Vor zehn Jahren machte die Insel in der Nordsee weltweit von sich Reden. Utsira stand für ein norwegisches Zukunftsprojekt. Marte Eide Klovning zeigt auf das Modell in einer Ecke des Konferenzraumes und lässt hörbar Luft durch ihre Nase ab. Ein Miniatur-Utsira mit einem riesigen Windrad auf der Anhöhe gegenüber dem alten Leuchtturm, darunter sind kleine weiße Würfel geklebt. Das waren die Brennstoffcontainer jenes Wasserstoff-Projektes.
Damit wurde damals bewiesen, dass man Windenergie problemlos speichern kann. Mit Hilfe von Wasserstoff und eines Schwungrades, das immer gleich viel Strom fließen lässt, selbst wenn auf Utsira Windstille herrschen sollte – was selten vorkommt. Bezahlt wurde das Ganze ausgerechnet von einem norwegischen Ölkonzern. Klovning ringt ihren schmalen Lippen ein müdes Lächeln ab:
"Damals herrschte ja große Aufregung um dieses Projekt. Aber am Ende hatten wir hier auf der Insel nicht viel davon. Die Anlage wurde wieder entfernt – und das war's dann gewesen."
Vor zehn Jahren, als Energieexperten und Fernsehteams aus aller Welt nach Utsira übersetzten, um sich das Wasserstoff-Pilotprojekt anzusehen, war Klovning noch nicht Bürgermeisterin von Utsira. Heute erinnern also nur noch zwei Windräder und der "Hydrogenveg" an das Wasserstoffexperiment, auch ist Utsira längst wieder an das Stromnetz des norwegischen Festlandes angeschlossen. Und doch: Die 33-Jährige mit den langen blonden Haaren ist überzeugt davon, dass ihre Insel bei der Energiewende weiter vorangehen muss. "Utsira gibt Energie" steht vieldeutig auf der Fremdenverkehrswerbung, die im Rathauseingang hängt.
Energie aus Fisch-Ausscheidungen
Klovning geht vorbei an der Fotogalerie der Bürgermeister von Utsira. Stolz zeigt sie auf das Porträt von Aase Helgesen, einer streng dreinblickenden Frau mit Dutt: 1926 die erste Bürgermeisterin Norwegens. Vorbei an dem Durchgang zur Schwimmhalle, der Gemeindebibliothek und einer kleinen Krankenstation, führt Klovning in das Büro des Verwaltungsleiters der kleinen Insel. Bjørn Aadnesen beugt sich gerade über eine Zeichnung. Sie zeigt eine schwimmende Lachsaufzuchtstation:
"Das ist eine moderne Fischaufzuchtstation, die im offenen Meer im Meeresboden verankert wird. Ein geschlossenes Becken, damit das Meer nicht verschmutzt wird. Die Ausscheidungen der Fische werden gesammelt und sollen dann in Biogasanlagen hier an Land zur Energiegewinnung genutzt werden. Wir haben zwei Konzessionen beantragt: Eine für den Norden und eine für den Süden. Damit haben wir wieder ein spannendes Pilotprojekt und könnten Arbeitsplätze schaffen. Sehen Sie, als die Insel noch vom Fisch lebte, hatten wir 400 Einwohner. Seitdem haben wir keine größeren Betriebe mehr hierher locken können."
Der größte Arbeitgeber auf Utsira ist der Verwaltungschef selbst: Die Gemeinde bezahlt die Lehrer in Kindergarten und Schule, die Krankenschwester, die Bibliothekarin und den Umweltbeauftragten. Für die drei Flüchtlingsfamilien im Ort gibt es eigens eine Sozialarbeiterin mit 20-Stunden-Woche. Die Tür zu Aadnesens Büro steht weit offen - wie alle Türen. Und man hört nur Vornamen. Handwerker verlegen neue Heizungsrohre. Die Wärme für das Rathaus kommt demnächst tief aus der Erde. Noch so ein Vorzeigeprojekt.
Die Kneipe öffnet im Winter nur samstags
Am Abend hat Bürgermeisterin Klovning in die einzige Kneipe von Utsira, einem ehemaligen Speicherhaus, zum Jahresfest der örtlichen Sektion der sozialdemokratischen Arbeiderpartiet geladen. Ihre Haare hat sie festlich am Hinterkopf zusammen gesteckt. Sie schaut zufrieden in die Runde: Von 27 Mitgliedern sind 22 erschienen. Sie ist die Vorsitzende. Zur Bürgermeisterin wurde sie nicht als Sozialdemokratin gewählt, sondern als Kandidatin einer Fellesliste, einer Sammlungsliste. Große Koalitionen sind auf Utsira normal.
An dem weiß eingedeckten Tisch werden die ersten Biere getrunken. Die Gäste sitzen unter schweren, grob bearbeiteten Tragebalken; einst wurden hier Fischkisten gestapelt. Im Winter öffnet die Kneipe nur sonnabends und für geschlossene Gesellschaften wie Vereine oder die örtliche Bridgerunde. Die Bürgermeisterin erhebt sich und ergreift das Wort:
"Die Tagesordnung für heute ist wie folgt: Ich begrüße zunächst alle und erzähle etwas zum geplanten Haushalt für nächstes Jahr. Dann essen wir und vor dem Dessert singen wir alle ein Lied. Dann gibt es einen Vortrag unseres Gastes von den Gewerkschaften. Und zum Schluss eine kleine Tombola zugunsten der Arbeiterpartei."
Innovationen als Garant für Selbstständigkeit
Der Haushalt der Gemeinde für das nächste Jahr beträgt umgerechnet 3,2 Millionen Euro. Zwei betreute Altenwohnungen sollen gebaut werden. Ein älteres Parteimitglied in grauem Wollsakko nickt zustimmend. Der Wirt bringt Boeuf Stroganoff mit Kartoffelbrei. Dann berichtet der pensionierte Gewerkschafter, dass in Oslo immer häufiger soziale Dienste von privaten Anbietern übernommen werden. Dagegen müsse man dringend etwas unternehmen. Die Zuhörer bewegen sanft ihre Biergläser zwischen den Innenflächen ihrer rauen Hände. Und dann will die konservative Regierung in Oslo auch noch eine Gebietsreform! Für die Bürgermeisterin der Insel geht es nun ums Überleben:
"Wir wären längst eingemeindet worden, wenn Utsira näher am Festland läge. Es ist eine politische Entscheidung, ob man uns weiter schützen will, indem man uns die Selbstständigkeit lässt. Wir wollen jedenfalls nicht aufgeben und setzen darum auf alternative Innovationen wie die neuartigen Biogasanlagen aus der Lachszucht. Wir suchen ständig nach solchen Innovationen. Das ist die Hoffnung, an die wir uns klammern."