Notizen aus Berlin
Die Berlinale als Operationssaal

Heute wurde im Wettbewerb der Berlinale mit chirurgischem Feinbesteck seziert. Der chilenische Regisseur Pablo Larraín hat die katholische Kirche bei lokaler Betäubung auf den OP-Tisch gelegt und den ganzen Unterleib Schicht für Schicht säuberlich aufgeschnitten und ein gruseliges Innenleben sichtbar gemacht.

09.02.2015
    Schauspieler Alfredo Castro, Regisseur Pablo Larraín (M) und Schauspieler Roberto Farías posieren für die Kameras.
    Schauspieler Alfredo Castro, Regisseur Pablo Larraín (M) und Schauspieler Roberto Farías (picture alliance / dpa / Tim Brakemeier)
    Kaum vernarbte Eiterwunden, uralte Geschwüre, schwärende Wunden. Die Klinik ist ein vergessenes Küstendorf im kalten, ewig feuchten und neblig-dunklen Süden des Landes, genauer: Ein Haus, in dem eine Handvoll Priester unterschiedlichen Alters lebt, allesamt aus der Kirche ausgeschlossen wegen zahlreicher Verbrechen wie Gewalttaten, Kindeshandel, sexueller Kindesmissbrauch und letzteres systematisch und über viele Jahre hinweg. Versorgt werden die Männer von einer Frau, einer ehemaligen Nonne, einer zynischen Eiferin, die ebenfalls exkommuniziert und in die Provinz verbannt wurde, zur Buße und tätigen Reue. Vor Gericht hat die Kirche kein einziges ihrer verirrten Schäfchen gebracht. Die schrecklichen Taten sollten vertuscht werden, um dem Ansehen der Institution nicht zu schaden.
    Dunkel, depressiv, verschwommen, wie vom ewigen Sturm der See zerzaust wirken Larraíns Bilder. Mit immer wieder neuen Überraschungen wartet die Geschichte auf, immer schmerzhafter und bizarrer werden die Erkenntnisse, die ein Jesuit im Haus der Täter gewinnt. Dieser Mann Gottes soll die Verbrechen seiner einstigen Priester-Kollegen aufklären. Er will vor allem, dass sie ihr Fehlverhalten erst einmal erkennen. Und das ist neben deren Verbrechen und ihrer Vertuschung der dritte Skandal: Jeder, auch die Ex-Nonne, können an ihrem Vergehen nach wie vor nichts Schlechtes finden, erfinden sogar theologische Rechtfertigungen, dass dem kirchlichen Ermittler und mit ihm dem Publikum fast die Augen aus dem Kopf fallen. Am Ende schickt der Jesuit den "Club" ("El Club" heißt der Film) förmlich zur Hölle. Das marode System, sollte man meinen, hat nichts Besseres verdient.
    Dokumentarfilm "Der Perlmuttknopf" - traurig stimmender Filmessay
    Wie innerlich zerrissen und korrupt die chilenische Gesellschaft insgesamt ist, das hatte gestern Abend schon der chilenische Dokumentarfilmer Patricio Guzmán in "El Botón de Nácar" ("Der Perlmuttknopf") dargelegt. Die Vernichtung der indigenen Bevölkerung Patagoniens durch die spanischen Siedler, deren Unkenntnis der ebenso prächtigen wie gefährlichen Natur des chilenischen Südens, die Folterkeller und Opfer der Pinochet-Diktatur bettet Guzmán ein in die Entstehungsgeschichte der Erde und des südamerikanischen Kontinents. Ein poetischer Filmessay, der den Betrachter recht traurig entlässt.
    Andreas Dresens "Als wir träumten" - nicht sein bester Film
    Wie auch Andreas Dresens Romanverfilmung von Clemens Meyers Roman "Als wir träumten" den Zuschauer heute ziemlich genickt nach Hause schickte. Die zum Ende der DDR aufsässige Jugend von Leipzig wird durch den Mauerfall zur wilden und versackt schließlich in einem Rausch der Gewalt, in Drogenkriminalität und politischem Extremismus. Im brutalen Beat des Techno geht eine geschlagene Generation zugrunde. Da hilft keine Medizin, kein Arzt, kein Therapeut. Auch wenn der jüngste Film von Andreas Dresen sicherlich nicht sein bester ist, so schlägt er immerhin noch einmal ein vergessenes Kapitel deutsch-deutscher Geschichte auf.
    "Body" - psychologische Feinchirurgie
    Therapeutisch mehr zu machen, ist da im Film der Polin Malgorzata Szumowska. In "Body" ist das durch den Tod der Mutter zerrüttete Vater-Tochter-Verhältnis am Schluss zwar noch nicht geheilt, aber die beiden können sich immerhin wieder anschauen und lächeln. Psychologisch Feinchirurgie – auch in filmästhetischer Hinsicht. Schnitt. Ende eines weiteren Berlinale-Tages.