Das neue Schuljahr beginnt mit einem "angepassten Normalbetrieb", wie die meisten Bundesländer es nennen. Das heißt volle Klassen ohne wesentliche Abstände, meist eine Maskenpflicht auf den Gängen, nicht aber im Unterricht - außer in Nordrhein-Westfalen. Dort und in Schleswig-Holstein, Berlin und Brandenburg kehren die Schülerinnen und Schüler in dieser Woche aus den Sommerferien zurück, in Mecklenburg-Vorpommern hat die Schule bereits begonnen. Schon am Ende der ersten Woche mussten dort allerdings zwei Schulen wegen bestätigter Infektionen mit dem Coronavirus geschlossen werden.
Solche Schulschließungen dürften nur das allerletzte Mittel sein, betonte die Ministerin für Bildung und Schule in Nordrhein-Westfalen, Yvonne Gebauer, im Interview mit dem Deutschlandfunk. Der Präsenzunterricht an Schulen bleibe für Schülerinnen und Schüler "das Wichtigste und Beste, was wir an Unterrichtsform anbieten können", so die FDP-Politikerin. Deshalb habe das Bundesland in der Corona-Pandemie bisher auch wann immer es möglich war entsprechende Lockerungen vollzogen - etwa indem es zwei Wochen vor Ferienbeginn noch mal alle Grundschulkinder täglich in die Schulen zurückgeholt habe.
Für den Fall, dass Präsenzunterricht aufgrund des Infektionsgeschehens an einer Schule nicht möglich ist, hat die NRW-Landesregierung vor einer Woche eine Handreichung zum Lernen auf Distanz für Lehrerinnen und Lehrer veröffentlich. Kritik, diese sei zu spät gekommen, wies Gebauer zurück. Die Lehrer seien gut vorbereitet. "Jetzt wollen wir den Schulstart erst mal abwarten", sagte die FDP-Politikerin.
Alle in NRW zum Schulstart beschlossenen Maßnahmen - auch die Maskenpflicht im Unterricht an weiterführenden Schulen - gälten zunächst für zwei Wochen bis zum 31. August. Dann werde Bilanz gezogen.
Das Interview in voller Länge:
Mario Dobovisek: Kaum ging das Schuljahr in Mecklenburg-Vorpommern also los, mussten wegen Ansteckungen gleich zwei Schulen wieder komplett geschlossen werden. Was lernen Sie daraus für den Schulstart in Nordrhein-Westfalen diese Woche?
Gebauer: Ich glaube, wir haben schon in der Vergangenheit daraus gelernt, und ich habe ja immer wieder gesagt, dass Schulschließungen wirklich das allerletzte Mittel nur sein dürfen. Wir haben ja hier bei uns in Nordrhein-Westfalen jetzt auch vereinbart mit dem Gesundheitsministerium, dass wenn es einen Corona-Fall an einer Schule gibt, großflächig getestet wird, dass wir aber auch und damit so schnell als möglich wissen, wer kann schnell wieder zurück in die Schule und wer muss daheimbleiben. Wir haben aber auch das Prinzip der Rückverfolgbarkeit, das heißt, die Lehrerinnen und Lehrer müssen bei uns dokumentieren, wer wann wo mit wem gesessen hat im Rahmen eines Sitzplanes, der vier Wochen aufbewahrt werden muss. Sie müssen dokumentieren, wer anwesend ist, damit wir dann schnellstmöglich schauen können, wie die Infektionsketten sind und wo wir sie unterbrechen können, damit wirklich Schulschließungen das letzte Mittel sind.
"Solange es Corona gibt, wird es auch Fälle in Schulen geben"
Dobovisek: Fakt ist aber auch, dass in einer der beiden betroffenen Schulen eine Lehrkraft infiziert war, zwei weitere haben sich offenbar bei ihr angesteckt, und alle drei hatten innerhalb nur weniger Tage Kontakt zu deutlich über 200 Schülerinnen und Schülern. Andere rechnen vor, dass schon ein Fachlehrer alleine innerhalb von nur drei Tagen über 400 Schülerkontakte haben könnte. Da muss mein kein Virologe sein, um zu verstehen, dass das zu viel und damit ein erhebliches Risiko ist. Wie wollen Sie das eingrenzen?
