Wer suchet, der findet. Wenn die Flüchtlingsunterkunft im norwegischen Asker eines ist, dann sicher nicht gut ausgeschildert. Mittwochmorgen, kurz nach neun. Ingvil Hilde kann sich ein Lachen nicht verkneifen. Die Unterkunftsleiterin kennt das schon. Dass sich Besucher auf dem eine Autostunde von Oslo entfernten Riesengelände verlaufen.
"Ich bin auch erst gerade gekommen. Es ist gestern spät geworden. Wir hatten ein Problem mit zwei Geflüchteten. Ein Handgemenge. Mir blieb nichts anderes übrig, als den Sicherheitsdienst zu rufen. Es dauert immer, bis sie kommen. Wir liegen ja ziemlich abgelegen. Also musste ich warten. Als ich heute aufwachte, war mein erster Gedanke: Heute fängst du nicht schon um acht an."
Ingvil schaltet in ihrem kleinen Büro den Computer ein. Die übliche Routine: E-Mails lesen, die digitale Anwesenheitsliste checken.
"We are packed up and we will be packed up for a long time."
Voll ist es in Asker. Randvoll. Ingvil zeigt nach draußen. Das mehrstöckige Gebäude mit dem abgeblätterten Putz, dort sind Familien und alleinstehende Frauen untergebracht. Im Haus dahinter alleinstehende Männer. Insgesamt 138 Asylbewerber.
Sinkende Zahlen
"Die Regierung schließt immer mehr Asylbewerber-Unterkünfte. Wegen der sinkenden Flüchtlingszahlen. Wir sind eines der letzten, deshalb ist es bei uns auch so voll. Doch vor ein paar Tagen haben sich ein paar abgelehnte Asylbewerber aus dem Staub gemacht. So ist kurzfristig Platz frei geworden. Am Freitag kommt eine Mutter mit ihrer siebenjährigen Tochter. Sie stammen aus Somalia."
Erst einmal ein Kaffee. Ingvil schnappt sich zwei Tassen. Eine für sie, die andere für Rihab Waiz. Die junge Asylbewerberin wartet schon im Aufenthaltsraum. Seit November ist die Syrerin in Norwegen - in Sicherheit.
"Meine Schwester und ich sind über den Libanon nach Norwegen geflüchtet. Natürlich war es gefährlich. Doch Gott sei Dank ist uns nichts passiert. Wir haben uns geschworen: Wir bleiben zusammen, komme, was wolle. Meine Schwester war immer an meiner Seite. Wir haben uns gegenseitig Mut gemacht und beschützt. Als alleinstehende Frau wäre die Flucht viel zu gefährlich gewesen."
In Asker ist Rihab seit drei Monaten. Die Wirtschaftswissenschaftlerin nippt an ihrem Kaffee. Die ersten Tage waren nicht einfach. Aleppo , ihre syrische Heimat, ist eine Millionenstadt. Asker ein Kaff.
"Meinen Flüchtlingsausweis habe ich schon. Ich warte nur noch auf den Bescheid der staatlichen Flüchtlingsbehörde. Doch es zieht sich. Ein paar Mal habe ich angerufen und gefragt: Wie sieht es aus? Wird mein Asylantrag schon bearbeitet? Und immer heißt es: Sie müssen Geduld haben. Zumindest besuche ich seit zwei Wochen in Asker einen Norwegisch-Kurs. Mir stehen hundert Stunden zu. Wenn ich Asyl bekomme, wird es aufgestockt. Ingvil und die anderen meinen, als Syrerin habe ich gute Chancen, anerkannt zu werden. Doch die Ungewissheit macht mich ganz verrückt. Nachts liege ich wach und komme ins Grübeln: Was ist, wenn sie mich doch ablehnen? Darf ich weiter in den Unterricht? Oder werde ich zum Nichtstun verdammt wie die anderen hier?"
85 Prozent aller Geflüchteten in Asker sind abgelehnte Asylbewerber. Leute aus Äthiopien, Afghanistan, dem Irak. Wer nicht freiwillig ausreist, darf zwar in der Unterkunft bleiben, nur, legal arbeiten, Norwegisch-Unterricht nehmen, selbst Zahnarztbesuche, das fällt weg. Rihab schüttelt den Kopf. Nicht auszumalen. Die 23Jährige ist viel im Internet unterwegs. Ab und zu telefoniert sie mit einem alten Nachbarn aus Aleppo, er wohnt jetzt in Oslo. Eigentlich würde sie ihn gerne besuchen, doch das ist schwierig.
