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NRW-Schulministerin zum Turbo-Abi
"Schule von den Kindern aus denken"

Nordrhein-Westfalens Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) will weg vom alten Strukturstreit um G8 oder G9. Es sei wichtig, Schule von den Kindern und Jugendlichen aus zu denken. Deshalb biete sich eine flexible Länge der Schulzeit an, je nach individuellem Lernfortschritt, sagte sie im DLF. Außerdem warnte sie: Der bevorstehende Wahltermin in Nordrhein-Westfalen dürfe die Debatte nicht bestimmen.

    Sylvia Löhrmann (Die Grünen), Bildungsministerin in Nordrhein-Westfalen.
    Sylvia Löhrmann (Die Grünen), Bildungsministerin in Nordrhein-Westfalen. (imago / IPON)
    Michael Böddeker: Über den Streit um G8 oder G9 haben wir hier in "Campus und Karriere" schon oft berichtet. Ein kontroverses Thema, das ganz besonders viele Eltern von Schulkindern beschäftigt. G8, das sogenannte Turbo-Abi, führt zu vielen Problemen, sagen viele Eltern, und wünschen sich wieder die Rückkehr zum Abitur innerhalb von neun Jahren – so wie es früher mal war.
    Und es gibt Bewegung. Niedersachsen ist letztes Jahr zum G9 zurückgekehrt. In Bayern denkt man zumindest wieder über G9 nach. Und in manchen anderen Bundesländern gibt es beide Formen nebeneinander.
    In Nordrhein-Westfalen haben sich vor allem Elterninitiativen für G9 eingesetzt und Unterschriften gesammelt. Ministerpräsidentin Hanelore Kraft hat daraufhin schon eingeräumt, dass es bei der Verdichtung des Lernstoffs auf acht Jahre seit der Einführung von G8 im Jahr 2005 Probleme gegeben hat.
    NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann will nach den Herbstferien am Runden Tisch mit Eltern- und Lehrervertretern darüber sprechen. Und sie macht jetzt schon einen Vorschlag, die Kernaussage: "G8/G9 war gestern – individuelle Lernzeit ist morgen". Ich habe sie gefragt, wie das konkret aussehen könnte.
    Vorbilder in anderen europäischen Ländern
    Sylvia Löhrmann: Ich möchte einmal sagen, dass mir daran liegt, dass wir Schule vom Kind und vom Jugendlichen aus denken und uns nicht von den Strukturen leiten lassen. Und wir haben sehr gute Erfahrungen mit einer flexiblen Eingangsphase in der Grundschule. Da können nämlich die Kinder ein bis drei Jahre drin lernen und danach gehen sie dann in die dritte Klasse. Einige bleiben ein Jahr drin, die gut und fit sind, und andere können drei Jahre drin bleiben und gehen dann in die dritte Klasse, ohne dass das als Sitzenbleiben gewertet wird.
    Solche Strukturen, solche Veränderungen brauchen wir, glaube ich, auch in der Sekundarstufe eins und in der Sekundarstufe zwei, und da gibt es ja in anderen Ländern - in dem Fall europäischen Ländern - auch Vorbilder. In Finnland kann man die Oberstufe in zwei bis vier Jahren machen. Und ich glaube, mit solchen Ansätzen, wenn wir das den Schulen eröffnen, dann kommen wir aus diesem alten Strukturstreit, ist denn jetzt G8 oder G9 besser als gymnasialer Bildungsgang, heraus.
    Böddeker: Wie könnte das denn dann innerhalb der Schule organisiert werden? Wie würde das aussehen? Würden dann die Klassenverbände schon etwas früher aufgetrennt zu Gunsten von Leistungskursen und Grundkursen wie sonst später in der Oberstufe?
