Moritz Küpper: Ich freue mich, Herr Stamp, dass wir sprechen können. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen.
Joachim Stamp: Guten Morgen, Herr Küpper.
Küpper: Es gibt viele Themen hier in Nordrhein-Westfalen, wo Sie stellvertretender Ministerpräsident sind. Ihre Themen: Kinder, Familie, Flüchtlinge, Integration. Zu Beginn würde ich aber gerne über Ihre Partei sprechen, die FDP. Vergangenen Sonntag Landtagswahlen in Sachsen und in Brandenburg – da hat Ihre Partei den Einzug ich die Parlamente verpasst. Ähnlich schlecht sieht es wohl auch aus für Thüringen. Braucht die FDP nach dem Comeback jetzt dann doch wieder Mitleid?
Stamp: Nein, es geht nicht um Mitleid. Wir sind natürlich enttäuscht von dem Ergebnis in Sachsen und in Brandenburg. Wir haben aber in Thüringen durchaus ganz gute Chancen, weil dort die Rahmenbedingungen auch andere sind. Die dortige rot-rot-grüne Koalition abzulösen wird wohl nur gemeinsam mit der FDP möglich sein, und deswegen haben wir dort auch ein starkes Funktionsargument. Und wir haben einen guten Spitzenkandidaten mit Herrn Kemmerich, der gerade auch für den Mittelstand und den Aufbruch, den wir in Thüringen brauchen, wichtig ist.
Küpper: Ihre Partei ist in keinem ostdeutschen Bundesland im Parlament. Ist Ihre Partei eine westdeutsche Partei?
Stamp: Wir haben traditionell Schwierigkeiten im Osten gehabt, auch schon zu früheren Zeiten. Aber wir sind keine westdeutsche Partei. Aber wir müssen sehen, dass wir, nachdem wir 2013 aus dem Bundestag ausgeschieden sind, große Strukturprobleme gehabt haben. Und gerade in ländlichen, dünn besiedelten Gebieten haben wir erhebliche Probleme, auch was den Aufbau wieder von Strukturen angeht. Und wir wissen einfach, dass der Aufbau der FDP nach diesem Ereignis von 2013 auch einen längeren Zeitraum braucht, und da wird es auch immer wieder Rückschläge geben. Aber ich bin mir sicher, dass in einer Zeit, wo die politischen Debatten so viel auch von Ängsten behaftet sind, dass es da eine Partei braucht, die auch optimistisch in die Zukunft sieht, die sich als Fortschrittspartei versteht, die zeigt, dass man Menschen Chancen eröffnet, etwas aus ihrem Leben zu machen. Keine Gute-Laune-Partei, sondern eine Partei, die konzeptionell etwas anbietet. Und das werden wir auch verstärkt, auch von der erfolgreichen Arbeit, die wir in den Ländern betreiben, zukünftig in Berlin auch stärker transportieren. Auch in meinem Bereich, in der Einwanderungspolitik und Integrationspolitik hier in Nordrhein-Westfalen, machen wir, glaube ich, gute Politik. Und die werden wir auch noch stärker nach Berlin tragen.
"Als Chancenpartei auch die Menschen überzeugen"
Küpper: Darauf will ich gleich auch noch zu sprechen kommen. Dennoch, ich bleibe noch mal kurz bei dem Wahlkalender. Jetzt die Europawahl, dann diese beiden Wahlen in Ostdeutschland und eine weitere folgt dann noch in Thüringen. Ist das sozusagen auch strukturell, vom Wahlkampfkalender her vorhersehbar gewesen, ein Tiefpunkt für die Liberalen?
Stamp: Es war klar, dass es nicht einfach wird und insofern sind wir natürlich enttäuscht. Aber wir lassen uns von Rückschlägen nicht entmutigen – ganz im Gegenteil. Sondern es ist jetzt ein Ansporn da auch zu überlegen, wo man kommunikativ Dinge verbessern muss. Und was mich vor allem sehr, sehr positiv gestimmt hat ist, dass in den Gremien, am Montag nach der Wahl, es nicht irgendwelche Schuldzuweisungen gegeben hat, sondern jeder sich überlegt hat: ‚Was kann ich für die Sache einbringen, um es besser zu machen?‘ Und dazu gehört eben auch, dass ich viel offensiver auch noch die erfolgreiche Politik von uns hier in Nordrhein-Westfalen in Berlin vermittele.
