Dort, wo die Hafenstadt Haugesund ins Wasser fällt, geht's nach Utsira. Eine fahl erleuchtete Straße führt an Skeletten von Ölplattformen und Lagerhallen vorbei und endet schließlich am Anleger des Inselzubringers. Ein Auto wartet einsam vor der Schranke, die Fahrerin wischt über ihr Handy. Es ist die letzte Fähre des Tages, acht Seemeilen über die eiskalte Nordsee hinüber auf die Insel Utsira. Sechs Quadratkilometer groß, 210 Einwohner, die kleinste Gemeinde Norwegens. Und die fortschrittlichste zugleich
Das Schiff nähert sich mit dem Heck langsam dem Kai. Die Bugklappe geht nach unten, ein gelangweilt dreinschauender Matrose winkt der an Bord rollenden PKW-Fahrerin stumm zu. Man kennt sich. Dem Fremden weist er mit einer kurzen Kopfbewegung den Weg hinauf auf's Deck.
Im Aufenthaltsraum läuft ein Großbildfernseher. Nach wenigen Minuten taucht der Matrose mit einem Kreditkartenlesegerät auf. Norwegen ist fast bargeldfrei, nicht nur Fährkarten werden hier schon lange nicht mehr bar gezahlt. Die Mitpassagierin legt sich quer über eine Sitzreihe zum Schlafen. Die Überfahrt nach Utsira dauert 70 Minuten. Windstärke zehn ist vorhergesagt.
Langsam gleitet die Fähre aus dem Hafenbecken hinaus in die Finsternis. Vorbei an teuren Speicherlofts, aus denen es hell aus bodentiefen Fenstern leuchtet. Die Menschen, die dahinter wohnen, gehören laut Statistik zu den glücklichsten der Welt. Und für das Glück stehen Fjordlandschaft und die Landstriche jenseits der Großstädte. Ungefähr so wie Utsira.
Am Donnerstag kommt der Arzt auf die Insel
Im Sommer sind mehr als nur zwei Passagiere an Bord; das Schiff kann bis zu 150 Menschen aufnehmen. Utsira ist ein beliebtes Ausflugsziel. Aber auch im dunklen Winter muss die Fähre wochentags viermal am Tag fahren. Ihre Entschlossenheit, auch den letzten Winkel des weit gestreckten Landes besiedeln zu wollen, lassen sich die Norweger etwas kosten.
An einem Schwarzen Brett im Warteraum der Fähre weist ein Aushang darauf hin, dass am Donnerstag wieder ein Arzt auf die Insel käme. Man solle sich rechtzeitig anmelden. Ausserdem träfen sich die Strickdamen zum allmonatlichen Zusammensein bei Kaffee und Kuchen. Und, Kraftfahrer, "Achtung, nicht vergessen": 30 Stundenkilometer Höchstgeschwindigkeit auf der gesamten Insel!
Draußen nimmt der Sturm zu und drückt das Schiff in einem schwerem Rhythmus wieder und wieder aus dem Wasser.
In der Dunkelheit taucht das Eiland auf. Versprengte Leuchtpunkte, drei Dutzend Häuser, mehr nicht. Als das Schiff auf den von Laternen erleuchteten Hafen zuläuft, erscheinen schemenhaft zwei schwarze Schatten im Hintergrund: die beiden Windkrafträder von Utsira. Die Rotorblätter drehen sich hektisch im Orkan.
Vom Fischerort zur Vorzeigekommune
An Kai wartet Thorleiv Vestre, mein Wirt. Vestre hat für den späten Besucher das kleine, frisch weiß gestrichene Holzhäuschen eingeheizt, das am Ende der Mole steht. Er vermietet es im Sommer an Touristen. Im Winter verirrt sich normalerweise kein Tourist nach Utsira, sagt er.
Wir gehen die verwaiste Hauptstraße entlang, die Nord-Utsira mit Süd-Utsira verbindet. 1,6 Kilometer lang. Thorleiv Vestre ist ein Sirabu, einer, der hier geboren ist und in seinen 73 Lebensjahren den Wandel der Insel miterlebt hat: Von einem vergessenen Fischerort zur innovativen Vorzeigekommune, in der sich Norwegen auf die Zeit nach dem Öl vorbereitet. Der drahtige Mann mit den wachen, hellblauen Augen hält von solchen neumodischen Sachen wenig. Aber davon will er mir später erzählen.
Am nächsten Morgen scheint die Sonne. Vestre hatte mich vorgewarnt: Das könne selbst im Winter während der kurzen Tageszeiten passieren. Ein elektrischer Rollstuhl fährt vorbei. Der betagte Fahrer blickt nach vorn gebeugt über seine Schoßdecke starr auf den Asphalt. An einer Scheune prangt ein Schaf als Schwarz-Weiß-Graffiti – ein Geschenk britischer Street-Art-Gäste. Auf einer sumpfigen Anhöhe stehen echte Schafe in dickem Fell stoisch im Wind.
Selbst Norweger kennen Utsira nur aus dem Wetterbericht
Der Friedhof der Gemeinde ist eine gemähte Wiese, auf der schmucklos aufgereihte Grabsteine stehen. Mindestens einhundert Gräber, aber höchstens ein Dutzend Nachnamen: Rasmussen, Klovning, Austerheim. Ein Mann steht auf einer Leiter und dichtet die oberen Fenster seines rostroten Holzhauses ab. Die Winterstürme hier draußen sind gefürchtet. Die meisten Norweger kennen Utsira nur von der Wetterkarte im Fernsehen.
Der Landhandel von Utsira - Name: Joker - hat die unterschiedlichsten Dinge im Angebot: Fuchsschwanzsäge, Gummistiefel, Tiefkühlpizza. Neben dem Verkaufsraum stehen ein Kaffeeautomat und drei Tische – zwei Männer mit zerzausten Haaren, Arbeitsoveralls und schweren Stiefeln unterhalten die junge Verkäuferin mit Gebrauchtwagenpreisen und günstigen Angeboten für Weihnachtslammbraten. Der Fremde wird erst kurz und argwöhnisch gemustert , dann ignoriert. An der Magnettafel wird wieder an den nächsten Arztbesuch und an die Strickdamen erinnert.
Die Elektrolyseanlage ist weg, die Windräder stehen noch
Vom Landhandel weist ein auffälliges Schild zum "Windkraftwerk". Der schmale Weg heisst Hydrogenveg. Er endet an den zwei Windmühlen, die in der kräftigen Brise geräuschlos ihre Arbeit verrichten. Vor zehn Jahren gab es hier noch eine Elektrolyseanlage und eine riesige Brennstoffzelle. Damit sollten die Utsirer vollkommen unabhängig vom Stromnetz leben - ein gefeierter Durchbruch für die alternative Energieversorgung. Doch nach dem erfolgreichen Test verschwand die Anlage wieder von Utsira. Heute erinnert nur noch der planierte Grund neben den Mühlen an die Container mit der modernen Technik.
Aber hinter dem Wäldchen, in dem zweistöckigen, rostroten Zweckbau der Gemeindeverwaltung, wird längst am nächsten Zukunftsprojekt gearbeitet.