"Nach Oslo fahren? Machst du Witze! Dafür habe ich kein Geld. Mein Tagessatz beträgt 64 Kronen - etwas weniger als sieben Euro. Versteh mich nicht falsch: Ich bin den Norwegern unendlich dankbar für ihre Hilfe. Nur: 64 Kronen, was willst du damit schon anstellen? Allein die Busfahrt nach Asker, zum Supermarkt, kostet 55 Kronen. Eine Strecke. Wie soll ich da nach Oslo fahren?"
Ein bekanntes Dilemma
Rihab schaut zu Ingvil rüber. Die Unterkunftsleiterin kennt das Dilemma. Doch zumindest kann Rihab als Syrerin darauf hoffen, Asyl zu bekommen, genau wie Flüchtlinge aus dem Jemen und Eritrea. Alle anderen werden abgelehnt.
"Es ist schon komisch, in einem Flüchtlingslager zu arbeiten, in dem die meisten gar nicht da sein dürften - als abgelehnte Asylbewerber. Etliche sind komplett desillusioniert. Einige werden depressiv, andere aggressiv, manche nur traurig. Aber ehrlich gesagt: Die Probleme halten sich in Grenzen. Die meisten kommen irgendwie über die Runden. Ich glaube, ich könnte das nicht. Jeden Morgen aufzuwachen ohne zu wissen, wie es weiter geht. Viele hoffen auf eine Amnestie. Doch die letzte Amnestie liegt lange zurück."
"Es ist schon komisch, in einem Flüchtlingslager zu arbeiten, in dem die meisten gar nicht da sein dürften - als abgelehnte Asylbewerber. Etliche sind komplett desillusioniert. Einige werden depressiv, andere aggressiv, manche nur traurig. Aber ehrlich gesagt: Die Probleme halten sich in Grenzen. Die meisten kommen irgendwie über die Runden. Ich glaube, ich könnte das nicht. Jeden Morgen aufzuwachen ohne zu wissen, wie es weiter geht. Viele hoffen auf eine Amnestie. Doch die letzte Amnestie liegt lange zurück."
Ingvil steht auf. Sie will rüber zu Antonia, einer ihrer Mitarbeiterinnen. Antonia hat: Deutsche Wurzeln, Tattoos auf den Händen und ihr halbes Büro zugeklebt mit Fotos und Souvenirs.
"Ich dachte, wenn ich schon über so schwierige Sachen reden muss, dann sollen die Menschen zumindest sehen, wenn sie hier reinkommen, dass ich schon mit vielen Menschen gearbeitet habe. Und das ich liebe, was ich mache, dass ich Kontakt mit vielen Kulturen habe und keine Berührungsängste."
Antonia hat in Leipzig Asienwissenschaften studiert, die halbe Welt bereist. Irgendwann sind ihre Eltern nach Norwegen ausgewandert und sie hinterher. In Asker ist sie seit 2014. Ihr Job ist nicht ohne: Antonia soll abgelehnte Asylbewerber dazu bringen, freiwillig in ihre Heimatländer zurückzukehren. Per "Motivations-Interview."
"Wird viel in der Psychologie benutzt. Menschen sollen quasi alleine darauf kommen, was das Beste für sie ist."
Wenn man so will, ist Antonia das freundliche Gesicht einer nicht ganz so freundlichen Flüchtlingspolitik. Norwegens Mitte-Rechts-Regierung brüstet sich damit, das Land habe die schärfsten Flüchtlingsgesetze Europas.
"Ich habe in der letzten Zeit zwei, drei Fälle gehabt, es geht um Mütter aus Afghanistan mit Kindern, die ohne Mann gekommen sind. Sie bekommen keinen Schutz, eine Ablehnung. Und die sollen zurück nach Kabul, Afghanistan. Ich kenne den Hintergrund oft nicht, warum Menschen eine Ablehnung bekommen. Ich finde es persönlich aber sehr schwierig mit weinenden Müttern, die mit fünf Kindern hier sind, mit denen darüber zu reden, wie es ist, zurück nach Kabul zu gehen. Da stoße ich oft an meine Grenzen."
Ein paar Mal hat Antonia mit dem Gedanken gespielt, alles hinzuschmeißen. Doch irgendein Büro-Job, das wäre nichts für sie. Erst einmal will sie weitermachen und das tun, was sie immer tut, um abzuschalten: Sich in ihr Auto setzen und rausfahren in die Einsamkeit der norwegischen Fjorde und Hochebenen.
