Andreas Main: Sehr weltlich und etwas unangemessen könnte ich sagen: Notker Wolf war lange der Chef von rund 20.000 Ordensleuten weltweit. Korrekter wäre es so: Notker Wolf war von 2000 bis 2016 Abtprimas der Benediktinischen Konföderation, also weltweiter Sprecher des ältesten Ordens der Christenheit. In dieser Zeit hat er in Rom, in Flugzeugen und rund um die Welt gelebt. Jetzt ist er zurück, dorthin wo alles begonnen hat. Notker Wolf lebt wieder im Benediktiner Kloster St. Ottilien, dort wo er - damals noch Werner Wolf -, vor mehr als 50 Jahren zum Ordensmann wurde.
Es wird wohl ein Gespräch, das schillern wird zwischen Privatem und Politik. So wie Notker Wolf schillert. Es wird ein Gespräch, das sich auch überschreiben ließe mit dem Schlagwort "Popularität oder Volksnähe kontra Populismus", denn auch das verkörpert Notker Wolf: Er stellt sich mit E-Gitarre auf Bühnen und spielt Rockmusik, einerseits. Er gibt Seminare rund um Spiritualität für Unternehmenslenker, andererseits. Er geht in populäre Fernsehsendungen, aber er lehrte auch als Professor für Naturphilosophie und Wissenschaftstheorie. Mal schreibt er Bücher, die eher erbaulich wirken wie "Schmetterlinge im Bauch", dann wieder sehr politische Bücher wie "Schluss mit der Angst - Deutschland schafft sich nicht ab". Es ist vor einem Jahr erschienen und bekommt gerade vor dem Hintergrund, wie gespalten das Land und die Bundesregierung im Sommer 2018 wirken, besondere Brisanz. Darüber wollen wir reden, ein Gespräch, das wir vor der Ausstrahlung aufzeichnen. Schön, dass Sie sich die Zeit genommen haben, guten Morgen Notker Wolf.
Notker Wolf: Ja, schönen guten Morgen.
Main: Herr Wolf, Ihr Buch kommt in plakativem Rot daher. Es hat auch einen plakativen Titel: "Schluss mit der Angst - Deutschland schafft sich nicht ab". Welches Signal wollen Sie senden mit diesem Buch?
Wolf: Ich möchte den Leuten zeigen, dass es bei Weitem noch nicht um Deutschland so schlimm bestellt ist, wie es heißt. Das Buch kommt jetzt noch einmal als Taschenbuch im Herbst heraus mit dem Untertitel: "Wir sind besser als wir denken". Ich möchte einfach den Leuten wieder Mut machen, aufzeigen von der Geschichte her, dass es immer schon Migrationen gegeben hat, dass ja auch im 19. Jahrhundert sehr viele Menschen aus Deutschland nach Nordamerika ausgewandert sind, weil sie hier nichts mehr zu essen hatten.
Man würde das bei uns natürlich jetzt groß mit Wirtschaftsflüchtlingen bezeichnen, und das finde ich grausam. Ich möchte in dem Buch ein Gespür geben auch für die Realität der verfolgten flüchtigen Menschen. Dass natürlich auch Kriminelle drunter sind … aber Deutschland hat anscheinend keine Kriminellen, wenn ich so die Diskussion manchmal verfolge.
"Wir können uns nicht abschotten"
Main: Der Untertitel macht ja auch klar, wogegen Sie sich wenden - gegen jenen Erfolgsautor, SPD-Mitglied, einst Finanzsenator in Berlin und seine These, Deutschland schaffe sich ab, demografisch und weil es einer Islamisierung nichts entgegensetze. Thilo Sarrazin hat damit vorhandene Ängste an- und ausgesprochen. Was haben Sie gegen diese Form von Ehrlichkeit?
Wolf: Ich habe nichts dagegen, dass man sagt, es ist schwierig. Aber man kann ein Problem nicht lösen, bevor es da ist. Es kam nun 2015 sehr überraschend, es kam der große Ansturm, auch weil die Leute ja heute überall wissen, wie es bei uns geht und in welcher Not sie selber sitzen.