Gebauer: Na ja, also so lange es Corona bei uns in der Gesellschaft gibt, wird es natürlich auch weiterhin Fälle in Schulen geben. Wir haben bei uns in Nordrhein-Westfalen die Maskenpflicht jetzt ab kommenden Mittwoch, wenn das Schuljahr beginnt. Das heißt, wir haben die Maskenpflicht im Schulgebäude, wir haben sie auf dem Schulgelände, und wir haben sie für die weiterführenden Schulen dann auch im Unterricht, um hier bei dem hohen Infektionsgeschehen, was wir hier in Nordrhein-Westfalen haben, dann auch sicherzustellen, dass sie die größtmögliche Sicherheit, gesundheitliche Sicherheit für unsere Schülerinnen und Schüler, aber auch für unsere Lehrerinnen und Lehrer hier mit an den Tag legen.
Maskenpflicht wegen "besorgniserregenden Zahlen" in NRW
Dobovisek: Darum gab es ja eine größere Diskussion in ganz Deutschland. Warum geht Nordrhein-Westfalen einen anderen Weg, was die Maskenpflicht ab der fünften Klasse angeht?
Gebauer: Weil wir zum Beispiel ein anderes Infektionsgeschehen haben bei uns in Nordrhein-Westfalen als Mecklenburg-Vorpommern. Wir hatten in der vergangenen Woche beziehungsweise in der Woche zuvor anhand der Zahlen knapp 1.000 Infektionsfälle für ganz Deutschland, und die Hälfte davon entfielen auf Nordrhein-Westfalen. Das sind besorgniserregende Zahlen, die wir natürlich in den Blick genommen haben und gesagt haben, wir müssen jetzt hier schauen, dass wir größtmögliche Sicherheit in Bezug auf die Gesundheit unserer Lehrerinnen und Lehrer und Schülerinnen und Schüler sicherstellen. Wir haben diese Maßnahme nun auch befristet erstmal bis zum 31.8. Das sind bei uns gut zwei Wochen. In den zwei Wochen werden wir uns, A, das Infektionsgeschehen anschauen und natürlich, B, auch Gespräche führen mit den Pädagoginnen und Pädagogen, aber auch mit den Schülerinnen und Schülern. Wir wissen, dass das keine einfache Situation ist, aber hier ist die Gesundheit oder steht die Gesundheit auf dem Spiel, und deswegen haben wir uns für diesen Schritt, der jetzt erst mal befristet ist, in diesen schwierigen Zeiten entschieden.
Dobovisek: Aber die Kinder der Klassen 1 bis 4 wollen Sie nicht schützen? Keine Abstände, kein Mund-Nasen-Schutz.
Gebauer: Die Kinder der Klassen 1 bis 4, das haben ja nun mehrere Studien, zahlreiche Studien belegt, dass gerade im Bereich von null bis zehn das Infektionsgeschehen gegen null läuft. Das sieht bei den weiterführenden Schulen anders aus, da gibt es noch keine aussagekräftigen Studien. Deswegen haben wir gesagt, bei den Kindern von null bis zehn, auch aufgrund der Erfahrung, die wir gemacht haben in den letzten beiden Wochen vor den Sommerferien, wo auch alle Kinder bei uns in Nordrhein-Westfalen in den Grundschulen wieder zurückgekommen sind, haben wir gesagt, braucht es das im Unterricht nicht, allerdings auch auf den Fluren, im Gebäude und auch auf den Pausenhöfen.
Lüften in Klassenräumen
Dobovisek: Wissenschaftler haben 363 Klassenzimmer in Nordrhein-Westfalen untersucht, berichtet der "Spiegel". Ihr Ergebnis: Schon nach einer Unterrichtsstunde mit geschlossenen Fenstern war fast die Hälfte davon so voll von CO2 und letztlich potenziell auch von möglichen Covid-Aerosolen, dass sie nach den geltenden Arbeitsstättenrichtlinien als hygienisch inakzeptabel eingestuft seien. Ein Klassenzimmer nach den Regeln der Kunst zu lüften sei fast unmöglich, sagt auch ein Experte des Umweltbundesamtes. Das heißt doch, Frau Gebauer, dass Sie im Prinzip die Hälfte der Schulen dichtmachen müssten.
Gebauer: Nein, das heißt es nicht. Also wir haben sicherlich einige Klassenzimmer, in denen das sehr schwierig sein wird. Deswegen haben wir in unserem Konzept auch ganz deutlich zu verstehen gegeben, wenn Klassenzimmer nicht ausreichend belüftet werden können, dann dürfen sie als Unterrichtsraum auch nicht zur Verfügung stehen.
Dobovisek: Aber was ist denn dann die Alternative?