Rund eineinhalb Stunden dauert es mit den Öffentlichen Verkehrsmitteln von Asker in die Hauptstadt Oslo, zur Zentrale des Unterkunft-Betreibers, der "Norwegischen Volkshilfe", kurz NGA.
Gekürzte Gelder
Untergebracht ist die Menschenrechtsorganisation im "Glas-Magazin" - Oslos Luxus-Warenhaus. Viel exklusiver geht es kaum.
Selbst einen Springbrunnen gibt es im Foyer. Doch das mit der Exklusivität ist relativ. Ein Teil des Gründerzeitbaus ist Design-Kaufhaus, der Rest Büros. Schon schön hier, meint Henriette Westhrin, die NGA-Generalsekretärin. Schön praktisch. Bis zum Bahnhof sind es zu Fuß keine fünf Minuten. Henriette und ihr Team sind häufig unterwegs - im In- und Ausland. In Norwegen betreibt NGA seit mehr als zwanzig Jahren im Auftrag des Staates Flüchtlingsunterkünfte. 2016 waren es 13, aktuell ganze zwei.
"Eines der geschlossenen Asylbewerberzentren war in einem kleinen Flecken namens Jølster, in einem Hotel. Es ist sogar ein Buch darüber erschienen über das "Jølster Hotel." Die Flüchtlinge waren super integriert. Die Männer haben im lokalen Fußballverein mitgespielt. Zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit hatte Jølster wieder genügend Leute für eine Mannschaft."
Eine Hilfsorganisation als Betreiber einer Flüchtlingsunterkunft! Einige von Henriettes alten Parteifreunden von der sozialistischen Volkspartei haben da Bauchschmerzen. Doch die Frau, die acht Jahre lang für die alte Regierung als Staatssekretärin mit am Kabinettstisch saß, ficht das nicht an. Besser sie als irgendwelche kommerziellen Anbieter, die mit den Unterkünften Geld verdienen wollen. Punkt eins. Punkt zwei:
"Wir können sagen: Wir kennen dieses 13-jährige Flüchtlingsmädchen, das schon sieben Mal umziehen musste. Oder die Flüchtlingsfamilie mit den sechs Kindern, die mehr oder weniger unter der Armutsgrenze lebt wegen des geringen Tagessatzes. Wir kennen afghanische Jungs. Völlig traumatisiert. Die im Schlaf schreien. Wenn wir mit Politikern über Flüchtlingspolitik reden, können wir auf konkrete Beispiele verweisen, auf Menschen. Deshalb ist es wichtig, dass wir als Flüchtlingsorganisation die Unterkünfte betreiben. Wenn man so will, geben wir denen Schützenhilfe, die wollen, dass sich etwas an der Flüchtlingspolitik ändert hin zu etwas offeneren Grenzen und mehr Solidarität."
"Wir können sagen: Wir kennen dieses 13-jährige Flüchtlingsmädchen, das schon sieben Mal umziehen musste. Oder die Flüchtlingsfamilie mit den sechs Kindern, die mehr oder weniger unter der Armutsgrenze lebt wegen des geringen Tagessatzes. Wir kennen afghanische Jungs. Völlig traumatisiert. Die im Schlaf schreien. Wenn wir mit Politikern über Flüchtlingspolitik reden, können wir auf konkrete Beispiele verweisen, auf Menschen. Deshalb ist es wichtig, dass wir als Flüchtlingsorganisation die Unterkünfte betreiben. Wenn man so will, geben wir denen Schützenhilfe, die wollen, dass sich etwas an der Flüchtlingspolitik ändert hin zu etwas offeneren Grenzen und mehr Solidarität."
Offenere Grenzen, mehr Solidarität: Den meisten der fünf Millionen Norwegern ist nicht danach. Laut einer Umfrage unterstützen zwei von drei die restriktive Flüchtlingspolitik.
"Ja, das ist ein Dilemma für uns. Keine Frage. Genau wie die Kürzungen. Wir haben schon klar gemacht: Wir betreiben die Flüchtlingsunterkünfte nur weiter, wenn wir gewisse Qualitätsstandards halten können. Doch das wird immer schwieriger. Wenn der Staat weiter die Gelder kürzt, müssen wir auch Asker und die andere Unterkunft schließen. Wir können doch nicht einfach Gelder aus dem Topf für Hilfsprojekte in Afrika nehmen, um unsere Flüchtlingslager in Norwegen zu betreiben."