    Löhrmann: Das Konzept Leistungs- und Grundkurse beziehungsweise Grundkurse und Erweiterungskurse gibt es ja in den integrativen Schulformen schon. Aber es gibt Schulen, die haben auch jetzt bei uns Ergänzungsstunden und nutzen die zur zusätzlichen individuellen Förderung, die ja bei uns im Schulgesetz steht. Und wir haben Schulen, die mit sogenannten Drehtür-Modellen nicht extra Klassen bilden, die aber Jugendlichen, Schülerinnen und Schülern, zusätzliche Angebote bieten, und dann überspringen die zum Beispiel die elf und gehen direkt in die Qualifikationsphase in der Oberstufe. Das machen Gesamtschulen, weil auch Gesamtschulen ein Interesse haben, leistungsstarke Schülerinnen und Schüler in ihrem System zu haben.
    Und in den Gymnasien gibt es ja den Wunsch, nicht einen klassischen G8-Bildungsgang nur zu haben, sondern auch da Phasen haben zu können, wo Jugendliche mehr Zeit bekommen. Das ist ja das, was Bayern auch im Moment überlegt, wie man das machen könnte. Vor diesem Hintergrund, glaube ich, wäre es sinnvoll, dass jetzt nicht alle nur sagen, hin oder zurück, Rolle rückwärts, was auch schwierig ist, sondern sich diesen grundsätzlich anderen Ansatz, nicht von den Strukturen auszugehen, sondern von den Kindern und Jugendlich, zu widmen, statt nur strukturell da ranzugehen.
    Böddeker: Das heißt, der Weg bis zum Abitur könnte acht Jahre dauern, neun Jahre, aber vielleicht auch zehn Jahre?
    Löhrmann: Ja. Für einige, die sitzengeblieben sind, hat er ja auch zehn Jahre gedauert. Das ist ja auch im Grunde, wenn man so will, eine Situation, die in Deutschland ja auch letztlich akzeptiert ist oder stattfindet. Im Grunde hätte man ein weiteres Spektrum genau an Schulzeit zwischen, wenn man so will, sogar sieben oder aber, wie Sie gesagt haben, zehn oder elf Jahren, je nach individuellem Lernfortschritt.
    Wir haben ja auch hochbegabte Kinder, die heute zum Teil mehrfach Klassen überspringen. Und anlässlich dieses Ansatzes, dass Kinder unterschiedlich sind und unterschiedlich lernen, verstehe ich diesen Reformimpuls.
    Böddeker: Sie haben das Stichwort Sitzenbleiben gerade schon genannt. Wie ist das denn, wenn dann jemand bis zum Abitur tatsächlich länger braucht? Könnte demjenigen das dann nicht später in der Karriere bei Bewerbungen zum Beispiel zu dessen Ungunsten ausgelegt werden, dass er es nicht so schnell geschafft hat wie andere?
    "Flexibilisierung sollte für alle Schulformen gelten"
    Löhrmann: Ich glaube, entscheidend für junge Leute und auch für Absolventinnen und Absolventen ist das bestandene Abitur, oder ein gutes Zeugnis mit mittlerer Reife. Und die Frage, wie lange hast Du dafür gebraucht oder haben Sie dafür gebraucht, die spielt keine Rolle. Ich erinnere an ruhmreiche Beispiele von Politikern. Ich meine mich zu entsinnen, dass Herr Stoiber Einserjurist ist, aber trotzdem sitzengeblieben war in seiner Schulzeit. Ich glaube, entscheidend ist da das Ergebnis und nicht mehr die Frage, wie lange man dafür gebraucht hat.
    Ich will aber auch betonen: Ziel ist nicht, dass jetzt jeder Abitur macht, oder die Einheitsschule einzuführen, was mir jetzt vorgeworfen wird, sondern wirklich zu überlegen, wie legen wir konsequent Schule an unter Berücksichtigung des Anspruchs individueller Förderung für die Kinder und Jugendlichen.
    Böddeker: Genau der Verband Bildung und Erziehung - Sie haben es gerade schon angesprochen - hat schon kritisiert, dass das Ganze auf einer Einheitsschule von der Klasse eins bis zum Abitur hinauslaufen könnte. Wie ist das denn? Soll diese Flexibilität jetzt erst mal nur für Gymnasien gelten oder auch grundsätzlich vielleicht langfristig für andere Schulformen?