Küpper: Wenn man sich die Stimmenverteilung jetzt anguckt, wenn man sich die Wählerstimmen anguckt, dann fällt auf, dass Ihre Partei ein Problem hat, vor allem bei älteren Wählern. Woran liegt das? Liegt das daran, dass Sie in der außerparlamentarischen Zeit sich vor allem um das Thema "Digitalisierung" in sozialen Netzwerken Ihren Wahlkampf hatten? Liegt das an dem Jamaica-Aus, was Ihnen vielleicht ältere Wähler übelnehmen? Woran liegt es Ihrer Meinung nach?
Stamp: Ich denke, wir müssen bei der Modernisierungspolitik, die wir ja betreiben, wo wir eben sehr fortschrittlich an die Themen herangehen, sowohl was Digitalisierung angeht, was die Bildungspolitik angeht, dass wir hier auch die Generation 60 plus argumentativ noch besser mitnehmen müssen. Dass wir eben auch darauf sehen müssen, dass wir Menschen haben, die auch mit dem Tempo der Digitalisierung im Alltag vielleicht Probleme haben. Dass wir also hier noch ganz andere Möglichkeiten schaffen, auch was die berufliche Entwicklung angeht. Bei vielen, die lange im Arbeitsleben gewesen sind, die vielleicht auch Sorge haben um ihren Arbeitsplatz im Zusammenhang mit der Digitalisierung, dass wir hier Chancen eröffnen. Das ist ja unser Ziel, dass wir als Chancenpartei auch die Menschen überzeugen. Dass wir hier Möglichkeiten schaffen, beispielsweise mit unserem Konzept eines Midlife-BAföG, wo es dann die Möglichkeit gibt, eben auch noch mal in einer bestimmten Auszeit sich weiter zu qualifizieren. Dass wir hier neue Chancen schaffen auch für eine Generation, die nicht mehr ganz jung ist.
"Die älteren Bürgerinnen und Bürger viel besser erreichen"
Küpper: Also das Problem ältere Wähler – die Wählergruppe wird ja auch demografisch wahrscheinlich wachsen – ist erkannt bei Ihnen?
Stamp: Das ist absolut erkannt und wir werden das jetzt sehr konzentriert diskutieren, wie wir hier auch die älteren Bürgerinnen und Bürger viel besser erreichen können. Denn viele von den älteren Bürgerinnen und Bürgern erwarten hier auch eine wirklich gute argumentative Politik. Wir haben ja eine völlig polarisierte Debatte in den neuen Medien. Es wird sehr, sehr viel gegenseitig mit "hate speech" argumentiert. Beispielsweise, wenn ich mich einmal so äußere, bin ich in den sozialen Netzwerken sofort der Nazi, wenn ich mich anders äußere, bin ich der links-versiffte Gutmensch – um einfach mal so die Pole darzustellen. Und ich glaube, dass gerade in der älteren Bevölkerung es einen großen Wunsch gibt nach einer stärker reflektierten Argumentation. Und das müssen wir eben noch ganz anders herausstellen. Dass wir eben in vielen Bereichen nicht die Angstpole besetzen, sondern dass wir für vernünftige Lösungen eintreten und häufig differenzierte Positionen haben. Und ich glaube, dass es im Grunde genommen bei vielen Menschen eigentlich eine Sehnsucht nach differenzierten Positionen gibt.
Küpper: Die Frage ist nur, wie man durchdringt. Sie haben es gerade gesagt, Sie haben die Pole beschrieben. Klima und Migration sind die großen Themen und AfD und Grüne sind im Grunde genommen die Parteien, die das besetzen. Und das ist ja auch, das was Sie gerade eben dargestellt haben. Diese Woche gab es unter anderem ja auch eine Klausur Ihrer Bundestagsfraktion und die Bild Zeitung hat gefragt: "Braucht eigentlich noch jemand die FDP?" Wenn ich jetzt die Wahlergebnisse nehme, wenn ich auch Ihre Analyse gerade nehme, dann scheint diese Frage ja durchaus berechtigt zu sein.
