Archiv

Notizen von der Berlinale
Alles eine Frage der Zeit

Tag sieben auf der Berlinale. Doch für Ruhe bleibt keine Zeit. Morgens um halb sieben klingelt der Wecker unerbittlich, denn pünktlich um neun beginnt im Berlinale Palast die erste Filmvorführung. Und auch danach herrscht ein strenges Zeitregiment. Wer möglichst viele Filme sehen möchte, muss schließlich die Uhr im Blick behalten.

Maja Ellmenreich |
    Historische Verkehrsampel mit Uhr am Potsdamer Platz
    Historische Verkehrsampel mit Uhr am Potsdamer Platz (Deutschlandradio / Maja Ellmenreich)
    Der Regisseur Philipp Gröning bringt es auf den Punkt: Kino sei keine Geiselnahme. Jederzeit könne man doch aufstehen und gehen, sagt er im Gespräch über seinen Wettbewerbsfilm "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot". Allein der Titel ist raumgreifend. So wie der Film. 174 Minuten nimmt er in Anspruch, knapp drei Stunden also.
    Die Zeit ist auch das bestimmende Thema des Films. Elena und Robert sind fast auf die Minute gleich alt, sie haben mit niemandem so viel Zeit verbracht wie miteinander. Doch große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus: Mit dem bevorstehenden Abitur geht das intensive Zwillingsleben wohl zu Ende. Aber noch ist es nicht soweit, noch liegen die beiden auf einer Sommerwiese und bereiten sich auf die Prüfungen vor. Sie philosophieren über die Zeit, nach Heideggerschem Vorbild.
    Zigarettenpause
    Für so manch einen im Publikum ist das schon zu viel. Nach etwa einer halben Stunde macht sich Unruhe breit: Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Die einen entschwinden gleich in die kalte Winterluft, andere legen bloß eine Pipipause ein. Und wieder andere? Eine Lautsprecherdurchsage unterbricht eine ruhige Filmsequenz: "Bitte beachten Sie: Rauchen ist im gesamten Gebäude verboten!" Kurze Irritation, dann schallendes Gelächter.
    "Die Zeit, die ist ein sonderbar‘ Ding", singt die Marschallin in Richard Strauss' "Rosenkavalier", einer der beliebtesten Opern des 20. Jahrhunderts. Wie sonderbar die Zeit sein kann, erlebt der Berlinale-Besucher wieder einmal bei Lav Diaz'. Seinen neuen Film hat der philippinische Regisseur selbst als "Rockoper" angekündigt.
    Vier endlose Kinostunden
    In den 234 schwarz-weißen Filmminuten erklingt zwar weder E-Gitarre noch Schlagzeug, dafür wird das Schicksal einer Dorfgemeinschaft zu Zeiten von Diktator Marcos ausschließlich besungen: in schlichten, harmlos anmutenden Melodien. Das Auge sieht, wie gemetzelt und gemordet wird; das Ohr hört einlullende Gesänge. Und das Zeitgefühl? Es gerät völlig durcheinander. Gerade noch wirken vier Kinostunden wie eine Ewigkeit, bald ist die Hälfte der Zeit rum, plötzlich läuft auch schon der Abspann.
    "Der Zeiger auf meiner Anzeige für 'vergeudete Lebenszeit im Kino' nähert sich in diesem Jahr schon verdächtig der Sieben-Stunden-Marke", schimpft ein Kollege, dem ich zufällig begegne. Kinozeit ist Lebenszeit ist gefühlte Zeit. Wann der Moment für die Befreiung aus der Geiselhaft gekommen ist, muss jeder wohl für sich entscheiden.