    Löhrmann: Sie sollte für alle Schulformen gelten. Die Grundschulen machen es vor und ich betone und habe ja eben auch ein Beispiel genannt, dass auch Gesamtschulen ein Interesse haben, beide Tempi, will ich das mal sagen, anbieten zu können, aber nicht strukturell mit einer Vorgabe, sondern orientiert an den Schülerinnen und Schülern, und dann kann das in unterschiedlichen Jahrgängen auch unterschiedlich sein, weil die Kinder eben unterschiedlich sind.
    "Rot-Grün hat ja dieses G8 so nicht gewollt"
    Böddeker: Ministerpräsidentin Hannelore Kraft hat kürzlich gesagt, es gab wohl Probleme bei der Verdichtung des Lernstoffs in der Sekundarstufe eins, die ja jetzt ein Jahr kürzer ist, und die Oberstufe sind nach wie vor drei Jahre. Sehen Sie es auch so? Liegt da vielleicht ein Kernproblem von G8 in der Vergangenheit?
    Löhrmann: Wir haben ja, Rot-Grün hat ja dieses G8 so nicht gewollt. Und ich habe einen wirklich intensiven Arbeitsprozess in den Jahren meiner Amtszeit gestaltet. Wir hatten eigentlich auch eine Rückmeldung, dass die Verbesserungen jetzt greifen, und trotzdem gibt es immer wieder Impulse, ob andere Bundesländer entscheiden. Das schwappt immer wieder rüber und dann gibt es immer wieder neue Diskussionen. Und ich bekomme einmal Zuschriften, sofort wieder zurück, in der Hoffnung, dann ist es sofort alles gut und alles besser in Schule, und ich bekomme aber auch Zuschriften, die sagen, bitte nicht wieder alles, wir wollen nicht wieder neue Grundveränderungen. Und um diese Schwierigkeit auch aufzubrechen, dass das eine Frontstellung ist in der Diskussion, denke ich, ist es vielleicht sinnvoll, noch mal einen Schritt zurückzugehen und von den Kindern aus denkend Schule anzulegen und das dann allen Schulen zu ermöglichen.
    Böddeker: Sie machen diesen Vorschlag ja als designierte grüne Spitzenkandidatin. Können Sie das auch als Schulministerin so vertreten, oder sind Sie in der Position erst mal gezwungen, daran weiterzuarbeiten, G8 zu verbessern?
    Löhrmann: Ich bin natürlich an die Beschlüsse des Parlamentes gebunden und ich habe ja auch selber die Verbesserungen am Runden Tisch mit erarbeitet und finde das auch richtig. Völlig klar ist: Es gibt hier keine Schnellschüsse, sondern das muss breit diskutiert werden. Das ist ein neuer Reformansatz und ich erhoffe mir, dass es eine konstruktive Debatte gibt, die aus Sicht der Kinder und Jugendlichen geführt wird und nicht der heranziehende Wahltermin in Nordrhein-Westfalen sozusagen die Debatte bestimmt. Das wäre nämlich nicht im Interesse der Schule und auch nicht im Interesse der Kinder und Jugendlichen.
    "Ich möchte die Diskussion verantwortlich gestalten"
    Böddeker: Wie geht es in der Frage denn jetzt weiter? Sie laden demnächst zum Runden Tisch ein?
    Löhrmann: Ja, der ist eingeladen. Der wird nach den Herbstferien stattfinden. Unabhängig davon diskutiert meine Partei, wie sie das im Programm formulieren will. Das tun alle anderen Parteien in Nordrhein-Westfalen im Moment auch. Und das muss man ein bisschen abtrennen, das geordnete Weiterarbeiten in meiner Rolle und meinem Amt als Ministerin und natürlich mit Blick auf den Wahltermin. Ich persönlich habe mir vorgenommen, das verantwortlich zu gestalten, und ich hoffe, dass das alle anderen auch tun.
    Böddeker: … sagt NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann, ich habe mit ihr über ihren Vorschlag gesprochen, die Länge der Schulzeit flexibler zu gestalten.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.