Stamp: Nein, ganz im Gegenteil – dann habe ich mich vielleicht nicht klar genug ausgedrückt. Es ist eben in einem angstbehafteten Klima wichtig, dass es eine Partei gibt, die positiv an die Dinge herangeht und die konzeptionell sich den Dingen widmet und nicht nur mit Ängsten argumentiert, sondern eben genau diesen Ängsten entgegentritt. Ich will die Sorgen der Menschen nicht kleinreden, aber man kann Politik mit Ängsten machen – damit kann man vielleicht kurzfristig erfolgreich sein. Aber das muss doch unser Anspruch sein, dass wir den Menschen die Sorgen nehmen mit überzeugenden Konzepten, sowohl in der Klimapolitik, aber eben auch in der Migrationspolitik.
Küpper: Sie haben es gerade gesagt, Sie wollen über Themen punkten. Eines der Themen ist eben das Klima. Und man hat den Eindruck, dass Ihre Partei, dass Ihr Parteivorsitzender dieses Thema mit dieser Äußerung gegenüber Friday-for-Future-Bewegung, Klima sei für Profis, im Grunde genommen abgeräumt hat, im negativen Sinne für Ihre Partei. Hallt das immer noch nach?
Stamp: Das hat er ja nun mehrfach eingeräumt, dass er sich da missverständlich geäußert hat.
Klimaschutz mit Vernunft angehen
Küpper: Es ändert aber irgendwie auch nichts.
Stamp: Er hat es ja … nun warten wir mal ab. Es ist so, dass man sich den Themen unterschiedlich nähern kann. Eben, wie gesagt, einmal mit Ängsten. Greta Thunberg sagt: "Ich will, dass ihr Angst habt". Aber ich glaube, Angst ist ein schlechter Ratgeber, sondern das Entscheidende ist, dass wir uns dieser wirklich Menschheitsaufgabe stellen mit Innovation, mit Technik. Indem wir genau diejenigen fördern, die tatsächlich daran forschen, wie wir CO2 Ausstoß reduzieren können oder wie wir auch CO2 insgesamt auch wieder binden können. Stichwort unter anderem auch "Aufforstung von Wäldern". Und dazu gibt es innovative Konzepte, und daran arbeiten wir. Und ich glaube, das ist der richtige Weg, anstatt jetzt in Panik zu verfallen und dann möglicherweise aus der Panik heraus auch strukturell falsche Entscheidungen zu treffen.
Küpper: Dennoch, man hat irgendwie den Eindruck, auch dieses Zitat hängt Ihnen als Partei jetzt so nach, weil Christian Lindner einfach diesen herausragenden Stellenwert innerhalb Ihrer Partei hat. Jetzt sind Sie selbst stellvertretender Ministerpräsident in Deutschlands bevölkerungsreichstem Bundesland, Sie arbeiten an einem der zentralen Themen, nämlich dem Thema Integration, Migration und sind auch Vorsitzender des größten FDP-Landesverbandes. Braucht es nicht eine größere Sichtbarkeit, beispielsweise auch von Ihnen, weil in der öffentlichen Diskussion beim Stichwort FDP, da denken fast alle immer an Christian Lindner.
Stamp: Ja, es geht aber nicht darum, sich jetzt gegenseitig auf Kosten des anderen zu profilieren, sondern wir machen hier eine gute Regierungspolitik in Nordrhein-Westfalen. Und, klar werde ich mich auch mit meinem Thema, weil es eben nicht nur ein Landesthema ist, die Integrations- und Einwanderungspolitik, auch in Berlin jetzt ganz anders einmischen.
Küpper: Ist Kritik in der FDP an Christian Lindner verpönt?
Stamp: Es ist immer wichtig, dass man jede Diskussion auch kritisch und konstruktiv begleitet und wir tauschen uns aus. Aber es hat die FDP nach 2009 ins Verderben gestoßen, dass man sich öffentlich Schuldzuweisungen gegeben hat. Und wir diskutieren durchaus auch kritisch miteinander – er mit mir, ich mit ihm, auch über verschiedene Themen. Aber entscheidend ist, dass wir gemeinsam eine gute Politik voranbringen, eine optimistische Politik und dass wir uns eben gerade, wie ich das eben sagte, dieser Angstpolitik entgegenstellen und sagen: Es braucht eine Kraft in Deutschland, die wirklich den Fortschritt ermöglicht und mit innovativen Konzepten dann auch nach vorne geht.
Seehofer erledige seine Aufgaben im Bereich Rückführung nicht
Küpper: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk. Zu Gast ist Joachim Stamp, stellvertretender Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, von der FDP. Sie sind auch Minister für Flüchtlinge und Integration. Herr Stamp, wie schwer ist es, bei diesem Thema – bei diesem emotionalen Thema – mit Sacharbeit wirklich durchzudringen?
