Steuererleichterungen müssten sich auf untere und mittlere Einkommen beschränken und solide gegenfinanziert sein. Was die Unions-Experten als Mittelschicht bezeichneten, seien in Wahrheit Gutverdienende. Hier seien Enlastungen bis in die Millionen-Einkommen vorgesehen, kritisierte Walter-Borjans. Zudem verließen sich die Politiker von CDU und CSU auf Mehreinnahmen durch die gute Konjunktur. Zur Finanzierung von Steuererleichterungen schlug er stattdessen einen höheren Spitzensteuersatz und die Bekämpfung der Steuerumgehung vor.
Die derzeitigen höheren Steuereinnahmen durch die gut laufende Wirtschaft müssten für die Infrastruktur eingesetzt werden. Man brauche diese Mittel für Straßen und Schulen, denn - so der SPD-Mann - "mit einer maroden Infrastruktur können wir auch keinen Staat machen".
Das Interview in voller Länge:
Mario Dobovisek: Die Bürger entlasten will die Union, vielmehr ihr Wirtschaftsflügel mit einer Steuerreform, anders ausgedrückt: mit Steuergeschenken in Zeiten voller Kassen. Und die Steuereinnahmen, sie entwickeln sich prächtig. Von einer Entlastung von gut 30 Milliarden Euro bis 2020 ist die Rede in drei Stufen, wir haben seit Anfang der Woche darüber berichtet. Mit einer höheren Werbungskostenpauschale etwa, mit einer flacheren Steuerkurve, mit dem Spitzensteuersatz erst ab 60.000 Euro Jahreseinkommen und höheren Kindergelt- und Kinderfreibeträgen. Ein Rundumschlag also, den uns Carsten Linnemann von der CDU gestern früh hier im Deutschlandfunk erläutert hat:
O-Ton Carsten Linnemann: Die Stimmung ist doch so im Lande, dass die Menschen sehr wohl ein gutes Gefühl dafür haben und sagen, denen da ganz oben geht es gut, denjenigen, die staatliche Leistung beziehen, denen geht es auch gut, aber die Mitte der Gesellschaft schrumpft, weil seit Jahren der Grundfreibetrag zu Recht steigt, der Spitzensteuersatz greift weiterhin immer bei derselben Summe, und das führt dazu, dass die Mittelschicht überproportional belastet wird. Und seit Jahren haben wir daran nichts geändert und das müssen wir tun.
Dobovisek: Die Mittelschicht werde überproportional belastet, sagt Carsten Linnemann. Fragen wir den Sozialdemokraten Norbert Walter-Borjans, Finanzminister in Nordrhein-Westfalen, guten Morgen, Herr Walter-Borjans!
Norbert Walter-Borjans: Guten Morgen, Herr Dobovisek!
"Diese Entlastung geht bis in die Millionen-Einkommen"
Dobovisek: Wird die Mittelschicht überproportional belastet?
Walter-Borjans: Auch ich kann mir vorstellen, dass man im unteren und mittleren Bereich entlasten kann. Nur, was Herr Linnemann die Mittelschicht nennt, wo der Spitzensteuersatz anfängt, das sind 106.000 Euro für zusammen veranlagte, also für eine Familie oder ein Paar. Und es gibt über 90 Prozent der Steuerzahler, die weniger haben. Das ist nicht die Mitte, sondern da geht es um Gutverdienende. Und was Herr Linnemann auch nicht sagt, ist: Diese Entlastung, wie sie die CDU-Mittelstandsvereinigung vorschlägt, geht bis in die Millionen-Einkommen. Das heißt, wenn wir wirklich über eine finanzierbare Entlastung der Kleinen und Mittleren reden, dann sollten wir es auch auf die begrenzen, auf die sich alle beziehen, nämlich genau auf diese kleinen und mittleren Einkommen.
Dobovisek: Aber genau das sei falsch, sagt CDU-Mittelständler Carsten Linnemann. Der Steuerzahlerbund hat das nachgerechnet, demnach gibt es die größte Entlastung nach dem vorgeschlagenen Modell für Alleinerziehende und Familien mit Kindern.
Walter-Borjans: Ja, ich bin nicht gegen die Entlastung. Aber was verschwiegen wird, ist, dass die Grenzwerte so verschoben werden, dass am Ende eben nicht nur diese Gruppe, die da benannt wird, profitiert, sondern dass ganz stillschweigend bis in die höchsten Einkommensklassen die Entlastung durchgezogen wird. Und wir müssen uns ja mal überlegen, wenn die Mehreinnahmen, die wir im Moment haben, die kommen ja nicht aus erhöhten Steuern, sondern die kommen, weil wir Rekordgewinne der Unternehmen haben, weil wir eine Rekordbeschäftigung haben, weil wir gute Einkommen haben. Das würde ja im Umkehrschluss bedeuten, wenn wir das jetzt nicht wirklich mal nutzen, um Straßen zu sanieren, um Schulen zu sanieren, um für Sicherheit etwas zu tun, dann würde das ja bedeuten, wenn es jetzt mal wieder schlechter läuft, dann müsste man nach diesem Rezept, was da vorgetragen wird, die Steuern ja wieder erhöhen. Das ist nun wirklich keine gute Idee. Man muss es anders gegenfinanzieren.