"Ja, das ist ein Dilemma für uns. Keine Frage. Genau wie die Kürzungen. Wir haben schon klar gemacht: Wir betreiben die Flüchtlingsunterkünfte nur weiter, wenn wir gewisse Qualitätsstandards halten können. Doch das wird immer schwieriger. Wenn der Staat weiter die Gelder kürzt, müssen wir auch Asker und die andere Unterkunft schließen. Wir können doch nicht einfach Gelder aus dem Topf für Hilfsprojekte in Afrika nehmen, um unsere Flüchtlingslager in Norwegen zu betreiben."
Hohe Hürden der Einreise
Luftlinie ist es kaum mehr als ein Katzensprung vom Glas-Magazin bis zur Zentrale der Norwegischen Flüchtlingsbehörde UDI. Und doch könnte der Unterschied größer kaum sein. In der Hausmannsgate 21 haben Bürokraten das Sagen. Frode Forfang ist ihr oberster Boss.
"Zu politischen Fragen möchte ich mich nicht äußern. Das ist Sache der Politiker. Aber, man kann schon sagen, die Flüchtlingspolitik ist in letzter Zeit strenger geworden. Speziell seit 2015. Doch auch schon vorher. Das kam nicht von heute auf morgen. 2015, die Flüchtlingswelle, war ein Einschnitt. Die Regierung hat es nicht nur schwerer gemacht, Asyl in Norwegen zu erhalten, sondern auch Gesetze verschärft. Es ist beispielsweise viel schwieriger geworden für anerkannte Flüchtlinge, ihre Familien nachzuholen."
Freitagmittag, kurz nach eins. Das Büro des UDI-Direktors, es ist so nüchtern eingerichtet wie der Verwaltungsmann redet. Forfang ist vorgestern Abend zurückgekehrt aus Malta, vom EU-Treffen der Chefs der nationalen Flüchtlingsbehörden. Norwegen ist zwar nicht in der EU, aber assoziiertes Mitglied der Runde.
"Ein paar Kollegen wollten wissen: Warum sind eure Flüchtlingszahlen so niedrig? Wie schafft ihr das? Ein Unterschied zwischen uns und der EU ist: In Skandinavien gibt es wieder Grenzkontrollen. Seit der Flüchtlingskrise kontrollieren wir die Grenze zu Schweden und Finnland. Vorher konntest du innerhalb Skandinaviens hin- und herreisen, ohne kontrolliert zu werden. Das ist vorbei. Es ist schwieriger geworden, illegal nach Norwegen einzureisen. Die Hürden sind hoch."
Norwegen hat alles im Griff. Wie zum Beweis rattert Forfang die Eckdaten der Politik nur so runter, die Erna Solberg, die norwegische Premierministerin, immer als "hart, aber fair" bezeichnet. Die Zahl der Asylbewerber 2015: 31.150. 2017: 3.560. So niedrig war der Wert zuletzt Mitte der 90er. Kein Land Europas hat letztes Jahr so viele abgelehnte afghanische Asylbewerber an den Hindukusch zurückgeschickt, nicht nur prozentual, sondern auch in absoluten Zahlen. Doch dieser Erfolg hat seinen Preis, nicht nur für die abgelehnten Afghanen, die in sieben von zehn Fällen nach ihrer Rückkehr erneut flüchten. Auch die UDI hat Federn lassen müssen. Forfang muss sparen. Letztes Jahr 15 Prozent.
"Mir bereitet Sorge: Was ist, wenn die Zahl der Asylsuchenden wieder steigt? Innerhalb kurzer Zeit wie 2015? Hätten wir noch die Kapazitäten, darauf adäquat zu reagieren? Ich weiß nicht. Es ist ein große Herausforderung, Kapazitäten zu erhöhen. Aber es ist mindestens genauso herausfordernd, Kapazitäten zu senken. Wir mussten Büros aufgeben, Einheiten zusammenlegen, Mitarbeiter mit Zeitverträgen entlassen. Letztes Jahr fast zweihundert. Es ist extrem schwierig, das alles innerhalb so kurzer Zeit zu bewältigen."
Nicht auf europäischer Ebene
"It’s hard to be optimistic these days", tönt es aus der Nähe des Osloer Bahnhofs. Wenn man so will, ist Pål Nesse Gegenspieler des UDI-Chefs und grundsätzlich ein optimistischer Mann. Doch wenn sich der Chefberater des Norwegischen Flüchtlingsrats der Hilfsorganisation anschaut, welchen Kurs die Regierung einschlägt, kommt selbst jemand wie er ins Grübeln.