Nun, ich habe mich nicht detailliert mit dem Buch von Thilo Sarrazin auseinandergesetzt in meinem Buch, weil ich das nicht für angemessen hielt. Das haben auch schon viele andere getan, gerade was seine biologistischen Thesen angeht, aber ich glaube einfach: Wir können uns nicht abschotten. Das geht nicht, das ist nicht die Zukunft. Wir sind nun einmal global eingebettet in das Schicksal unserer Welt, unserer heutigen Menschheit und können nicht so tun, als ob wir hier in einer Wagenburg uns abschließen könnten, ja, keiner mehr rein, dann passiert nichts. Es sind natürlich auch so und so viele schwierigere Typen reingekommen. Es war ein solcher Ansturm 2015, dass man heute im Rückblick natürlich leicht sagen kann, was man alles hätte besser machen können, aber das war einfach nicht möglich.
"Muslime müssen lernen, tolerant zu sein"
Main: Ich möchte noch einmal kurz bei Sarrazin bleiben. Von dem erscheint Ende August ein neues Buch: "Feindliche Übernahme. Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht". Sind Sie Thilo Sarrazin schon einmal begegnet, was würden Sie ihm sagen wollen?
Wolf: Nein, ja das kann ich schwer voraussagen, was ich ihm sagen würde. Das hängt vom Gespräch ab, von der Diskussion. Ich mache mir da nie große Vorüberlegungen. Ich möchte ja auch niemanden belehren, sondern ich möchte diskutieren.
Wir brauchen den Diskurs in unserer Gesellschaft, und es ist auch sehr gut, wenn der Diskurs über den Islam wirklich in aller Offenheit geführt wird. Die Muslime müssen klar akzeptieren, wenn sie zu uns kommen, müssen sie das Grundgesetz bejahen. Sie müssen sich integrieren. Sie müssen lernen, tolerant zu sein, auch die Gepflogenheiten unserer Gesellschaft anzunehmen.
Wenn ich nach Arabien gehe, Saudi-Arabien, darf ich ja als Christ nicht einmal eine Heilige Schrift mit in das Land nehmen. Dann sitze ich entweder im Gefängnis oder ich sitze morgen schon wieder außer Landes. Bei China spricht man sehr deutlich immer wieder von der Verletzung der Menschenrechte, in Saudi-Arabien überhaupt nicht. Aber wir brauchen von dort das Öl - und die kaufen von uns die Waffen. Das sind doch auch Dinge, die nicht harmonisch sind, die nicht übereinstimmen. Aber die Auseinandersetzung mit dem Islam wird sicher eine längere Zeit in Anspruch nehmen.
Der Islam besteht ja aus verschiedensten Richtungen. Außerdem sind bei Weitem nicht alle Islamisten, wie immer wieder getan wird. Ich habe guten Kontakt zu den Schiiten im Iran. Ich war zweimal dort und werde vermutlich nächstes Jahr wieder dort hinfahren, die kommen auch zu uns. Das sind hochgelehrte Leute. Die haben in ihrer Bibliothek zum Beispiel die ganzen Mystiker unseres Mittelalters auf Farsi übersetzt. Die kennen unsere Mystiker zum Teil besser, als wir sie kennen.
"Europa muss muslimisch werden"?
Main: Allerdings: Deren theologisch dominiertes Staatswesen ruft zur Vernichtung eines anderen Staates auf, das muss man auch dazu sagen.
Wolf: Ganz klar, die streiten ja auch untereinander. Es ist ja nicht so, als ob es einen einheitlichen Islam gäbe, der uns bedrängt. Allerdings muss eines gesagt werden, dass seit den 70er-Jahren die Weltislamkonferenz sich immer wieder Europa als Zentrum der Islamisierung auf das Programm gesetzt hat. Europa muss muslimisch werden, nicht Islamismus in dem Sinn, aber echt muslimisch werden. Mich hat immer gewundert, dass es nie realisiert wurde. Erst jetzt kommen solche Fragen hoch.
Wir müssen auch sehen: Der Islam ist nicht eine Religion im Sinne von Gotthold Ephraim Lessing, der gemeint hat, man könne einfach drei Religionen nebeneinandersetzen, Christentum, Judentum und Islam. Der Islam ist ein Glaube, der den ganzen Menschen erfasst, auch das ganze Staatswesen.
"Christentum und Islam erfassen den ganzen Menschen"
Main: Das heißt, Sie, der Sie ein ganzes Leben im interreligiösen Dialog verbracht hat, würden schon dafür plädieren, das ernst zu nehmen, diesen Anspruch des Islams?