Stamp: Ich glaube, dass die Sacharbeit das Entscheidende ist. Wir haben das große Problem, dass wir mit Bundesinnenminister Seehofer jemanden haben, der es zum Prinzip gemacht hat, gerade in den Boulevardmedien zum Teil sehr steile Thesen zu vertreten, die er dann in der Praxis nicht umsetzt.
Küpper: Erschwert Bundesinnenminister Horst Seehofer Ihre Sacharbeit?
Stamp: Ja, natürlich, weil wir andere Rahmenbedingungen brauchen, und zwar in beiden Teilen der Migrationspolitik. Wir haben das Problem, dass wir nach wie vor große Probleme haben im Bereich der Rückführung, insbesondere weil zahlreiche Herkunftsländer die Rücknahme verweigern. Und da würde ich erwarten, dass die erste Priorität ist, in diese Länder zu fahren und für stabile Rückführungsabkommen zu sorgen. Wir haben gerade auch was Ersatzpapierbeschaffung angeht, hier ganz erhebliche Probleme. Und da bringt es dann eben nichts, irgendwelchen Zeitungen anzukündigen, man wolle demnächst Syrer auch nach Syrien abschieben, wenn klar ist, dass kein Gericht in Deutschland das mitmachen würde, weil die Verhältnisse in Syrien es schlichtweg nicht zulassen, weil dort Menschen von der Polizei verschleppt werden und willkürlich verhaftet, teilweise ermordet werden. Sie können mit dem Assad-Regime im Moment nicht zusammenarbeiten in diesem Themenfeld. Und insofern ist das völlig falsch, dann Erwartungen was Rückführungen angeht, zu schüren, die in der Praxis nicht möglich sind.
Aber auf der anderen Seite ist es dann eben ein Problem, dass er seine Aufgaben nicht erledigt, mit all den anderen Ländern, wo Rückführungen möglich sind, nicht die entsprechenden Abkommen zu ermöglichen. Da war Thomas de Maizière als Innenminister deutlich aktiver. Und umgekehrt haben wir aber auch die Situation, dass es viele Menschen gibt, die wir eigentlich hierbehalten sollten. Diejenigen, die hier arbeiten, die Sprache lernen, die sich nichts zuschulden kommen lassen, wo die Kinder in die Schule gehen. Da sind wir doch verrückt, wenn wir die abschieben. In meinem anderen Teil des Ministeriums, bei den Kindergärten, habe ich das Problem, dass wir nicht genügend Bauarbeiter in den Firmen vor Ort haben, die uns die Kindergärten bauen. Und deswegen sind wir in einer Situation, wo wir nicht nur hoch qualifizierte, sondern zum Teil auch einfache Arbeitskräfte brauchen. Und deswegen bin ich auch der Meinung, dass alle Arbeitsverbote an dieser Stelle abgeschafft gehören.
Küpper: Das heißt – ich verstehe Sie richtig –, es ist gar nicht mal so die AfD das Problem, die diese Debatte so emotionalisierend mitunter auch in Wahlkämpfe zieht, sondern vielmehr die fehlende Sacharbeit auch auf Bundesebene – Stichwort "Einwanderungsgesetz", dass dort nichts passiert –, die das Ganze erschwert?
Stamp: Wir arbeiten mit dem Bundesinnenministerium auf der Fachebene sehr, sehr gut zusammen. Aber wir müssen eben sehen, dass der politische Wille fehlt, wirklich eine systematische Einwanderungspolitik in Deutschland zu ermöglichen. Und dazu gehört eben, dass all diejenigen, die hier in der Gesellschaft mitziehen wollen, dann auch eine Bleibeperspektive bekommen, damit wir uns dann auch darauf konzentrieren können. Und dann auch viel systematischer uns darauf konzentrieren können, dass diejenigen, die hier eben nicht mitziehen wollen, die unsere Gesellschaft belasten, die beispielsweise kriminell werden oder als Gefährder unterwegs sind, dass wir die tatsächlich zurückführen. Ich mache das mal an einem Beispiel oder an zwei Beispielen deutlich. Ich hatte große Schwierigkeiten bei der Rückführung des Gefährders Sami A., im vergangenen Sommer.
Der Fall Sami A. - "Haben richtig und rechtsstaatlich gehandelt"
Küpper: Das war vor gut einem Jahr, genau.
