"Gut, wir sind da und haben schon eine neue Nachricht: Carolin Bader wurde von der vorherigen Schicht aufgenommen und liegt in Behandlungsraum 3."
Sarah Long hat gerade ihr Spiel hochgefahren, schon hat sie zwei Patienten. Vor ihr auf dem Monitor ist eine virtuelle Notaufnahme von oben zu sehen, mit mehreren Behandlungsräumen. Die Australierin bewegt sich selbst, also ihre Spielfigur, mit der Maus, geht in das Behandlungszimmer. Vor ihr liegt die Patientin.
"Ich kann auch gleichzeitig rechts auf die Vitalparameter schauen, im EKG hat sie ne Herzfrequenz von 106, das ist an sich zu hoch. Sauerstoffsättigung von 92, das ist zu niedrig, man möchte über 95 haben."
50 Studierende der Humanmedizin sitzen an diesem Morgen an den Computern. In unregelmäßigen Abständen werden neue Patienten in die virtuelle Notaufnahme eingeliefert. Durch gezielte Fragen erheben die Studierenden die Anamnese.
Sarah muss zu einer Diagnose kommen. Oder weitere Untersuchungen anordnen. Und das schnell. Sonst verschlechtert sich der Zustand des Patienten. Heute geht es um Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Das Spiel ergänzt die Vorlesungen, erklärt Professor Tobias Raupach. Er hatte die Idee zu dem Spiel.
"In dem Spiel wenden sie das Wissen an, das sie in der letzten Woche erworben haben. Wir haben das so aufgebaut, dass das Spiel sich in das Curriculum einfügt. Das heißt die Studenten lernen eine Woche lang alles über die koronare Herzkrankheiten, Herzinfarkt und Ähnliches und in der zweiten Woche spielen sie dann am Computer genau solche Patientengeschichten durch."
Auch Piloten lernen mit Computersimulationen
Raupach leitet die Abteilung Ausbildungsforschung und Medizindidaktik an der Göttinger Uniklinik. Er ist immer auf der Suche nach neuen Methoden, um das Lernen effektiver zu gestalten. Raupach kam auf die Idee zu dem Spiel "Emerge", weil er selbst lange in der Notaufnahme gearbeitet hat. Er weiß: hier ist es wichtig, schnell sein Wissen abzurufen und Entscheidungen zu treffen. Das sei ähnlich wie bei Piloten, sagt er, und die lernen ja auch an Computersimulationen. Gemeinsam mit Kollegen des Klinikums Hamburg-Eppendorf entwickelte er erste Fälle und machte sich auf die Suche nach Software-Entwicklern. Kollege Nicolai Schuelper, ebenfalls Medizindidaktiker, betreut heute die Studierenden.
"Die Herausforderung dabei ist ja herauszufinden: Was ist wirklich die eigentliche Diagnose?", erklärt Schuelper. "Anders als im Studium ist es ja nicht so, dass der Patient zu einem kommt und sagt ‚ich habe eine Lungenentzündung‘ oder ‚ich habe eine Blinddarmentzündung‘. Sondern der Patient kommt und sagt ‚ich hab Husten, ich hab Fieber, ich fühle mich nicht gut‘. Und es ist die Herausforderung des Arztes in der Notaufnahme, die differentialdiagnostischen Überlegungen anzustellen. Und das ist etwas, was wir hervorragend mit diesem Spiel trainieren können."
Nachweislicher Lernerfolg
Wichtig ist den Medizindidaktikern der Lernerfolg. Deshalb testeten sie "Emerge" in einer Studie. In einer schriftlichen Prüfung wurden die Lernergebnisse abgefragt. Mit gutem Ergebnis: die Studierenden lernten mit dem Computerspiel genauso viel und sogar teilweise mehr als Studierende, die sich in Kleingruppen ihr Wissen angeeignet hatten.
Zu Hause, am heimischen Computer kann aber nicht gespielt werden. Wichtig sei die Betreuung, sagt Didaktiker Schuelper:
"Es sind Situationen, die da entstehen können, zum Beispiel dass Patienten sich, obwohl man die richtigen Dinge tut, verschlechtern. Und vielleicht auch versterben. Und ich glaube, dass das professionell begleitet werden sollte.
Das Spiel bleibt ein Spiel
Sarahs Patient hat es leider nicht geschafft. Sie hat ihn zu lange warten lassen, während sie das Spiel für das Interview erklärt hat.
"Der kam aus dem Herzkatheterlabor zurück, wir hatten den ja akutmäßig hingeschickt, leider nicht akutmäßig genug, weil wir uns verquasselt haben. Der musste reanimiert werden und hat es leider nicht geschafft."
Im Spiel wird der Patient jetzt zum Skelett - alles sehr realitätsnah. Sarah ist enttäuscht. Anderen ist jedoch klar: es ist ja nur ein Spiel:
"Man behandelt natürlich auch so, als sei es ein Spiel", erzählt ein Student. "und überdenkt die Entscheidungen vielleicht nicht so tief und kräftig wie man es in der Realität tun würde."
Das Spiel ist effektiv. Doch es ersetzt nicht den persönlichen Kontakt zu den Patienten, betonen die Entwickler. Im Mittelpunkt steht immer noch der Mensch.