Wolf: Ja, absolut, und wenn ich den ernst nehme, dann kann ich mich mit den Menschen auseinandersetzen. Aber das Wichtigere dabei erscheint mir als erster Schritt, dass wir lernen müssen, miteinander an der Basis zu leben. Ich habe viele Rückmeldungen von ehrenamtlichen Helfern, die inzwischen Freunde unter den Muslimen haben. Die sagen: "Das geht wunderbar, die respektieren uns, wir machen das miteinander". Die wissen: Wir haben unseren Glauben, sie haben ihren Glauben. Ich möchte nämlich immer gerne unterscheiden zwischen Religion und Glaube.
Religion ist eine Weltanschauung. Da kann ich abtaxieren wie zwischen den verschiedenen Philosophien, ob Platon, ob Kant oder Wittgenstein oder sonst etwas. Aber Christentum ist mehr. Das erfasst den ganzen Menschen, ähnlich wie beim Islam, nur dass bei uns die Trennung des Weltlichen und Sakralen doch vorhanden ist. Das hat sich ja auch im Abendland dann sehr deutlich herausgebildet, spätestens im Zeitalter der Aufklärung.
Main: Notker Wolf, Sie rufen dazu auf, keine Angst zu haben. "Schluss mit der Angst" - so heißt Ihr Buch. Wenn ich aber Ängste habe, ich bin jetzt einmal des Teufels Advokat, der Advocatus diaboli, wenn ich diese Ängste habe, dann lasse ich mir die nicht mit Zitaten von Psychologen und Theologen ausreden.
Wolf: Nein, brauche ich auch nicht, aber ich möchte aber auch wissen, wo die Ängste herkommen. Das heißt, ich muss mich zunächst mit den Ängsten konfrontieren und mich auch informieren. Das ist ein bisschen mühsam, und da muss ich ein bisschen was tun. Ich muss den anderen fragen, was er glaubt und muss sehen, was ich selber glaube.
"Ängste gibt es immer"
Main: Entschuldigung, aber sehen Sie nicht die Gefahr, dass derjenige, der wütend und ängstlich ist, noch ängstlicher und noch wütender wird, wenn ihm Politiker und Kirchenleute ihre Angst und Wut wegbefehlen wollen?
Wolf: Ja, ich meine, das ist eine psychologische Angelegenheit. Ängste gibt es immer, auf allen Sektoren, also Angst vor der Nacht, vor dem Absturz eines Flugzeugs oder in den Autos. Ich könnte nur mehr mit Ängsten leben. Wir haben ein Problem in unserer Zeit, wir haben die Gleichzeitigkeit der Information. Wir haben aber nicht die seelische Kraft oder viele nicht, um alles zu verarbeiten. Das ist ein echtes Problem. Wenn ich Islamismus mit Islam gleichsetze, dann muss ich das eben auch einmal im Diskurs den Leuten klarmachen, dass das so nicht der Fall ist und so nicht stimmt.
Main: Noch eine Frage, auch im Namen jener Hörer, die Ihnen womöglich nicht zustimmen, frage ich mit allem Respekt, kommt Ihnen nie der Verdacht, dass Sie in einem Kloster in Rom oder jetzt in St. Ottilien, im intakten Bayern, das nicht mitbekommen, was in bestimmten Stadtteilen von Berlin, Duisburg oder Bremerhaven los ist?
Wolf: Auch bei uns fließt die Kommunikation wie bei allen anderen. Bei uns wird Fernsehen geschaut, ich lese jeden Tag drei verschiedene Zeitungen. Also, ich denke schon, dass wir informiert sind.
"Die Anstrengung des Begriffs"
Main: Ich zitiere aus Ihrem Buch, Notker Wolf: "Die Angst vor dem Verlust der Kontrolle über das, was unsere Gesellschaft ausmacht, die Angst, von der Einwanderungswelle überrollt zu werden, wird immer stärker und ist eine der größten Bedrohungen für unser Zusammenleben, eben weil wir zu Blöcken werden, emotional und auf individueller Ebene, politisch und auf kollektiver oder Gruppenebene." Jetzt die Frage an Sie, wie ist diese Angst, dieses Blockdenken, entstanden?
Wolf: Es ist immer bequem, sich auf eine Seite zu schlagen, Schwarz-Weiß-Denken zu produzieren. Das ist einfacher, da kann ich mit Parolen vorgehen, und das passt einfach nicht zu der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist komplex und damit muss ich mich nun einmal auseinandersetzen. Gerade die heutige Wirklichkeit, die politische, die gesellschaftliche, die wirtschaftliche, das sind so verschiedene Facetten, dass ich wirklich mich anstrengen muss. Ich kann natürlich alles reduzieren auf ein paar Schlagworte, aber das Ur-Erbe unseres Abendlandes eigentlich stammt schon von der Philosophie her von Sokrates, alles zu hinterfragen, ob es wirklich so ist und was genau damit gemeint ist, aber das verlangt, wie man dann in der Philosophie gesagt hat, die Anstrengung des Begriffs. Da muss ich einfach diskutieren und kann nicht sagen, das ist mir alles wurscht.
