"Wenn man Nostalgie versteht als eine Sehnsucht nach einer Sicherheit, die es nicht mehr gibt, oder vielleicht auch nie gegeben hat, dann steigt dieses Gefühl, je komplexer, je unübersichtlicher, je bedrohlicher die soziale Wirklichkeit erscheint."
Sagt Elena Beregow. Sie ist Soziologin an der Universität der Bundeswehr in München und Herausgeberin der Zeitschrift "Pop. Kultur & Kritik".
"Und angesichts der Pandemie ist dieses Gefühl der Erschütterung, des Zerbrechens von Vertrautem groß. Und als Gegenreaktion zeigt sich dann dieser Nostalgie-Boom."
Nostalgie als Krisenbewältigung
Der Nostalgie-Boom zeigt sich besonders in den sozialen Medien. Es werden noch mehr alte Fotos und Kindheitserinnerungen geteilt als vor der Krise. Plötzlich flimmern wieder Retro-Games wie "Civilization 2" pixelig auf den HD-Bildschirmen. Und auch musikalisch versichern sich die User einer vermeintlich besseren Vergangenheit, indem sie so genannte "Throwback"-Playlists hören, Playlists mit alten Hits. Davon gibt es immer mehr. Das hat der Musikstreamingdienst "Spotify" vergangene Woche bekanntgegeben. All das zeigt: Nostalgie ist zur populärsten Praxis der individuellen Krisenbewältigung geworden.
"Diese alten Songs sind eine Methode, um sich zuverlässig, kurzfristig eine Art Wohlgefühl zu verschaffen. Die entspannen, die können euphorisieren, die können ablenken", urteilt Beregow.
Auch Beregow ist dagegen nicht gefeit. Sie hört gerade viel Britney Spears. Und nicht nur sie. Die Zeile, "my loneliness is killing me" – meine Einsamkeit tötet mich, aus Britney Spears‘ Stück "... Baby One More Time" ist längst zum Corona-Meme geworden.
"Ich fand’s ganz lustig, dass ich nicht die Einzige war, die diesen Impuls verspürt hat, aus welchen Gründen auch immer, diese Videos anzuschauen. Denn in den YouTube-Kommentarspalten sammeln sich Kommentare, die die Frage stellen, wer ist noch aus der Pandemie da? Wer ist aus der Einsamkeit der Quarantäne hier auf YouTube bei Britney Spears gelandet und macht jetzt diesen Britney-Marathon?"
Retro-Songs verklären die Gegenwart
Wer ist noch aus der Pandemie da? Hier ist Popkultur Teil einer Gruppentherapie, sie dient der Versicherung, Teil eines sozialen Gefüges zu sein – so unsozial die Umstände auch sind. Alte Popsongs helfen offenbar bei der individuellen Krisenbewältigung. Die Untersuchung von "Spotify" zeigt, dass alte Stücke wie verrückt gestreamt werden. In Deutschland etwa "(What A) Wonderful World" von Sam Cooke. Oder "99 Luftballons" von Nena. Vielleicht, weil der Himmel über dem Horizont jetzt wirklich mal einen kondenzstreifenfreien Blick auf die imaginierten Luftballons möglich macht.
"Aber gleichzeitig muss man diesem konservativen Impuls der Nostalgie wiederstehen, sich einfach das heile, intakte Gestern zurückzuwünschen", so Beregow. "Man muss diese Ambivalenz präsent halten und dieses Bewusstsein darum, dass das, was man sich eigentlich als ‚das gute Gestern‘ vorstellt, selbst ein Traum ist."
Blick nach vorn
Zum Glück gibt es im Nostalgie-Wahn der Corona-Zeit auch neue Stücke, die sehnsuchtsvoll sind, ohne nostalgisch verklärt zu wirken. "Hoffnung" von Tocotronic etwa. Ein Stück, in dem es nicht um Wohlgefallen geht, sondern um Brüche und Irritationen. Tocotronic stellen ihr Hadern mit der Krise ins Zentrum und flüchten sich nicht in ein vermeintlich besseres Gestern, wie es die unzähligen "Throwback"-Playlists auf "Spotify" vermitteln wollen. "Hoffnung" imaginiert ein besseres Morgen.
Wenn wir die Krise wirklich ernst nehmen wollen, müssten dann nicht Stücke wie dieses viel eher ihr Soundtrack sein, als all die verschlissenen Hits von gestern?