Gebauer: Die Alternative ist natürlich schon, zu schauen, dass wir dann andere Räume dafür an den Schulen benutzen müssen, was den Unterricht anbelangt. Aber es kann nicht die Alternative sein, wie es immer wieder gefordert wird, was eine einfache Forderung ist, nach dem Raum, den man dann in den Kommunen anmieten soll. Ich darf Ihnen das Beispiel für Köln nennen: Wir haben über 300 Schulen. Wenn Sie dann anfangen, für jede Schule noch zusätzliche Räume anzumieten, dann möchte ich sehen, wie das organisatorisch vor Ort passiert, und wenn Sie das mit den Pädagoginnen und Pädagogen besprechen, dann sagen die auch, das ist organisatorisch überhaupt nicht zu stemmen.
"Alles versuchen, um Präsenzunterricht aufrechtzuerhalten"
Dobovisek: Ja, das ist das Organisatorische, aber Sie haben ja gerade auf den Gesundheitsschutz unserer Kinder in den Vordergrund gestellt. Und wenn Experten sagen, die Hälfte der untersuchten Klassenräume sei hygienisch inakzeptabel, dann müssen Sie eine Alternative finden, und zwar wahrscheinlich auch außerhalb der Schulen, weil die Schulen sind so groß oder so klein wie sie sind.
Gebauer: Also mir ist die Studie jetzt nicht bekannt. Ich nehme das aber gleichwohl zur Kenntnis, dass das der Fall sein soll. Wir haben ganz deutlich gesagt, dass hier entsprechend das Thema Lüften natürlich jede Stunde mehrfach vollzogen werden muss. Wir haben auch zu verstehen gegeben, dass natürlich in solchen Tagen, wie jetzt bei der großen Hitze, das Tragen einer Maske nicht durchgehend vollzogen werden muss, sondern dass es da natürlich Freiräume für die Kinder geben muss. Das haben wir auch in unserem Konzept ganz deutlich zum Ausdruck gebracht, werden das aber vor dem Schulstart noch mal tun. Gleichwohl bleibt – das muss man sagen – der Präsenzunterricht für die Schülerinnen und Schüler – auch das haben Studien belegt – das Wichtigste und das Beste, was wir an Unterrichtform anbieten können. Deswegen sollten wir alles versuchen – und das tun ja auch alle anderen Bundesländer –, hier den Präsenzunterricht so weit als möglich aufrechtzuerhalten. Kann er nicht stattfinden, dann findet Unterricht auf Distanz statt. Und in diesem Zusammenhang haben wir in Nordrhein-Westfalen eine Handreichung jetzt an die Schulen gegeben rechtzeitig zum Schulstart, wie dann dieser Unterricht auf Distanz analog oder digital, je nach Voraussetzung, stattfinden kann. Aber ich sage ganz deutlich, zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen aus den anderen 15 Bundesländern, dass Präsenzunterricht die beste Form des Unterrichtens ist für die Schülerinnen und Schüler, die beste Form des Lernens.
Plan B: Lernen auf Distanz
Dobovisek: Aber trotzdem brauchen wir offensichtlich diesen Plan B, weil wir ja sehen, wie schnell es gehen kann, allein an den beiden Schulen in Mecklenburg-Vorpommern. Das Konzept, das Sie angesprochen haben, das haben Sie vor genau einer Woche veröffentlicht, und viele Lehrerinnen und viele Schulleiter sagen, das kam zu spät, darauf konnten wir uns nicht vorbereiten und erst recht nicht auf diesen sogenannten Plan B, auf das Lernen auf Distanz. Warum haben Sie die Sommerferien dafür nicht genutzt, zum Beispiel die Lehrerinnen und Lehrer darauf vorzubereiten auf diesen Plan B, der möglicherweise ziemlich schnell gezogen werden muss?
Gebauer: Na ja, ich glaube schon, dass die Lehrerinnen und Lehrer gut darauf vorbereitet sind, weil sie natürlich auch vor den Sommerferien gezeigt haben, wie es funktionieren kann.
Dobovisek: Ja, andere aber ganz offensichtlich auch nicht. Es war ja nicht überall gleichermaßen durchdrungen.