"Wir haben uns dem Rest der Meute angeschlossen. Leider. Norwegen leistet auf internationaler Ebene immer noch gute Arbeit bei der Flüchtlingshilfe. Doch was die Aufnahme von Flüchtlingen angeht, da versagen wir. Auf ganzer Linie. Wir werden unserer Verantwortung nicht gerecht. Unsere Regierung weigert sich, das Flüchtlingsproblem auf europäischer Ebene zu lösen. Es herrscht eine große Diskrepanz zwischen dem, was wir international predigen und dem, was wir in Norwegen sagen."
"Wir haben uns dem Rest der Meute angeschlossen. Leider. Norwegen leistet auf internationaler Ebene immer noch gute Arbeit bei der Flüchtlingshilfe. Doch was die Aufnahme von Flüchtlingen angeht, da versagen wir. Auf ganzer Linie. Wir werden unserer Verantwortung nicht gerecht. Unsere Regierung weigert sich, das Flüchtlingsproblem auf europäischer Ebene zu lösen. Es herrscht eine große Diskrepanz zwischen dem, was wir international predigen und dem, was wir in Norwegen sagen."
Nesse ist viel herumgekommen. Er war in Vietnam, Mosambik, Zentralamerika. Berührungsängste? Nein, meint er im Großraumbüro der NGO über den Dächern der Stadt, die habe er nicht. Selbst mit Sylvi Listhaug, der gerade zurückgetretenen Einwanderungsministerin, hat er schon debattiert, über das, was Norwegens Eiserne Lady immer das Flüchtlings-Problem nennt.
"Mit am wichtigsten ist mir rüberzubringen: Flüchtlinge sind okay. Sie sind Menschen wie du und ich. Mit Fähigkeiten. Unser System arbeitet zu bürokratisch. Viel zu viele Geflüchtete sind zum Nichtstun verdammt. Eigentlich müsste der Staat ein Interesse daran haben, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, damit sie so schnell wie möglich Arbeit finden."
Ihre Erfahrungen mit der norwegischen Bürokratie hat auch schon Selma Silmi gemacht. Donnerstag, früher Abend. Das "Café Nord" in der Nähe des Rathauses. Erschöpft lässt sich die Ägypterin in einen der grauen Designer-Sessel fallen. Sie kommt gerade von der Arbeit. Seit einiger Zeit jobbt die 40Jährige in einem Krankenhaus – als Aushilfe.
"Das soll meine Karriere sein? Der Staat sollte doch ein Interesse an meinem Wissen als Juristin haben. Er sollte es mir ermöglichen, in Norwegen weiter zu studieren. Stattdessen muss ich im Krankenhaus arbeiten. Manchmal habe ich das Gefühl: Das läuft hier wie im Nahen Osten. Die Bürokratie und alles. Ich dachte, in Europa könnte ich endlich als Menschenrechts-Anwältin arbeiten. Aber nein, höre ich dann, wir haben unsere Vorschriften."
Selmas Augen funkeln. Ihre norwegischen Freunde raten ihr immer: Reg dich nicht auf, das tut weder dir gut, noch kommt so etwas in Norwegen sonderlich gut an. Doch die Juristin kann nicht anders. So war es schon auf dem Sinai, der ägyptischen Halbinsel, als sie mitbekam, wie die Rechte der Beduinen mit Füßen getreten wurden. Irgendwann stand Selma auf der schwarzen Liste der ägyptischen Machthaber. Mit Hilfe von "Dugnad", des norwegischen Akademiker-Netzwerks für Flüchtlinge, erhielt sie 2015 Asyl in Norwegen, lernte im obligatorischen Staatskundeunterricht eine gute Norwegerin zu werden.
"Eines Tages meinte unser Lehrer: Norwegen braucht keine Rechtsanwälte, Ärzte oder Ingenieure. Norwegen braucht Arbeiter. Das werde ich nie vergessen. Ich war total geplättet. Für andere mag das ja okay sein, aber ich bin doch nicht nach Europa gekommen, um Teller zu putzen. Doch mein Sachbearbeiter meinte nur: Du kannst anfangen - als Krankenschwester. Wenn du genug verdient hast, kannst du immer noch Jura studieren und deinen Traum verwirklichen. Ich fühle mich wie im Gefängnis. Wenn ich nicht zur Arbeit gehe oder auch nur eine Stunde fehle, kürzen sie mir sofort das Geld. Es ist schrecklich."
Reflexartig dreht sich Selma um. Nicht, dass jemand im Café etwas mitbekommt. Sie sei den Norwegern immer noch dankbar, meint sie. Dass sie sich keine Sorgen mehr machen muss um Ranat. Ihre Tochter wird bald vierzehn.