Dobovisek: Auch der Bundesfinanzminister sieht bei der Entlastung der Normalverdiener, des Mittelstands Handlungsbedarf. Was ist denn für Sie, Herr Walter-Borjans, der Mittelstand?
Walter-Borjans: Also, erstens kann ich mir vorstellen, dass man selbst bis in die Größenordnungen, die da benannt werden - sie sind ein bisschen sehr hoch angesetzt - aber dass man Entlastungen wirklich schafft, und zwar - wir diskutieren über dieses Thema noch. Aber wenn wir mal über Einkommen reden unterhalten von, sagen wir mal, 80.000, 90.000 Euro für Verheiratete, das sind dann 45.000 ungefähr für einen Einzelnen, der alleine mit seinem Einkommen klarkommen muss, dann reden wir nicht über kleine Einkommen. Wir können in diesem Bereich entlasten, das glaube ich auch. Nur, wir müssen sagen: Das geht nicht gleichzeitig, wenn wir die konjunkturell guten Mittel einsetzen wollen für Straßen, für Sicherheit, für all diese wichtigen Dinge, die die Bevölkerung ja auch für wichtig hält. Ich sehe die Gegenfinanzierung an einer anderen Stelle. Dann muss nämlich auch diese CDU, dann muss auch dieser Bundesfinanzminister noch klarer sagen, dass wir etwas tun gegen die großen Einkommen, die sich nicht beteiligen, weil sie Steuern hinterziehen, oder die Konzerne, die durch Tricks und Konstruktionen sich an der Steuer vorbeimogeln. Wenn wir in dem Bereich wirklich klarere Kante zeigen, dann haben wir beschränkt auf die Einkommensgruppe, die ich eben genannt habe, auch Mittel zu einer Entlastung, von der ich sagen würde: Die kann mindestens so stark sein wie die, die die CDU jetzt vorgeschlagen hat.
"Nordrhein-Westfalen macht da ein deutliches Stück mehr als die anderen"
Dobovisek: Da sind Sie ja ziemlich fleißig am Werk, Herr Walter-Borjans in Nordrhein-Westfalen. Wir erinnern uns an diverse Steuer-CDs. Wünschen Sie sich das auch für andere Finanzminister?
Walter-Borjans: Wir arbeiten da ja schon zusammen. Ich glaube schon, dass Nordrhein-Westfalen da ein deutliches Stück mehr macht als die anderen. Aber insgesamt von der Grundhaltung haben wir ja eine gleiche Position, die anderen haben sich im Übrigen ja auch immer beteiligt, wenn Nordrhein-Westfalen tätig geworden ist. Nur, es geht darum, dass wir auch die nationalen Möglichkeiten nutzen, beispielsweise das Verschieben von Gewinnen in Niedrigsteuerländer zu bremsen. Und insofern, da schließt sich auch der Kreis. Diese Bekämpfung von Steuerumgehung im Hunderte-Milliarden-Bereich, diese Bekämpfung ist nicht einfach nur so ein Hobby, sondern die ist dringend notwendig, wenn man ernsthaft die Kleinen entlasten will und auch die Mitte entlasten will, sich aber nicht gleichzeitig die Möglichkeit nehmen will, dass man all das macht, was wir vom Staat auch erwarten. Und mit einer maroden Infrastruktur, mit Schulen, wie sie teilweise aussehen, mit zu wenig Lehrern oder zu wenig Polizisten, da können wir auch keinen Staat machen. Und das kostet am Ende. Und man kann den Leuten nicht alles gleichzeitig versprechen.
Dobovisek: Also die Reichen schröpfen und die Mitte aus Ihrer Sicht, also die Normalverdiener entlasten.
Walter-Borjans: Schröpfen will ich gar nicht sagen. Nur, wir reden ja über Grenzsteuern immer, das heißt, immer über die Steuer, die man für den nächsten Euro, den man noch verdient, bezahlen muss. Und dieser berühmte Spitzensteuer- oder Reichensteuersatz, der über 250.000 Euro für einen Alleinverdiener erst beginnt mit 45 Prozent, der bezieht sich ja nicht auf dessen ganzes Einkommen, sondern nur auf das, was er darüber hinaus noch mehr kriegt, selbst der bezahlt deutlich unter 40 Prozent an Steuern. Und wenn man an der Stelle mal sagen, diese Größenordnungen im weiten, großen Hunderttausenderbereich oder Millionenbereich, die können vielleicht auch 45 Prozent ihres Einkommens an Steuern bezahlen, dann ist das kein Schröpfen, sondern dann ist das eine gerechte Beteiligung an dem, was wir vom Staat erwarten und was auch gerade die, die hohe Einkommen und Vermögen haben, erwarten, um ihr Vermögen erzielen und halten zu können.