Stamp: Das war vor gut einem Jahr. Wo ich vom Bund keine Unterstützung gekommen habe, obwohl Herr Seehofer zunächst gesagt hatte, er wolle das zur Chefsache machen – als es dann konkret wurde, haben wir das in Nordrhein-Westfalen allein stemmen müssen.
Küpper: Und scharfe Kritik von Gerichten hervorgerufen. Sie sahen sich auch bis hin zu Rücktrittsforderungen konfrontiert.
Stamp: Ja. Ich bin aber der Meinung, dass wir richtig gehandelt haben und dass wir auch rechtsstaatlich gehandelt haben. Und es hat sich ja auch mittlerweile geklärt, dass Sami A. in Tunesien bleibt. Auf der anderen Seite gab es den Fall des nepalesischen Mädchens Bivsi – was de facto gar nicht nepalesisch, sondern deutsch ist, weil es hier geboren ist, 15 Jahre alt war.
Küpper: In Duisburg in eine Schule ging, gut integriert war.
Stamp: So ist das. Und die dann, weil ihre Eltern damals bei der Einreise falsche Angaben gemacht haben und an der Legende noch eine Zeitlang festgehalten haben, dann mit ihren Eltern abgeschoben worden ist. So, und jetzt ist es so, weil wir aktiv eingegriffen haben, bleibt Sami A. jetzt in Tunesien und Bivsi ist wieder hier in Deutschland. Und hätten wir nicht aktiv eingegriffen, dann wäre es wahrscheinlich genau umgekehrt. Und das ist, glaube ich, etwas, was die ganz große Mehrheit bei uns in der Bevölkerung erwartet. Dass diejenigen, die sich hier gut integrieren, dass die hier dauerhaft bleiben können und dass wir auf der anderen Seite konsequent diejenigen, die sich hier nicht an die Spielregeln halten, dann auch tatsächlich abschieben.
Küpper: Die Süddeutsche Zeitung hat Sie "Gutmensch und harter Hund" genannte – das beschreibt ja, glaube ich, das, was Sie gerade auch anhand von zwei Beispielen charakterisieren wollten. Was braucht es denn, damit man diesen Ansatz weiter fortführt? Dass man damit dieses Thema ein Stück weit mehr gelöst kriegt, als man vielleicht gerade oder als gerade vielen Menschen den Eindruck haben?
Stamp: Ich glaube, wir brauchen eine Verständigung zwischen den demokratischen Parteien in Deutschland. Viele der Integrations- und Migrationsexperten sind sich auch einig, was eigentlich zu tun wäre. Wir müssen auf der einen Seite die Defizite, die wir haben bei den Rückführungen, konkret beheben. Und wir müssen auf der anderen Seite gesetzlich dafür sorgen, dass diejenigen, die auch hierbleiben sollten, weil sie sich so gut integriert haben, dann auch tatsächlich bleiben können. Und dazu sind Veränderungen notwendig. Leider ist das, was jetzt beschlossen worden ist, was Herr Seehofer dort auf den Weg gebracht hat, in vielen Bereichen nicht nur Stückwerk, in manchen Bereichen wirft es uns sogar zurück. Und ich habe jetzt den Sommer genutzt – und manchmal ist es auch eine Fleißaufgabe –, ich habe mit 70 Ausländerbehörden in Einzelgesprächen getagt und habe mir auch von den Praktikern vor Ort die Dinge angehört, wo es an beiden Seiten hapert. Wo es auf der einen Seite kritisiert wird, dass es da zu wenig Unterstützung bei den Rückführungen gibt und zum anderen, wo eben auch bemängelt worden ist, dass die bundesrechtliche Gesetzeslage es nicht ausreichend ermöglicht, diejenigen hier zu behalten, von denen auch die Praktiker vor Ort der Meinung sind, dass es gut wäre, sie hierzuhalten.
Forderung nach einem Migrationsgipfel
Küpper: Das ist die kommunale Ebene. Sie selbst sind die Landesebene. Bundesinnenminister Horst Seehofer ist logischerweise die Bundesebene. Seit Anbeginn Ihrer Amtszeit – vor gut zwei Jahren – fordern Sie ja eine Art Migrationsgipfel mit all diesen Ebenen, mit allen Beteiligten. Haben Sie sich von der Idee schon verabschiedet?
