – auf dieses Datum hat der NFF die Frage des möglichen Boykotts bei seiner Jahreshauptversammlung Mitte März vertagt. Ein Stimmrecht haben dabei neben der Verbandsführung und den Regionalverbänden auch alle Vereine der ersten, zweiten und dritten Liga, ebenso wie die der obersten Frauenligen. Für die Befürworter gehe es nun also darum, möglichst viele Clubs von einem Boykott zu überzeugen, sagt Gjert Moldestad von der Norsk Supporterallianse:
"Wir waren der Meinung, dass man den Boykott hätte beschließen sollen, bevor wir in die Qualifikation eingestiegen sind. Deshalb schauen viele Menschen die Spiele der Norweger nicht an. Ich selbst habe keine einzige Minute davon gesehen. Es gibt also schon eine Art Boykott. Aber die eigentliche Frage wird demokratisch auf der Sondersitzung entschieden, und darauf müssen wir nun eben warten."
Fraglich ist, wie viel Gewicht ein Boykott im Juni noch hätte. Norwegen war seit Jahren bei keiner WM-Endrunde mehr dabei, besonders wahrscheinlich ist das nach den ersten drei Qualifikationsspielen auch dieses Mal nicht. Die Entscheidung würde aber in jedem Fall Aufsehen erregen, ist sich Reidar Sollie sicher. Der Vorsitzende des norwegischen Sportjournalistenverbandes sagt:
"Klar, Norwegen hat sich seit 1998 nicht mehr für eine WM qualifiziert. Aber dass ein Land eine Fußball-WM boykottiert, ist so selten, dass die Tatsache an sich schon Beachtung finden würde."
"Es kann alles passieren"
Für den norwegischen Verband würde ein Boykott so oder so finanzielle Einbußen bedeuten, erklärt Sollie. Und es bestehe eine gewisse Furcht, dass die Fifa den Schritt bei künftigen Turnieren bestrafen könnte. Dass es am 20. Juni wirklich so weit kommt, daran glaubt der Sportjournalist inzwischen weniger als noch vor ein paar Wochen. Das hat auch mit dem T-Shirt-Protest der Nationalmannschaft zu tun:
"Es macht Eindruck, dass große Nationen wie Deutschland und die Niederlande der norwegischen Aufforderung gefolgt sind. Ich glaube, Ståle Solbakken und seine Mannschaft haben einen Weg gewählt, mit dem viele zufrieden sind. Sie finden, das reicht. Norwegen hat Nein gesagt", sagt Sollie, sicher sei er allerdings nicht: "Man kann nie wissen, was auf so einem Treffen passiert. Und die Vereine in Norwegen haben große Macht. Es kann also alles passieren."