"Populismus vereinfacht in einer brutalen Weise"
Main: Mir fällt ja auf, dass Sie diese Fragen ganz, ganz einfach stellen. Sie erzählen auch in diesem Buch viel von sich selbst, alles ganz schlicht und einfach gehalten, nie hochtrabend, keine Fremdwörter und auch nicht diese Buzz-Wörter, die viele Leute ausgrenzen und die so beliebt sind im Politmediensprech. Sie wollen von normalen Menschen verstanden werden, sagen aber gleichzeitig, es geht um Komplexität. Sind Sie aber doch so etwas wie ein Populist?
Wolf: Nein.
Main: Nein, aber Sie wollen populär sein?
Wolf: Ja, ich möchte beim Volk sein, ich möchte hören, was das Volk denkt. Und ich bin sehr viel bei Gesprächen beteiligt, auch dass ich viele Rückmeldungen auch von Ehrenamtlichen habe und bekomme. Das ist oft ganz anders, die positiven Seiten, als was ich in den Medien lese. Natürlich ist das Positive nicht interessant, das müssen wir auch mal wissen. Wir dürfen aber auch nicht auf die Medien schimpfen, denn die Leute wollen Skandale hören.
Main: Aber was spricht aus Ihrer Sicht gegen Populismus, wenn Sie auch jemand sind, der dem Volk auf das Maul schaut?
Wolf: Populismus vereinfacht in einer brutalen Weise. Wenn ich jetzt nur an den Ausdruck "christliches Abendland" denke. Ich benutze diesen Ausdruck sehr ungerne, weil ich weiß, wie viel Unheil das Christentum im Abendland oder auch das sogenannte christliche Abendland politisch über unsere Welt gebracht hat. Die beiden Weltkriege wurden doch im Abendland angezettelt. So christlich ist das meines Erachtens nicht.
Zum Christentum gehört ja gerade auch die Gastfreundschaft, die Offenheit für die Notleidenden. Jesus hat nun einmal gesagt, "wer einem Armen einen Becher Wasser gibt, etwas zu essen, wer ihn kleidet, wer einen Kranken und Gefangenen besucht, der hat es mir getan, der hat mich besucht". Es ist nicht so einfach zu machen, wie es die Populisten sagen. Die wollen einfach alle Grenzen dicht machen. Dann kriege ich keine Luft mehr.
"Gott hat uns die Muslime geschickt …"
Main: Es hat jüngst eine Umfrage des renommierten Pew-Instituts aus Washington gegeben zu der Frage, wie christlich Westeuropa noch ist. Eines von vielen Ergebnissen: Je kirchennäher die Befragten, desto skeptischer waren sie mit Blick auf islamische Zuwanderung. Müssen Sie nicht befürchten, dass sich Kirchenleitende oder auch Sie, Notker Wolf, dass Sie sich von der Kirchenbasis ablösen?
Wolf: Nein, sondern ich versuche, auch der Kirchenbasis klarzumachen, dass die Zukunft nur der Weg des Dialogs sein wird. Wir müssen lernen, miteinander zu leben. Da kommt die echte Toleranz zum Tragen, dass ich nämlich den anderen respektiere, auch wenn er andersgläubig ist, wenn er anders denkt. Ich fordere allerdings den Anderen heraus, das auch bei mir zu tun.
Nur frage ich mich, wie christlich sind unsere Landsleute noch? Ich mache keinem einen Vorwurf, aber das ist eine Beobachtung. Wenn ein Muslim hierher kommt, dann fragt er sich ja auch, wo sind die Leute bei euch am Sonntag? Und zwar - ich meine jetzt nicht nur im Gottesdienst: Was bedeutet für unsere Leute überhaupt noch der Sonntag? Das ist höchstens noch ein arbeitsfreier Tag. Aber was bedeutet Christentum wirklich?
Ganz boshaft gesprochen, denke ich manchmal: Na ja, Gott hat uns den Islam geschickt oder die Muslime, damit wir wieder bessere Christen werden, damit wir uns wieder auf uns zurückbesinnen. Ich war auch und bin auch noch mit den Buddhisten im Gespräch, sehr deutlich gerade mit dem Zen-Buddhismus. Ich war in japanischen Klöstern und habe dort mitgelebt und muss sagen, das hat mich wieder auf eigene Wurzeln zurückgeworfen. Damit wurden mir manche Werte, die ich auch nicht mehr so bedacht hatte, wieder bewusst und deutlicher, beispielsweise, dass ich auch einen Inhalt in einer Form, in einem Stil ausdrücken muss.