Stamp: Nein, ich habe mich von der Idee nicht verabschiedet. Da gilt auch der Satz: "Steter Tropfen höhlt den Stein". Man muss in der Politik auch sehr beharrlich sein. Ich denke aber im Moment darüber nach, dieses Vorhaben etwas anders anzugehen, dass wir jetzt nochmal mit verschiedenen Akteuren sprechen wollen, die auch an den verschiedenen Bereichen beteiligt sind, auch was das Rückführungsmanagement angeht. Aber auch nochmal mit verschiedenen Juristen, was die Frage der Bleiberechte angeht, um vielleicht einen konkreten Vorschlag schon auf den Tisch zu legen, mit dem wir dann auf die anderen zugehen, um dann auch in der Sache konkret weiterzukommen.
Küpper: Ihr Haus, Ihr Ministerium, hat eine Art Wertedialog aufgelegt – auch Teil dieser ganzen Integrationsstrategie –, um über diese Dinge zu sprechen. Wenn man diese Wertedialoge besucht, dann hat man fast den Eindruck, da geht es gar nicht so richtig um konkrete Lösungen, sondern da geht es ein Stück weit um – ja – Zuhören, um eine Art Ventil, um bei diesem sehr emotionalen Thema einfach die Menschen zum Sprechen zu bekommen.
Stamp: Ja. Aber da ist etwas, was auch wichtig ist. Es freut mich sehr, dass wir es geschafft haben, in diesen Wertedialog-Veranstaltungen einen sehr konstruktiven Diskurs auch hinzukriegen, wo auch die unterschiedlichen Teilnehmer aufeinander eingehen. Und das ist etwas, was ich in der gesamtgesellschaftlichen Debatte vermisse, dass immer nur versucht wird, maximal auf seiner eigenen Position zu beharren und nicht zu versuchen, gegenseitig auch auf die Argumente einzugehen.
Küpper: Ein Teil waren auch die Ereignisse im Rheinbad in Düsseldorf. Sie haben auch in der Nähe davon einen dieser Wertedialoge abgehalten. Da gab es jetzt über den Sommer große bundesweite Schlagzeilen, Auseinandersetzungen, das Rheinbad wurde mehrfach geschlossen. Da ging es dann auch um das Thema "Nennung der Nationalitäten". Sie haben auch angeregt, in einem Interview, dass man darüber nachdenken sollte. Nordrhein-Westfalens Innenminister, Herbert Reul von der CDU, der folgt dem jetzt. Er arbeitet an einem Polizei-Erlass, dass künftig eben die Nationalitäten dort genannt werden sollen von mutmaßlichen Tätern. Ist das ein richtiger Schritt?
Stamp: Ich bin da etwas missverstanden worden. Ich habe gesagt – und ich wollte da auf ein Problem aufmerksam machen –, dass es sehr schwierig ist, dass in den sozialen Netzwerken, wenn sie dort Berichte finden, wo kein Täter genannte wird, sofort von irgendjemandem spekuliert wird: "Das muss ja wieder ein Ausländer gewesen sein". Und dass bei der überwiegenden Zahl – wir kennen ja und wir haben ja die Statistiken alle da – natürlich die weit überwiegende Mehrheit Deutsche sind. Und dass von dort, von dieser Art und Weise, wie dort in den Kommentarspalten diskutiert wird, weiter Ressentiments geschürt werden. Ich habe aber gleichzeitig dazu gesagt: Wenn man jetzt jedes Mal den Täter nennen würde, wäre das auch ein Stück weit bizarr. Ich wollte da eine Diskussion anstoßen, dass man darüber nachdenkt, wie man so etwas auch im Netz anders moderiert. Und daraus ist jetzt gemacht worden, ich sei für eine generelle Herkunftsnennung.
"Verschwörungstheoretikern im Netz die Basis entziehen"
Küpper: Aber tragen Sie die Entscheidung Ihres Kabinettskollegen mit?