Gebauer: Nein, genau, deshalb, weil es nicht überall gleichermaßen durchdrungen gewesen ist, haben wir gesagt, wir sind das einzige Bundesland, was jetzt eine Handreichung zum Lernen auf Distanz zum Schulstart jetzt den Lehrerinnen und Lehrern zur Verfügung stellt. Dort sind Praxisbeispiele ganz konkreter Art, wie das ausschaut, was man bevorzugt berücksichtigen sollte, welche Klassenjahrgänge, wie man Unterricht auf Distanz gestaltet. Über viele, viele Seiten haben wir uns mit Pädagoginnen und Pädagogen, mit den Schulleitungen, mit unserem Institut für Qualitätssicherung an Schulen in den Sommerferien damit auseinandergesetzt, und ich glaube schon, dass wir hier wegweisend etwas auf den Weg gebracht haben, was unseren Lehrerinnen und Lehrern bei dem Unterricht auf Distanz hilft. Jetzt wollen wir ja diesen Schulstart erstmal abwarten. Also alle Welt spricht davon, dass es nicht funktioniert. Wir haben heute den 10. August, wir starten am 12., wir haben, was wir von unserer Seite aus tun konnten, dafür getan und versuchen, hier die größtmögliche Sicherheit herzustellen mit allen Maßnahmen, auch in Bezug auf die Rückverfolgbarkeit, in Bezug auf die Masken, die ja auch vom Deutschen Lehrerverband gefordert worden sind. Da ist von Herrn Meidinger ja auch geäußert worden, dass wir in Nordrhein-Westfalen hier den richtigen Weg gehen. Also von daher schauen wir uns das jetzt erst einmal bis zum 31.8. an und werden dann eine Bilanz ziehen, wie das nach dem 31.8. gerade in Bezug auf das Thema Masken im Unterricht weitergeht.
"Informationen kamen mitunter zu spät"
Dobovisek: Herr Meidinger, das möchte ich nur hinzufügen, ist der Chef des Lehrerverbandes. Ich erinnere mich, um auch noch mal auf die Informationen und den Fluss dieser und das Krisenmanagement einzugehen, ich erinnere mich daran, das Informationsdurcheinander Ihres Ministeriums vor drei Monaten, Frau Gebauer, so haben es damals Ihre Schulleiter jedenfalls genannt: Erst kommt eine Anordnung zur Öffnung der Schulen, und einen halben Tag später wird sie wieder zurückgenommen. Oder erst richten sich alle Schulen mühsam auf den Unterricht in Kleingruppen ein, und plötzlich sollen zwei Wochen vor Ferienbeginn wieder alle Schüler gleichzeitig in den Unterricht, auch hier nur wenige Tage Vorlauf. Können Sie verstehen, dass Schulleiter, Lehrer, Eltern, auch Schüler nur noch wenig Vertrauen in Ihr Krisenmanagement haben und das des Landes?
Gebauer: Na ja, man muss es schon differenziert darstellen. So wie Sie das getan haben, stimmt es nicht. Das ist nicht zurückgenommen worden, es ist genau so nachher praktiziert worden, wie ich es in meiner Schulmail oder der Staatssekretär in der Schulmail an die Schulen geschrieben hat. Also es ist nicht sehr verändert worden, das ist eine.
Dobovisek: So kommt es jedenfalls bei den Protagonisten in den Schulen an.
Gebauer: Das mag schon sein, aber man muss es schon richtigstellen, dass es nicht so gewesen ist. Jetzt ist Nordrhein-Westfalen den Weg gegangen, dass wir gesagt haben, wir fahren auf Sicht, das heißt, immer dann, wenn Lockerungen möglich waren in Bezug auf das Infektionsgeschehen, dann haben wir diese in Nordrhein-Westfalen vollzogen. Das finde ich auch richtig, weil wir auch zusammen mit allen anderen meiner Kolleginnen und Kollegen immer gesagt haben, dass Präsenzunterricht die beste Form des Lernens ist, und wann immer das möglich war, sind wir diesen Schritt gegangen. Deswegen haben wir uns auch dazu entschieden, vor den Sommerferien noch mal die Schülerinnen und Schüler an den Grundschulen vollständig in den Unterricht zurückzuholen. Das kann ich Ihnen sagen, diese Resonanz von den Schülerinnen und Schülern, aber auch von den Eltern, die war durchweg positiv, weil alle sich gefreut haben, entsprechend noch mal soweit als möglich Normalbetrieb in den Schulen zu erleben. Deswegen war dieser Schritt richtig. Ja, Informationen kamen mitunter kurzfristig, das war aber auch der Situation geschuldet. Wenn Sie überlegen, die Bundeskanzlerin hat alle zwei Wochen zusammen mit den 16 Ministerpräsidentinnen und -präsidenten getagt, dort sind Entscheidungen getroffen worden. Das war Mittwoch, sie haben Donnerstag darüber entsprechend hier für Nordrhein-Westfalen beraten und freitags dann informiert. Da blieb nicht viel Spielraum. Wir mussten dann schnell handeln und immer das umsetzen, was dort gefordert war. Und, wie gesagt, wann immer es möglich war, Lockerungen für unsere Schülerinnen und Schüler zu vollziehen in Bezug auf weiteren Präsenzunterricht, haben wir das getan, weil wir der Meinung sind, dass Präsenzunterricht die beste Form des Lernens ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.