Dobovisek: Also, 30 Milliarden Euro bis 2020, das sieht zumindest das Unionsmodell vor, und Sie sagen, das können wir uns schlichtweg nicht leisten?
Walter-Borjans: Nein, 30 Milliarden - wir reden ja hier über vier Jahre, das sind ja, ich sage jetzt mal, gerade mal siebeneinhalb pro Jahr, das ist nun wirklich kein Klacks. Aber man sollte auch nicht die Zahlen einfach … Wir können auch bis 2030 aufaddieren, da können wir auf größere Zahlen. Also, wir reden hier über eine Größenordnung, wenn die irgendwo in diesem Bereich von siebeneinhalb Milliarden liegt und wir eine Gegenfinanzierung schaffen, die dadurch entsteht, nicht weil gerade die Konjunktur gut ist – die nutzen wir mal bitte dafür, dass wir wirklich auch reparieren und ausbauen –, sondern die dadurch entsteht, dass wir das große Steuerverschieben bremsen und dass wir das, was dadurch an Masse zur Verfügung steht, dann wirklich auf die Mitte und auf die Kleineren begrenzen, dann sind wir glaube ich auf dem richtigen Weg. Dafür kann man auch eine Einigung finden.
"Man muss eine seriöse Gegenfinanzierung finden"
Dobovisek: Also, für Steuergeschenke, wenn ich Sie richtig verstehe, reicht es nicht. Aber für Rentengeschenke? Beispielsweise Mütterrente, die teils aus Steuermitteln finanziert werden muss?
Walter-Borjans: Nein, ich habe ja nicht gesagt … Also, erst mal Steuergeschenke, es geht ja nicht darum, dass, der Staat ist jemand anderes als wir selber und er schenkt uns was oder wir geben ihm was. Wir sind eine Gemeinschaft. Sondern ich sage noch mal: Die Besteuerung kann in dem Bereich gerade der Unteren korrigiert werden, und dann muss man es darauf beschränken und man muss eine seriöse Gegenfinanzierung finden, die nicht gerade dadurch entsteht, dass die Konjunktur gut läuft, weil man dann ja wieder erhöhen müsste, wenn es schlecht läuft. Und das ist nun wirklich das schlechteste Rezept.
Dobovisek: Es würde aber auch bedeuten, dass zum Beispiel Horst Seehofer und Ihr Parteifreund Sigmar Gabriel, die ja gerade mit einer umfassenden Rentenreform liebäugeln, dass das auch nicht funktionieren würde. Denn was dort berechnet wird, klingt auch ziemlich hoch, 130 Milliarden Euro würde das nämlich aus Steuermitteln kosten. Geht also nicht?
Walter-Borjans: Nein, ich sage immer noch mal: Erstens, wie finanzieren wir das? Können wir das finanzieren zu dem Bedarf, den wir für Bildung, für Infrastruktur, für Sicherheit auch noch haben? Und vor allen Dingen können wir dann neben der Frage der Alterssicherung … Und da gibt es nun wirklich auch Einkommensbezieher, von denen wir wissen, was für ein Problem die bekommen, wenn sie ins Alter kommen. Dass an dieser Stelle was gemacht werden muss, ist überhaupt keine Frage. Aber deswegen darf ich nicht gleichzeitig sagen, ich mache jetzt alle Fässer auf und überall, wo ich jetzt gerade merke, wir haben nächstes Jahr Wahl, da verspreche ich mal was. So ein Gespür haben die Menschen mittlerweile auch, dass so ein Füllhorn am Ende sich für sie nicht auszahlt, sondern dass es empfindliche Kürzungen und Mehrbelastungen an anderer Stelle dann …
Dobovisek: Ein Wahlkampfsong also, bei dem Sie nicht mitsingen wollen, Herr Walter-Borjans?
Walter-Borjans: Ja, ich meine, Wahlkampf - wenn man gute Arbeit über die gesamte Legislaturperiode als Wahlkampf bezeichnet, beteilige ich mich daran vom Tag der Wahl an. Nur, ich möchte nicht, dass wir praktisch mit Bildern agieren, bei denen die Menschen sagen, das kann doch niemals möglich sein! Und dieses Gespür haben wir. Ich erinnere nur mal daran, dass nicht nur Steuererhöhungen bei der letzten Wahl von den Menschen kritisch betrachtet worden sind, sondern dass eine Partei, die immer mit Steuersenkungen durch die Gegend läuft, aus dem Bundestag rausgewählt worden ist.
Dobovisek: Nordrhein-Westfalens Finanzminister Norbert Walter-Borjans von der SPD bei uns im Deutschlandfunk-Interview. Ich danke Ihnen!
Walter-Borjans: Ja, gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.