Stamp: Wir haben verabredet, dass wir über das ganze Thema in Ruhe sprechen werden. Den Erlass wird es nicht vor Ende des Jahres geben und dann werden wir genau abwägen, wie wir genau dieses Ziel erreichen, dass wir mit möglichst viel Transparenz den Verschwörungstheoretikern im Netz die Basis entziehen und wieder umgekehrt keine Ressentiments stärken. Und wichtig ist dabei, es gibt einzelne Bereiche, wo es durchaus sinnvoll ist zu wissen, wie die Täterstruktur auch von der Herkunft her ist. Wenn es beispielsweise um Taschendiebstähle geht, die von einer ganz bestimmten Gruppe, aus einer bestimmten Nationalität heraus, begangen werden. Das heißt ja nicht, dass die ganze Gruppe so tickt, sondern dass eben aus dieser Gruppe es einige gibt, die solche Straftaten begehen. Weil man sich nur so dann auch diesem Phänomen genau nähern kann. Aber es ist eben bei vielen Straftaten deutlich erheblicher, ob jemand gesundheitliche Probleme hat, aus bestimmten sozialen Milieus kommt, um diese Tatzusammenhänge entsprechend einordnen zu können. Und da muss man aufpassen, dass man über diese Nationalitätenfrage da den Fokus nicht verliert.
Küpper: Sie hören den Deutschlandfunk, das Interview der Woche. Zu Gast Joachim Stamp, stellvertretender Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen von der FDP. Auch Minister für Familie, für Kinder. Herr Stamp, in dieser Woche fiel das Urteil im so genannten Lügde-Prozess. Da ging es um hundertfachen Kindesmissbrauch. Sie haben erneut härtere Strafen für Kindesmissbrauch gefordert. Warum?
Stamp: Die Strafen, die dort jetzt verhängt worden sind gegenüber den Haupttätern...
Küpper: Zwölf und 13 Jahre inklusive Sicherungsverwahrung.
Stamp: … sind, glaube ich, sehr wichtig. Das ist ein klares Zeichen, was die Dimension auch dieses Verbrechens angeht. Und entscheidend ist vor allem – und das sage ich dann auch in der Funktion als Kinderminister, der ich ja auch bin –, dass es mir wichtig ist, dass von diesen beiden Haupttätern keine Gefahr mehr für die Kinder in Nordrhein-Westfalen ausgeht, auch aufgrund der anschließenden Sicherungsverwahrung. Aber ich habe mich daran gestoßen, dass bei dem Mittäter – das Urteil war im Juli – nur eine Bewährungsstrafe verhängt worden ist. Und ich glaube, wenn jemand sich aktiv an einer solchen Tat beteiligt ...
Küpper: Er hat per Videochat daran teilgenommen.
Stamp: Ja, er hat per Videochat daran teilgenommen, aber eben schon auch mit einer gewissen Aktivität. Und ich bin der Meinung, wer sich in dieser Art und Weise an einer solchen Tat bewiesenermaßen beteiligt, darf keine Bewährungsstrafe bekommen. Weil das auch das falsche Zeichen setzt, nach dem Motto: ‚Man kann es ja mal ausprobieren‘. Und ich glaube, wenn wir Strafverhandlungen haben, die ein Leben wirklich nachhaltig zerstören – es gibt ja viele, wo es im Suizid dann endet, oder die über viele, viele Jahre ganz massiv belastet sind –, dass es hier keine Bewährungsstrafe geben darf.
Küpper: Vielerorts wurde betont, dass das Thema zwar ernst genommen wurde, dennoch über Jahre, Jahrzehnte unterschätzt wurde – das Thema Kindesmissbrauch. Ist Lügde da wirklich eine Art Zeitenwende?
Stamp: Die Dimension hat jetzt, glaube ich, einfach dazu geführt, dass das Thema die notwendige Ernsthaftigkeit bekommt, die es verdient. Das ist, glaube ich, in vielen Bereichen einfach unterschätzt worden. Und es ist klar, es muss Schutzkonzepte geben in allen Bereichen, wo sich Kinder bewegen. Ob es die KiTa ist, in meinem Bereich, ob es Schule ist, aber auch die gesamte Jugendarbeit, wo wir Schutzkonzepte brauchen, die nicht nur auf dem Papier bestehen, sondern die dann auch wirklich verbindlich sind. Und was wir als Landesregierung als Erstes jetzt auf den Weg bringen werden, ist eine Landesfachstelle.
Küpper: Wann kommt die?
Stamp: Die wird 2020 kommen. Wir sind in Vorbereitung. Wir haben dafür Mittel im Haushalt – knapp fünf Millionen – jetzt eingestellt, muss vom Parlament noch beschlossen werden. Aber ich glaube, der Weckruf, den haben bundesweit alle verstanden.
Küpper: Herr Stamp, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Stamp: Ich danke Ihnen, Herr Küpper.