"Grundbotschaft des Evangeliums: Fürchtet euch nicht!"
Main: Notker Wolf, welche Therapien empfehlen Sie gegen Existenzangst und gegen Angst vor dem Scheitern? Denn diese Ängste sehen Sie, meines Erachtens, als den eigentlichen Grund dafür an, warum einige Angst haben vor Zuwanderung.
Wolf: Ich möchte sagen: Das eine, politisch und gesellschaftlich gesehen, ist der nötige Diskurs, so wie ihn auch Habermas ja immer schon verlangt hat, für unsere moderne demokratische Gesellschaft. Bei uns läuft nicht mehr so viel Diskurs. Es ist so viel Demagogisches da, es ist so viel Ideologisches da.
Auch die ganze politische Correctness - das ist alles nicht mehr im Sinne eines echten Diskurses, wo wir miteinander die Zukunft finden. Wir müssen auch mit den Leuten, die bei uns im Lande leben, die Zukunft finden.
Für mich gibt es aber noch einen sehr entscheidenden Gesichtspunkt, das ist mein christlicher Glaube, dass eben im Neuen Testament in der Bibel verschiedene Episoden bei Jesus festgehalten sind, wo er immer wieder sagt: "Habt keine Angst, ich bin bei euch!" Und das gibt mir die eigentliche Sicherheit. Er hat zum Petrus gesagt, wie der ganze See auf- und niedergegangen ist: "Komm rüber!" Und wie dann der Petrus gemerkt hat, dass die Wellen hochschlagen, hat er seinen Glauben verloren - und damit ist er eingesunken, und Jesus sagte zu ihm: "Du Kleingläubiger!" Er hat uns zugesichert: "Ich bin bei euch bis ans Ende der Tage." Darauf verlasse ich mich - und damit bin ich auch gar nicht so schlecht gefahren. Die Grundbotschaft des Evangeliums lautet: "Fürchtet euch nicht!" Das finde ich überall im Evangelium.
Main: Und das bedeutet in der Konsequenz, dass Sie allergisch reagieren auf jeden Angsthasen und jeden Angstmacher?
Wolf: Nein, ich kann es verstehen, wenn Leute Angst haben. Die Angsthaber sind nicht meine Lieblinge, aber das gehört auch zum Leben. Man darf das nicht so tragisch nehmen.
Main: Wovor hatten Sie zuletzt Angst?
Wolf: Sehr schwer zu sagen, weil ich kaum Angst habe. Ich habe am ehesten Angst, wenn ich abends ins Bett gehe, dass ich morgens nicht mehr aufwache, weil bei uns die meisten oder jedenfalls so und so viele Mitbrüder nachts im Bett gestorben sind. Da würde ich mich wahrscheinlich wundern, wo ich dann aufwache. Man muss das mit ein bisschen Selbstironie sehen, das Ganze. Mein Vater hat gesagt: "Seit einer Sterben erfunden hat, ist man seines Lebens nicht mehr sicher."
Main: Das ist schön. Sie haben auch keine Angst davor, dass der Orden, für den Sie sich ein Leben lang eingesetzt haben, dass der sterben könnte?
Wolf: Nein, da habe ich keine Angst - und zwar: Wo in einem Kloster echtes Leben, echte Gemeinschaft ist, auch eine solide Arbeit, das zieht junge Menschen an. Denn junge Menschen wollen Gemeinschaft. Sie wollen auch etwas bewirken. Sie wollen jemand sein, aber eben nicht als Singles, nicht als, wie soll ich sagen, als die großen Genies, sondern eben auch anerkannt werden in ihren Leistungen.
Main: Notker Wolf, danke für Ihre Offenheit, sowohl was private als auch was politische Fragen betrifft. Der ehemalige Abtprimas der Benediktiner, danke Ihnen, Notker Wolf, für den Besuch im Studio.
Wolf: Danke Ihnen auch, und Gottes Segen an alle Hörer.
Notker Wolf: "Schluss mit der Angst - Deutschland schafft sich nicht ab"
Herder-Verlag, 160 Seiten, 17 Euro
Herder-Verlag, 160 Seiten, 17 Euro
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.