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Notate, auch mit Selbstironie

In ihren Tagebuchaufzeichnungen lebt die Schriftstellerin Sarah Kirsch mit den Tages- und Jahreszeiten, mit den Tieren und Pflanzen um sie herum. Und nimmt sehr wohl wahr, was in der Welt passiert.

Von Matthias Kußmann | 05.07.2012
    "Es ist ein herrliches Gefühl, nach nahezu einer Woche wieder in Tee gelandet zu sein! Etwas kapores. Drei Vorlesungen, zwei Seminare, diverse Interviews und noch zwei Tage bei Steidl, das ist ne Menge Zoff für ne anständige Landbewohnerin. Bei Steidl ist es sowieso Sträflingsarbeit!"

    So beginnt "Märzveilchen", der neue Tagebuchband von Sarah Kirsch – damit sind Tonlage und Inhalt der kommenden Seiten schon angedeutet. Es ist der typische Ton der Prosaautorin Kirsch: locker, umgangssprachlich, ein wenig berlinernd. Dazu kommen viel Poesie, Ironie, Wortspiele, Anleihen aus dem Jiddischen – wie hier "kapores" für "kaputt" – und private Chiffren wie "Tee" für Tielenhemme. Das kleine Heidedorf in Schleswig-Holstein ist seit über 30 Jahren ihr Lebens- und Rückzugsort, sie wohnt im alten Schulhaus.

    Die Tagebuchnotate reichen von Dezember 2001 bis September 2002, Kirsch ist 66, dann 67 Jahre alt. Große Erfolge liegen hinter ihr, unter anderem der Büchner-Preis. Doch schon lange hat sie keine Lust mehr, mitzuspielen im Literaturbetrieb. Lesungen und Interviews, die kreuz und quer durch Deutschland führen, erledigt sie widerwillig, doch von irgendwas muss Autorin ja leben. Und die "Sträflingsarbeit" bei ihrem Verleger Steidl, wie Signieren oder Auswahl eigener Aquarelle für ein neues Buch, führt ja dazu, dass es schöne neue Bücher von ihr gibt. Nun, sie kokettiert auch ein wenig mit der Belastung. Doch am wichtigsten ist es, abseits vom Weltgetümmel zu sein, auf dem Land, in der Natur:
    "Ein neuer Schwarm Wacholder- und Rotdrosseln seit gestern in den Pappeln, mal am Fluss, mal am grünen Weg. Hellblau-grau marmorierter Himmel. Dieses zu haben, ist wunderbar! Abgeschottete Nerven."

    "Abgeschottete Nerven" - Eskapismus, hört man da Kritiker aufheulen, die "engagierte" Literatur fordern. Aber Kirsch ist ja engagiert, nur eben nicht pamphlethaft für "diese" oder gegen "jene" Gesellschaft. Ihr geht es um Aufmerksamkeit und die genaue Wahrnehmung dessen, was vor Augen und Ohren ist. Sie lebt mit den Tages- und Jahreszeiten, mit den Tieren und Pflanzen um sie herum – vor allem die Katzen und Schafe haben es ihr angetan. In kurzen, fast täglichen Notaten, kaum länger als eine Seite, erzählt sie davon – ohne jeden "hohen" Ton, und auch mit Selbstironie.
    "Wenn ich in Berlin erwachte, selbst noch in einer guten Wohnung wie in Charlottenburg, so wär es doch grauenhaft! Wovon ich da abgelenkt wär, dauernd irgendwelche Menschen beim Blick aus dem Fenster oder herdenweis auf den Straßen, im Telefon, also gar kein Verlangen. Ich will viel lieber in Ruhe vertrotteln. Seh diesen Drosseln zu, wie sie auf der Wiese dann sitzen, steigen und stürzen. Nichts, das ich vermisse. Nicht mal ein Konzert in der Philharmonie, weil man da wieder mit Krethi und Plethi in der Pause zusammentrifft und so weiter. Bin sehr zufrieden, in Weltrand zu schweben. Schönstes Himmelstheater! Schräges Licht, Scheinwerfer in silbergraue Wolkenrollos. Heute ein zärtlich verschwimmender Horizont."

    Freilich ist Kirsch keine Misanthropin, jedenfalls keine extreme. Es gibt schon Menschen, mit denen sie kann: "Maxe", ihr Sohn Moritz, der bei ihr lebt. Oder "der Tonsetzer", der Komponist Wolfgang von Schweinitz. Oder "der Salzburger", der befreundete, leider wenig bekannte Dichter C. W. Aigner. Andere Kollegen dagegen bekommen ihr Fett weg. So Robert Schindel, Elke Schmitter oder Günter Grass und seine Novelle "Im Krebsgang":

    "Habe uffgehört, "Im Krebsgang" zu lesen. Steidl hatte mir seinen neusten Grass zugeschickt und ich wollte mir anfangs ein Urteil bilden. Unmöglich! Dieses bürokratische Gerede – nie kann man fliegen, es ist ganz entsetzlich!"

    Natürlich liest Kirsch auch Bücher, die sie begeistern, wie die des Nobelpreisträgers V. S. Naipaul, den sie gerade entdeckt. Bücher, die sie übrigens im Internet bestellt, bei "die Amazonen", wie sie sagt. Auch ihr literarisches Lob der Natur entsteht digital, am Laptop – keine Spur von Technikfeindlichkeit. Überhaupt ist manches anders, als man vorschnell meinen könnte. Kirsch nimmt sehr wohl wahr, was draußen in der Welt passiert, fast täglich gibt es Notate dazu. Sie schreibt über den Besuch von George Bush Junior in Berlin oder über die israelische Armee, die das palästinensische Flüchtlingslager Dschenin zerstört:

    "Das war die Antwort auf einen Selbstmordanschlag auf einen Bus mit ebenfalls vielen Toten - so geht der Irrsinn immer weiter."

    Solche Notate setzt sie übergangslos gegen Nachrichten aus der Heideidylle Tielenhemme: Eric-Rohmer-Filme im Fernsehen, eine Natur- oder Tierdoku, netter Besuch, der nicht zu lange bleibt. Und immer wieder Glück durch Musik. Man denkt an Pascal, der sagte, das Unglück der Menschen rühre daher, dass sie nicht ruhig in ihrem Zimmer bleiben könnten. Eben. Sarah Kirsch zeigt, wie das geht, wenn man den Garten und die Wiesen drumherum noch dazunimmt. Vita contemplativa - ohne jedes Getue.

    "Am schönsten ist es, wenn es schön ist."

    Buchinfos:
    Sarah Kirsch: Märzveilchen. DVA, München, 240 Seiten, 19,99 Euro