Archiv

Norwegens Deutschenkinder
Das Archiv der Täter und Opfer

Die Jahre der Besatzung galten in Norwegen nach dem Krieg vor allem als Jahres des Widerstands gegen die Nazi-Besatzer. Das war der romantisierte Blick auf eine brutale Zeit und wichtig für das nationale Wir-Gefühl. Erst Ende der 90er-Jahre setzte eine kritische Debatte ein.

Von Gunnar Köhne |
Regale mit Akten zur Besatzung der deutschen Wehrmacht lagern im Norwegischen Staatsarchivs
Im Norwegischen Staatsarchivs lagern Akten zur deutschen Besatzung von 1940 bis 1945 (Deutschlandradio / Gunnar Köhne)
Die Tür zum Magazin ist gut gesichert, denn hier, im Obergeschoss des Norwegischen Staatsarchivs, lagert - in hunderten Regalmetern - das Gedächtnis der deutschen Besatzung von 1940 bis 1945.
Mit einem Knopfdruck bewegt Kaare Olsen eines der schweren Rollregale zur Seite, bis sich ein schmaler Gang öffnet. Auf den Regalböden stehen mit Bindfäden zusammengebundene Konvolute.
"'Deutscher Oberbefehlshaber Norwegen'. Hier befinden sich sogar zum Teil Unterlagen aus der Zeit nach Kriegsende. Die 350.000 Wehrmachtssoldaten wurden zwar entwaffnet und interniert. Aber sie konnten wegen der chaotischen Zustände in Deutschland lange Zeit nicht zurückgeschickt werden. Und Norwegen war mit deren Betreuung überfordert. Also verwalteten die sich monatelang selbst."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Vergangenheitsbewältigung - "Deutschenkinder" in Norwegen.
Die entfernt gelegenen Wehrmachtsposten in Norwegen hätten sogar noch Ende Mai 1945, also Wochen nach Kriegsende, Rechnungen begleichen wollen!
Gute Geschäfte mit den Deutschen gemacht
Olsen schmunzelt. Seit über 30 Jahren arbeitet der Historiker am norwegischen Staatsarchiv, und immer schon hat er über die Geschichte der deutschen Besatzung geforscht. Auch über die sogenannten Deutschenmädchen hat Olsen ein Buch veröffentlicht. Er weiß, dass sich etwa hinter den Ordnern mit der Aufschrift "Reichskommissar für die besetzten norwegischen Gebiete, Hauptabteilung Verwaltung und Finanzen" mehr verbirgt als nur trockene Buchhaltung der deutschen Besatzer. Aus diesen Unterlagen lässt sich auch erschließen, wer in Norwegen mit den Deutschen gute Geschäfte gemacht hat.
Parade der deutschen Besatzungstruppen in Oslo, 20. April 1941.
Parade der deutschen Besatzungstruppen in Oslo, 20. April 1941. (akg-images)
"Viele Straßen, Flughäfen und Fabriken ließen Deutsche bauen – mit dem Ziel ihre ‚Festung Norwegen‘ auszubauen. Ohne Zweifel hat Norwegen von dieser Infrastruktur nach dem Krieg profitiert. Den Preis aber mussten Tausende von Zwangsarbeitern zahlen, die für diese Projekte geschunden worden sind. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass viele norwegische Unternehmen an diesen Aufträgen gut verdient hatten. Manche wurden dafür nach dem Krieg verurteilt, meist zu Geldstrafen, andere aber blieben unbehelligt."
Deportation und Vernichtung
Olsen sitzt derzeit an einem Buch über die Deportationen der norwegischen Juden 1942. Mehr als ein Drittel aller Juden im Land, etwa 750, wurde damals in einer Nacht-und-Nebel-Aktion von der SS und ihren norwegischen Helfershelfern in die deutschen Konzentrationslager deportiert. Rund 1.000 konnten sich über die Grenze ins neutrale Schweden retten.
"Wenn über die Opfer des Krieges geredet wurde, dann ging es immer nur um die gefallenen Seeleute oder die Widerstandskämpfer, die Opfer der Deutschen wurden. Die Juden wurden einfach nicht dazu gezählt. Die gehörten nicht dazu. Dabei waren die Juden in der Vorkriegsgesellschaft sehr gut integriert gewesen."
Doch der Historiker Kaare Olsen begrüßt solche Debatten. Es gebe in Bezug auf die Besatzungszeit noch etliche blinde Flecken, über die in den vergangenen 75 Jahren nicht ausreichend geforscht worden sei.
"Es gab eine langsame Entwicklung von der Heldenverehrung der Nachkriegszeit hin zu einer differenzierteren Sicht auf die Ereignisse. Jetzt, wo die Kriegsgeneration nicht mehr da ist, bestimmen die Jüngeren den Diskurs. Für sie sind nicht Patriotismus, sondern beispielsweise allgemeingültige Menschenrechte der Maßstab ihrer Betrachtung. Es war ja kein Zufall, dass die Entschuldigung der Ministerpräsidentin gegenüber den ‚Deutschenmädchen’ bei einer Veranstaltung zum 70. Jahrestag der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte geschah."